Jenseits
von Eifersucht und Enttäuschung.
Lukimeeló
und Lordum stehen an ihrem Lieblingstreffpunkt in ihrer Heimatstadt
Florenz: Auf dem Platz vor der Basilika San Miniato al Monte. Hoch
über dem Arno blicken sie weit über den Dom bis hin zu den Bergen.
Es ist Vollmond. Die vielstufige Treppe, die Grabmäler des
Friedhofs, die Zypressen und Pinien liegen gelassen zu ihren Füßen.
Dazu rauschender Zikadengesang – wie ein lustvoller Dauerton aus
Düften und Glitzern.
„Sie kommt
gerade die Stufen herauf!“ flüstert Lordum.
Lukimeeló
nickt. Sie hat sie längst gesehen. Verträumt lehnt sie ihren Kopf
an seine Schulter.
„Sie hat
uns damals gerettet“, sagt Lordum mehr für sich als für sie. Aber
Lukimeeló teilt seine Auffassung ganz und gar. Damals, auf ihrer
Flucht vor der Pest, als sie die Langeweile und die Angst mit
Geschichten Erzählen bekämpften.
Sie sind
nicht nur als Überlebende zurückgekehrt. Sie waren befreit, erlöst,
als Geheimbund der Schamlosen in den brüchigen Alltag von Florenz
wieder aufgenommen worden. Aber heiterer, leichter, glücklicher. Die
Zurückgebliebenen wunderten sich. Irgendwie waren sie nicht mehr
die, die geflohen waren. Rätselhaft.
Denn die
andauernde Todesangst hatte ihr bisheriges Leben infrage gestellt.
Der Druck des Elternhauses, die Erwartungen der Nachbarn, die
Drohpredigten von den Kanzeln, all das war von ihnen nach und nach
abgefallen. Wenn sie jetzt darüber nachdenken, wird ihnen klar, dass
Klipenia, die lebensfrohe Göttin, genau zum richtigen Zeitpunkt in
ihr Leben getreten war. Sie waren nur allzu gern bereit gewesen,
diese Fesseln, ihre domestizierte innere Natur hinter sich zu lassen.
Seitdem leben sie ein unbeschwerteres Leben, ein stimmigeres. Weil ihre Gefühle endlich in ihre natürlichen Rechte wieder eingesetzt sind. Vor allem das gegenseitige Begehren.Honigwein.
Loyal und
verlässlich kümmern sie sich um ihre Kinder und die Familien, laden
ihnen nicht mehr die Lasten früherer Generationen auf. Strafen und
Ängste sind ihnen keine übereifrigen Ratgeber mehr. So hoffen sie,
dass ihre Kinder ihr Leben leichter führen werden, wenn sie jetzt
das Haus verlassen, um ihre eigene Zukunft zu gestalten.
Schweigend
stehen sie in dieser von einem endlosen Sternenhimmel überwölbten
Sommernacht eng aneinander geschmiegt da und schmunzeln.
„Alles
erfunden, alles,“ sagt Lordum.
„Und
deshalb auch veränderbar,“ ergänzt Lukimeeló.
„Neulich
erzählt mir Philomena, sie fühle sich so, als wäre sie das junge
Mädchen aus der Zeit vor der Pest – nur ohne die Angst, die damals
ihre Gefühle schikanierte“.
Beide
kichern. Auch sie erinnern sich natürlich an diese Zeiten. War das
ein Zittern, ein Fürchten, ein Schuldgefühle Pflegen. Die Eltern um
sie herum überschütteten sie mit Drohungen von Strafen im Diesseits
und im Jenseits.
„Selbst
meine Tagträume seien Sünde, wenn sie zum anderen Geschlecht
spazieren gingen“, erinnert sich Lukimeeló.
„Weißt du
noch, wie wir ängstlich hin und her geschaut haben, wenn wir uns
heimlich trafen?“
Lordum kann
nur mit dem Kopf schütteln. Wie schade aber auch! Wie glücklich
hätten sie sein können, wenn sie gedurft hätten. Aber überall
standen die erwachsenen Wächter, gingen Streife, versteckten sich
hinter Vorhängen. Und ihre Herzen klopften dann oft mehr wegen
dieser Wächter als wegen der sehnsüchtigen Blicke, die sie sich
verschämt zuwarfen. Nur die Hochzeit lieferte den Ausweg aus den
Gefühlsstürmen, alles andere hätte Höllenfeuer bedeutet.
„Und jetzt
sind wir endlich frei davon.“ Lukimeeló seufzt voller Behagen.
Seit die Zauberin sie berührte, damals im Park am Rundtempel der
Eos, sind die Ketten der Domestizierung ihrer Gefühle zerbrochen.
Wie leicht sich das jetzt anfühlt, wie beglückend!
„Immer
öfter höre ich bei Freunden oder Bekannten, wie sie über Diotíma
und Sokrates sprechen, über deren Dialoge zum Eros. Unser Plan
scheint aufzugehen“, sagt Lordum.
