22 Aug.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 123

Musik und Tanz verzaubern sie alle.

„Meine Beine sind so müde“, flüstert Sarsa. Belursa schaut sie erschrocken an. Müde Beine? Jetzt? Gleich ist ihr großer Auftritt.

„Sarsa, das ist nur die Aufregung“, versucht Belursa ihre Freundin die Angst zu nehmen.

Von draußen hören sie die vielen Stimmen der wartenden Menge. Gleich ist es so weit, gleich. Endlich. Was hatten sie geübt und geübt. Wie oft hatte Europa mit ihnen geschimpft. Sie seien zu langsam, zu zaghaft, zu leidenschaftslos. Da kommt Chandaraissa in den kleinen Saal.

„Gleich ist es so weit! Schaut noch einmal, ob eure Schleier und Tücher ordentlich verknotet sind.“

Kichern und Tuscheln unter den jungen Tänzerinnen wie in einem Taubenschlag.

„Wenn der Gong ertönt, lauft ihr so, wie wir es geübt haben schnell auf den Vorplatz, stellt euch auf und wartet auf das Trommelzeichen, dann zeigt ihnen, was ihr könnt!“ dabei strahlt die Hohepriesterin sie aus großen Augen an. Jetzt tritt auch Europa zu ihr hin.

„Die große Göttin schenkt uns einen wolkenlosen, warmen Abend. Sellbt der Minos und auch der Rat der Alten sind gekommen. Verzaubert sie mit eurem Tanz!Alle!“

Die Tänzerinnen nehmen sich alle an die leicht zitternden Hände, ihre Herzen klopfen ihnen bis zum Hals. Dann hören sie das tiefe Dröhnen des Gongs. Kreischend heben oben auf dem Tempeldach die Möwen ab.

Die Zuschauer halten den Atem an: Aus dem Inneren des großen Tempels kommen da bunt gewandete junge Frauen gelaufen, mit Kränzen im Haar und vielfarbigen Schleiern um den Hals und die Handgelenke. Sie gruppieren sich zu sieben langen Reihen, fassen sich an den Händen, schließen die Augen. Dann der Trommelwirbel. Plötzlich geht ein Zittern durch die schlanken Leiber der Tänzerinnen. Alle heben gleichzeitig die linken Arme, drehen sich hin und her, gehen in die Knie und springen mit dem Einsetzen der Flöten gleichzeitig hoch und laufen wie Perlen auf einem seidenen Faden aufgezogen schräg durch die sieben Reihen, die sich dadurch auflösen und in neue Formen umbilden. Jetzt – durch das Laufen und schnelle Drehen – geraten die bunten Tücher, die sie um ihre schlanken Körper drapiert haben ins Wehen, lassen die Zuschauer Formen für Augenblicke erkennen, die sie erregen, heftig atmen, Münder staunen lassen. Musik, das sich steigernde Trommeln, das wehmütige Schwanken der Flötentöne, die flackernden Fackeln an den Säulen in der milden Abenddämmerung, die fast lautlosen Bewegungen der Tänzerinnen, das Wiegen der Körper, das Flattern der Tücher, das Schimmern der nackten Arme und Beine, alles Bilder und Töne, die die Zuschauer noch nie zuvor gesehen haben, vor einem unendlichen Abendhimmel, all das verzaubert sie alle, ohne dass sie es bemerken. Selbst die alten Männer schauen wie verwandelt auf die Tanzenden. So viel Schönheit schwebt da zu allen herab und durch sie hindurch. Wunderbar. Wie eine Erlösung. Wovon?

21 Aug.

Europa – Meditation # 283

Wie die Bilder unsere Einbildungen bedienen.

Kürzlich – als Trump noch als Rumpelstilzchen Präsident der USA spielte – war die Empörung groß, weil er fast pausenlos Unwahrheiten in Umlauf brachte: über seine politischen Gegner, über die treulosen Europäer, die bösen Chinesen und die guten Follower. Die Medien hatten Futter en masse.

Unsere vorgefassten Bilder in unserer Erinnerungen wurden reichlich bedient mit neuem Material. Ein Dauer-Aufreger. Und hinterher hatten wir es natürlich alle gewusst. Er habe die amerikanische Gesellschaft gespalten, er sei geradezu eine Gefahr für den Weltfrieden u.s.w…

Dann kam mit knappster Mehrheit der „neue Mann“ Biden. Da stimmte dann wieder der Ton, die Themen, die Konzepte. Und was war mit der gespaltenen Gesellschaft? Ein Angstszenario, das sich als Trugbild herausstellte? Nein. Wir hatten uns nur in unseren Bildern täglich neu beschwichtigen lassen.

