15 Sep.

Europa – Meditation # 290

Von einem schönen Schein zum nächsten.

Wahlen stehen in Europa vor der Tür. Kleine und große. Aber zwischen was ist denn da zu wählen? Die Wahlplakate trällern ihre Lockrufe wortarm, aber unerbittliche ins Land unter die Leute. Und die Kandidaten versuchen sachlich und verbindlich zu bleiben. Wir alle sind gute Schauspieler, vor allem als Politiker, Manager, Amtsträger. Um gewählt zu werden, ist es in diesen Tagen wohl angesagt, ordentlich Kreide zu fressen, denn jeder möchte natürlich ein Bild abgeben, in dem er vorteilhaft, eben wählbar erscheint.

Aber der Schein trügt.

Wir hier in Europa wissen es nur zu gut, wie sehr die Medien dabei helfen, den schönen Schein schön scheinen zu lassen. Stichwort Volksempfänger als historisches Beispiel zum Beispiel.

Doch zurück ins Heute:

Da gibt es den forschen Mann aus dem Süden Deutschlands. Groß, robuste Stimme, selbstbewusster Auftritt und dann diesen kleinen Teddybären aus dem Westen. Beide sind aufeinander angewiesen – im Moment – also lächeln sie ihr wirkliches Gesicht schön weg, damit niemand sieht, dass der eine recht wenig hält vom anderen. Die Masken sitzen wie angegossen. Und beide starren wie gebannt auf Zahlenreihen, Tabellen, Statistiken und Grafiken. Umfragen, jeden Tag. Ein launisches Instrument. Und für Interpretationen ein weites Feld. Macht diktiert die Maskerade mit Macht.

Oder Macron und Merkel. Leutselig polieren sie an ihrem Bild der rechtschaffenen Verantwortlichen. Längst wissen sie, dass in Mali – wie in Afghanistan – kein Blumenstrauß zu gewinnen ist. Würden sie aber jetzt sagen, es ist ein Fehler, wir steigen sofort aus, wäre der Schaden für die eigene Partei desaströs. Die Fehler müssen also die Vorgänger gemacht haben. Die beiden wollen mutig Schadensbegrenzung betreiben. Loyal und sachlich. Die vierte Gewalt im Staat sollte wirklich ihren Einfluss nutzen und die Chefs und Chefinnen der Regierungen damit nicht durchkommen lassen.

Aber bis in die Sprache hinein ist der andauernde Selbstbetrug nur zu offensichtlich: In der Zeitung kann man gerade in die Bezug auf Afghanistan die Überschrift lesen:

„Gescheiterte Mission“.

Scheitern verbindet der kundige Zeitgenosse sofort mit Tragik und Mission mit „großer Auftrag“ – so wird dann bereits in der Überschrift die erste Nebelkerze geworfen. Sollten nicht wenigstens die Journalisten es besser wissen? Mit solcher Sprache machen sie sich zu Kollaborateuren der Akteure.

Von wegen Tragik!

Die Rüstungsindustrien hüben wie drüben haben blendend verdient in diesen verlorenen zwanzig Jahren in Afghanistan. Saudi-Arabien wurde gleichzeitig geradezu verwöhnt mit High-Tech-Lieferungen! Und die als Rache und Strafaktion geplante Invasion lief ordentlich aus dem Ruder. Aber Irrtum und Fehlentscheidungen sind keine Begriffe, die rechtschaffene Politiker und Militärs gerne auf ihren Fahnen wehen sehen wollen. Und dass die Familien, die Tote zu beklagen haben, mit Scheitern auch nicht getröstet werden können, ist doch klar. Und Obamas großes Versprechen, Guantanamo aufzulösen, ist immer noch nicht eingelöst. Also nur Wortgetöse?

Von wegen Mission!

