Europa – Meditation # 441
Schiffbruch: Mythologie der Vernunft als blinder Passagier mit auf dem Floss der Medusa.
Ein erbärmlicher und skandalöser Unfall aus dem Jahre 1816, der sich nun schon so lange hinzieht. Viel zu lange schon! Dabei waren die Aufklärer des 18. Jahrhunderts doch zu einem intellektuellen Wettstreit angetreten, der die Menschheit mit Hilfe der Vernunft „endlich“ aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit herausführen sollte.
Es sollte ein einziger Aufstieg ins Licht der Erkenntnis werden, zielgerichtet wie ein Vektor, der stetig nach oben weist.
Was diesen Denkern – und nicht nur denen der ersten Generation – dann aber entging, was, dass diese Vernunft nur auf einem technischen, formalen Feld zu fruchten wusste, nicht aber auf dem des Humanen selbst.
So berauschten sich die „Vernunftler“ an ihren eigenen Ergebnissen, wenn sie dabei auch nicht nur die Erde immer unbewohnbarer machten und sich selbst immer abhängiger von eben diesen Ergebnissen, sondern auch noch als neuestes Produkt dieser immer hektischer inszenierten Fluchtbewegung eine instrumentelle Vernunfts-Zeitbombe aus dem Hut zaubern, die es wirklich in sich hat: der Algorithmus und seine virtuellen Endlosschleifen, in denen sich der homo sapiens nicht nur ununterbrochen tummeln kann, sondern auch gerne vor sich selbst verloren gehen möchte.
So dient das Bild vom Floss der Medusa, das Théodore Géricault 1819 malte, nach wie vor für die verstörende Botschaft, dass der homo sapiens allzu gerne vergisst, dass er auch ein Tier ist (s. dazu auch das neueste Buch von Markus Gabriel: Der Mensch als Tier), das seinen Verstand noch gar nicht angemessen für seine gesamte species ins Spiel gebracht hat. Denn die Mythologie der Vernunft entpuppt sich längst als nichts anderes als eine Sackgasse, aus der der Mensch schleunigst wieder zurückrudern muss, wenn er doch noch Licht am Ende des Tunnels seiner unerhörten Wortgebirge zu sehen bekommen möchte.
Wenn nun in den Medien – trotz der irrsinnigen Unvernunftsmassaker in der Ukraine wie in Palästina – flugs, gewissermaßen als Ablenkunksmanöver und intellektuelles Ersatzschauspiel, ein neuer Topf auf dem „Sprachmarkt“ angeboten wird: „Das künftige Modell heißt Pentarchie“, dann fühlt sich das so an, als wäre man in Lego-Land und die kleinen Menschlein dürften mal so richtig mit den bunten Klötzchen klotzen. Anstelle von alten oder auch neuen Modellen wäre es derzeit wirklich angeratener, sich gegenseitig wach zu rütteln, um aus dem Schlaf der Vernunft in eine vernünftige Gegenwart miteinander zu starten.