Dann hieß plötzlich das neue Bild „Bergamo“. Direkt vor unserer Tür.

Jetzt war es die Angst, die unsere Bilder auf Trab brachte.

Dann waren es die Großbrände in Californien, im Mittelmeerraum.

Dann die Sturzflut an der Ahr, Swistbach und Erft

Dann Afghanistan.

Unser Weitblick will es nun immer schon gewusst haben: Es sei von Anfang an (!) falsch gewesen, dorthin unser Demokratie-Modell exportieren zu wollen und und und…wie flüchtig die Bilder doch sind!

Europa, die weitsichtige, schmunzelt: Habe ich euch nicht schon immer gesagt, bleibt auf eurem kleinen Kontinent, genießt das Klima dieser gemäßigten Zone, freut euch an eurer kulturellen und landschaftlichen Vielfalt und mäßigt eure Weltbeglückungsphantasien!

Die Menschen in Afghanistan passen nicht in unser Bilderwelt, das ist offensichtlich, aber da wir die eigenen Irrtümer nicht eingestehen wollen, basteln wir fleißig an einem üppigen Feindbild, dem gegenüber wir selbst wie nur auf Nachhaltigkeit bedachte Altruisten aussehen.

Auch für die Flutwellen haben wir plötzlich das Bild im Kopf, schon immer gegen Bodenversiegelung, Flussbegradigungen und flussnahe Bebauung gewesen zu sein. Nur habe uns eben – wie einst schon Kassandra – niemand zuhören wollen.

Zu all diesen Katastrophenbildern hält unser eigener Bildervorrat entsprechende Unterschriften parat, die wir nur wortlos abnicken. „Wir“ haben es schon immer gewusst. Schuld sind die anderen. Welche anderen eigentlich?

Und mit Irak, Syrien und Palästina (wer weiß eigentlich noch, dass wir Europäer es waren – Franzosen und Engländer – die vor gerade mal 100 Jahren willkürlich Grenzlinien festgelegt hatten, die nichts mit den angestammten Verhältnissen der dort Lebenden zu tun hatten?) Legen wir doch lieber Bilder eines militanten Glaubens darüber, das ist entlastender.

20 Aug.

YRRLANTH – Historischer Roman II – Leseprobe – Blatt 138

DER GROSSE STROM ZEIGT SICH GNÄDIG

Langsam nähert sich die Reise ihrem vorläufigen Ende, dem Gebiet der Heiden jenseits des großen Stroms.

Aber Duc Rochwyn und seine Leute trauen den Botschaften nicht, die ihnen entgegen kommende Händler missmutig preisgeben: Die Furt bei Mogantiacum sei passierbar, im Moment. Wo sie denn hin wollten, werden sie immer wieder gefragt. Doch der Duc gibt das Ziel ihrer Reise nicht preis.

Abt Ambrosius, der schweigend und wütend zugleich mit seinen Mitbrüdern zuhört, verdreht nur die Augen. Dass sein Gott ihnen aber auch so viele Prüfungen bereits vor dem Ziel auferlegen würde, hätte er sich niemals auch nur träumen lassen. Da hilft nur beten, beten, beten.

Somythall in ihrer bequemen Sänfte gibt gerade Sumil die Brust. Ruth, die neue Amme, geht neben ihr her und lässt sie nicht aus den Augen.

„Ein gutes Mädchen, ein gutes Mädchen“, flüstert sie wieder und wieder. Und die drei neuen Männer, die seit dem Halt in Argentovaria Rochwyns Schutztruppe verstärken, stehen unter strenger Aufsicht von Wytgos.

„He, Berolos, was hältst du von den dreien, können wir denen trauen?“

Berolos denkt nach. Dass die drei Männer aus der kleinen jüdischen Gemeinde von Argentovaria stammen, stört ihn überhaupt nicht. Sollen sie doch glauben, was sie wollen. Die bedingungslos Treue zu ihrem Duc, das allein ist ihm wichtig. Aber woher sollen sie wissen, was sie im Schilde führen?

Die ehemalige römische Handelsstraße ist in einem sehr schlechten Zustand: tiefe Löcher, wo einmal Pflastersteine waren. Unkraut, vollgelaufene Radspuren. Sie müssen höllisch aufpassen. Von Wegelagerern ganz zu schweigen. Da sind drei unzuverlässige Männer kein Spaß.