Die Afghanen hatten keinen Auftrag erteilt, auch die Völker in Amerika und Europa hatten keinen Auftrag erteilt. Der wurde erst einmal in kleinen Zirkeln der verantwortlichen Volksvertreter erfunden, dann als richtig befunden und forsch in die Medien posaunt. Der Präsident konnte jubelnd auf einer Rachewelle surfen. Das Publikum applaudierte beeindruckt und gerne. Und obwohl inzwischen die Medienvertreter übereingekommen sind, die 20 Jahre in Afghanistan als großen Irrtum von Anfang an zu kommentieren, wird mit einer Überschrift wie „Gescheiterte Mission“ wieder so getan, als wären der Präsident und seine Berater in Washington und die Paladine in Europa zu einem hehren Kreuzzug für die Werte des Abendlandes aufgebrochen.

Nichts davon trifft zu.

Es waren – wie bei jedem Krieg – beinharte Machtinteressen, die die Menschen antrieb; im Gefolge eine Presse, die zwar kritisch, aber dennoch zustimmend in den Chor mit einstimmte.

07 Sep.

Europa – Meditation # 289

Europäische Altlasten aus dem Walpurgissack der Kirchen.

Wie regen sich die aufgeklärten Europäer auf über hinterwäldlerische Männer, die ihre Frauen behandeln, als wären sie Waren, die sie käuflich erworben hätten. Anatolien, Afghanistan, Somalia, Herrenhuterländle, Walachai, Masuren, Bad Lands; die Liste wird lang und länger. Die Abtreibungsgegner in Georgia oder Argentinien, die Mafiosi all überall.

Wir Europäer vergessen nur allzu gerne, dass es zumeist Altlasten in der Tradition des Augustinus (354 – 430 in Hippo) sind, die da zutage treten, bzw. klammheimlich innerhalb der Familien festgezurrt sind, schon so lange:

Die Triebhaftigkeit des homo sapiens sei dämonengleich im Fleische der Frauen geparkt, wo sie zügellos toben würde, hätten die Kirchen dem nicht einen Riegel vorgeschoben: Der Mann steht für Selbstdisziplin, Stärke und kompromisslose Härte gegen diesen Pfuhl, der nur Unheil schafft. Sexualität ist seit den Tagen des Augustinus – dessen Botschaft seitdem das Abendland und auch später darüber hinaus (Brasilien, Indonesien und und und) in Atem hält – teuflisch; deshalb muss der Kampf gegen diesen dämonischen Trieb im Leib der sprechenden Primaten Tag und vor allem nachts unerbittlich geführt werden.

So begegnen nun die Europäer (die Amerikaner sind ja auch ehemalige Europäer, die ihre verkorkste und religiös verbrämte Körperfeindlichkeit mit nach Übersee nahmen – man schaue sich nur die Evangelikalen samt Trump an!) ihrem eigenen Irrweg in Gestalt der Taliban und schütteln entsetzt die Köpfe:

Wie kann man nur so gewalttätig, so frauenfeindlich, so körperverneindend sein, wie kann man nur so religiös verblendet sein!

Es ist so wohltuend für den scheinbar so aufgeklärten Europäer, mit dem angeekelten Finger auf diese Brut zu zeigen:

„Was seid ihr doch für Steinzeit-Affen, ihr sandalenschlappigen Mittelalter-Krieger, ihr!“

Der blasierte Pilatus-Gestus wabert da eilfertig und eitel durch Männerbünde, Vereine und Tresengeblubbere – Zoten ziehen zahllose Zuhörer an wie Honig die Wespen.

„Was haben wir es dagegen doch wahrlich so weit gebracht!“

Gleichzeitig sind die Europäer aber blind für das, was tagtäglich in den Medien europaweit ans Licht gezerrt werden muss: Gewalt gegen Frauen in der Familie, Missbrauch der eigenen und verwandten Kinder; und nicht zu vergessen der nicht enden wollende Missbrauch der Kinder in kirchlichen oder karitativen Institutionen – von Schule und Sportvereinen ganz zu schweigen. Zölibatäre Selbstgeiselungen inbegriffen.