„Ja, ich
wundere mich auch, dass bei vielen Gesprächen im Freundeskreis diese
neuen Texte aus dem Symposion im Mittelpunkt stehen.“
„Ist es
nicht das beste Beispiel, dass nur oft genug etwas behauptet werden
muss und schon wird es als richtig geglaubt.“
„Und wenn
dann auch noch solch eine Autorität wie die weitsichtige Priesterin
aus Mantineia dahinter zu stehen scheint“, spinnt Lordum ihre
Gedanken weiter, „dann wird das Behauptete zur unangefochtenen
Wahrheit.“
Die beiden
schwelgen in ihren Erinnerungen wie in einem duftenden Garten voller
Mohnblüten, Jasmin und Minze. Der Eros kann sich endlich frei ent-
falten.
Gleichzeitig bleiben die Verlässlichkeiten innerhalb der
Familienbande weiter bestehen. Und wenn die Kinder dann groß sind,
finden sich – wie dem Geruch einer süßen Frucht folgend – für
einen endlosen Augenblick unter der Schirmherrschaft des Eros die,
die sich gut riechen können, wieder. Sexuelle Gewalt und Missbrauch
können so aus der Welt geschafft werden, ohne dass sich alte Paare
gekränkt trennen müssen. Das gewachsene Vertrauen, die gemeinsame
Lebensgeschichte und lieb gewonnene Gewohnheiten schaffen eine
Sicherheit, die solche Augenblicke gerne zu vereinnahmen weiß.
„Mir tun
die Beichtväter inzwischen richtig leid, wirklich“, sagt Lukimeeló
breit grinsend. Sie holt tief Luft, breitet weit ihre Arme aus, um
sie dann leidenschaftlich um Lordum herumzuschlingen.
„Hilfe,
Hilfe“, ruft Lordum begeistert und lacht aus Leibeskräften. „Warum
hast du Mitleid mit diesen enttäuschten Lüstlingen?“
„Genau
deshalb, weil sie enttäuscht in ihrem Beichtstuhl sitzen, und keiner
mehr dort das sechste Gebot überhaupt erwähnt – in der Tat oder
im Geiste unkeusch gewesen zu sein. Sie kommen einfach nicht mehr
auf ihre Kosten.“
Glänzend
spiegelt sich ein scheinbar schwankender Vollmond weit unter ihnen im
gemächlich dahin strömenden Arno. Lordum und Lukimeeló sind voller
Zuversicht, dass bald schon viel mehr Lebenslust sich unverkrampft
und gar nicht mehr stranguliert wird austoben können, weil kein
schlechtes Gewissen, keine Angst vor dem Höllenfeuer mehr die Seelen
der Menschen in Panik versetzen.
Denn der
Loyalität in den Familien gesellt sich nach und nach eine weise
Toleranz hinzu, die sogar mithilft, das hohe Gut selbstverständlichen
Vertrauens zu festigen, statt es mutwillig zu untergraben.
Diese und
verwandte Gedanken gehen den beiden hier oben auf dem Platz vor San
Miniato al Monte durch den Kopf. Manchmal meinen sie zu träumen.
Aber es ist wirklich eine Wirklichkeit, die da allmählich in Florenz
und in den anderen Städten, in denen der Geheimbund seine Botschaft
clandestin verbreitet, wächst und wächst. Die Sinnlichkeit wird
endlich wieder in ihre Rechte versetzt, die sexuelle Gewalt verlässt
als Verliererin die Bühne, der Missbrauch in Familien und selbst in
den Kirchen und Klosterschulen wird bald nur noch eine schlimme
Geschichte aus früherer Zeit sein.
„Komm,
gehen wir, ich habe Lust nach mehr.“
„Was ich
dich immer schon einmal fragen wollte, Lordum: Wie viele Leben hat
deiner Meinung nach ein Mensch?“ fragt Lukimeeló.
Lordum
schaut sie, als sie die vielen Stufen hinunter gehen, fragend an:
„Wie
kommst du denn gerade jetzt auf diese Frage?“
„Nein,
nein, mit einer Gegenfrage kannst du meine Frage nicht beantworten,
nein!“
Lordum denkt
nach. Lukimeeló ist gespannt. Schließlich holt Lordum tief Luft und
sagt dann nur:
„Och, das
ist doch ganz einfach: drei. Das offensichtliche, das familiäre und
das eigene, das geheime.“
Lukimeeló
ist sprachlos.
„So
ähnlich hätte ich auch geantwortet, wenn du mich gefragt hättest.“
„So
ähnlich? Wo liegen denn die Unterschiede?“
Lukimeeló
muss eigentlich gar nicht lange nachdenken, tut aber so, als wenn sie
es müsste. Bedächtig wiegt sie ihren Kopf hin und her, räuspert
sich ein paar Mal, bevor sie Lordum mit ihrer Antwort völlig
überrascht:
„Wir leben
nachts in unserer Traumwelt, tagsüber in der Alltagswelt und
dazwischen in unseren Tagträumen. Und wie geheim diese drei jeweils
sind, liegt ganz allein bei dir.“
„An dir
ist eine Philosophin verloren gegangen, wirklich!“
Dabei
klatscht er beeindruckt in seine Hände.
„Wieso
verloren gegangen, mein lieber? Ich b i n eine Philosophin, von
der Priesterin aus Mantineia, Diotíma, inspiriert.“