„Mh, keine Ahnung, Wytgos, frag mich nicht! Dass sie so schweigend vor sich hin trotten, muss ja nicht heißen, dass sie Schlimmes planen oder?“

Jonas, Isaak und Jakob spüren allzu deutlich, dass sie unter Beobachtung stehen. Was sollen sie machen? Ihr Rabbi hat sie ausgewählt, es sei Gottes Wille, sie sollen ihren Sold sparen, damit sie nach der Rückkehr ihre Familien unterstützen können. Es ist längst abgesprochen, dass sie nach Aquitanien fliehen wollen, dort sollen sie vor Verfolgung sicherer sein, heißt es.

Jetzt öffnet sich der lichte Wald zum Rhenus hin. Überall Fuhrwerke, grasende Pferde, Zelte, offene Feuer. Und im Fluss gerade mehrere Fahrzeuge, von starken Bullen gezogen, Peitschen knallen, Wagenlenker brüllen Befehle, bis fast über die großen Räder waten sie quer zur Fließrichtung der großen Stroms.

„Los, Leute, gleich hinterher, wer weiß, wie lange das Wasser noch so tief steht!“

Rochwyn ruft es seinen Leuten zu. Er hilft Somythall mit Sumil im Arm aus der Sänfte, nimmt sie zu sich aufs Pferd und reitet so vorne weg in den Fluss. Somythall summt ihr Lied, das ihr ihre Großmutter beigebracht hat in Yrrlanth. Es soll wie ein Zauberspruch den Fluss besänftigen. Rochwyns warmer Körper stärkt ihre Zuversicht: Es wird ihnen nichts geschehen, nichts. Bald ist der Saum ihres Kleides vom Wasser durchtränkt, doch ihre Beine zittern nicht, so groß ist ihr Vertrauen.

„Göttin, steh uns bei!“ betet sie dabei.

„Hab keine Angst, Somythall, der Fluss zeigt sich heute sehr gnädig. Wir schaffen es.“

Insgeheim aber ist Rochwyn doch sehr überrascht, wie stark die Strömung ist, als sie jetzt die Mitte der Furt erreichen. Tiefer sollte es nun wirklich nicht gehen, denkt er. Doch dann – mitten im Flussbett – scheint eine große Felsplatte unter ihnen – wie eine rettende Unterwasserinsel – sie höher steigen zu lassen, als wären sie schon am gegenseitigen Ufer. Doch sein Pferd gerät gefährlich ins Rutschen. Die Hufe finden keinen Halt. Es wiehert ängstlich. Rochwyn streicht ihm besänftigend über die Seite.

„Schon gut, schon gut, Worwa, schon gut. Du machst es gut, nur weiter!“

Am anderen Ufer rollen gerade die Wagen vor ihnen heil ans Ufer.

„Schau Somythall, die haben er schon geschafft, wir gleich auch“.

Somythall ist jedes Mal verblüfft, wie sehr seine Stimme ihr Kraft gibt, Ängste vertreibt, Glücksgefühle in ihr aufsteigen lässt, immer wieder. Sie nickt. Das Wasser ist sehr kalt, sehr, sehr kalt. Die tief hängenden Wolken sehen so aus, als wollten sie auch noch von oben Wasser hinzuschütten.

„Bitte nicht, bitte!“ fleht sie zu ihrer Göttin. Ruth, die mit einer Hand die ihre hält, wirkt gar nicht zuversichtlich. Wie auch? Sie hat Angst vor dem Fluss, sie sieht sich schon ertrinken. Eigentlich will sie mit ihrer Hand ihre neue Herrin stützen, aber im Augenblick ist es ganz und gar umgekehrt. Die Hand ihrer Herrin ist ihr letzter Halt in diesem mächtigen Element.

„Lass bitte nicht los, Herrin, bitte!“ fleht Ruth insgeheim.

Aber bald haben sie es geschafft. Da war zwar noch einmal eine Stelle, als sie schon dachten, es gehe aufwärts, als sie fast bis zur Hüfte im Wasser wateten, aber dann geht es wirklich zügig aufwärts: Sie haben es geschafft. Und auch ihre Brüder, Jonas, Isaak und Jakob sind nicht abgetrieben oder ertrunken. Alle schaffen es – zwar triefend nass und vor Kälte zitternd – ans andere Ufer. Das laute Lachen und die Zurufe verraten überdeutlich: alle hatten sie große Angst gehabt, keiner hatte es zeigen wollen, jetzt ist es endlich vorbei. Geschafft!

„Wytgos, such uns in der Nähe des Ufers einen günstigen Lagerplatz. Wir wollen Feuer machen, unsere Kleider trocknen. Wir ziehen morgen weiter!“

Alle hören die sonore Stimme von Duc Rochwyn, alle sind erleichtert. Er ist ein guter Mann. Ihm sich zu fügen, ist da nicht schwer. Und Somythall ist so stolz auf ihn, ihren Mann, den Mann ihrer Tochter. Sumil.