Was ist da dann noch übrig von der sogenannten europäischen Aufklärungsepoche? Außer technologischem Fortschritt reichlich wenig. War es vielleicht gar keine Aufklärung? War es nur ein wortreiches Kaschieren der alten Muster zu neuen Preisen?

04 Sep.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 125

Des Meeres und des Tanzes Wellen.

Während die jungen Tänzerinnen erschöpft auf ihren Matten liegen und nicht wissen, ob sie träumen oder wirklich gerade im Rausch der Begeisterung der Zuschauer fast gemeint hatten zu fliegen, gehen die Kreter noch wie benommen vom Tanzplatz vor dem großen Tempel hinab ans Meer. Keiner will schon nach Hause. Alle fühlen sich wie verwandelt. Diese Bilder, diese Körper, diese Farben, diese Töne! So etwas haben sie alle noch nie gesehen und gehört. Keiner weiß es in Worte zu fassen. So ist es still am Ufer. Viele sitzen im immer noch warmen Sand, manche schlendern Arm in Arm am Wasser entlang. Die Blicke wandern übers Meer. In den Köpfen der meisten überschlagen sich immer noch die Bilder, die Gefühle, die Sehnsucht. Wonach? Die Stille gibt wortlos die Antworten. Jedem. Das Gleichmaß der kleinen Wellen, die in immer wieder neuen Formen sich erheben und dann wieder zerfließen, lädt die Betrachter ein zu genussvollem Betrachten und erregenden Träumen. Wie welke Blätter fallen Wutnester und Angstknäuel von ihnen ab, zerbröseln im fahl verlöschenden Licht der untergegangenen Sonne. Warme Haut findet weiche Stellen. Selbst die alten Ratsherren wandeln versonnen an den in die Ferne blickenden Bürger vorbei und das ohne alten Feindschaften hinterher zu hängen. Plötzlich ist ihr Blick frei für Zukunftspläne, für friedliche Allianzen, für Versöhnung mit Archaikos, dem Minos von Kreta. Wie das? Ein echtes Lächeln läuft ihnen über die zerfurchten Gesichter. Auch Chandaraissa, die Hohepriesterin, und ihre Freundin Europa schlendern am Meer entlang. Sie fühlen, wie dieser Tanz der jungen Frauen alle verändert hat, wie sehr die Freude, die Lebensgier von allen unverstellt Besitz ergriffen haben. Am liebsten würden sie eng umschlungen hier vorbei gehen, aber soweit sind die Kreter wohl noch nicht. So berühren sie sich beim Gehen immer wieder nur leicht an den Armen. Wohliges Gefühl durchströmt sie dabei.

Archaikos ist gleich – noch während alle anderen gar nicht aufhören wollten, beifällig zu klatschen, zu jubeln, zu jauchzen – zurück in den Palast geeilt. So hat er sich noch nie gefühlt. Die Abendluft, die er tief einatmet, beflügelt ihn. Dieser Duft, diese Kühle, diese Klarheit.

Jetzt liegt er auf seinem breiten Bett und versucht zur Ruhe zu kommen. Mit geschlossenen Augen horcht er in sich hinein, er hört Europas Stimme, sieht dazwischen immer wieder die fast fliegenden Körper der jungen Tänzerinnen. Eine wohlige Erregung wandert dabei durch seinen ganzen Leib. Europa. Sie an seiner Seite wird Kreta in ein von Lebensfreude und Frieden geprägte Insel umbilden.

Wieso ist er sich da so sicher? Die Musik und die Bilder der tanzenden Priesterinnen müssen in ihm etwas freigesetzt haben, das er vergessen hatte, dass er unterdrückt hatte. Warum nur?

Waren es vielleicht doch nicht nur die Musik, die Farben und Figuren, die ihn gerade verwandeln, war noch etwas Größeres im Spiel?