21 Dez

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 167

Der Traum vom günstigen Orakel in Sidon.

Dann lösen sich die Stimmen und die Figuren in nichts auf. Und aus diesem dunklen Nichts wachsen, wie von einer leichten Brise herbei geweht, helle, duftende Bilder.

Ich bin zu Hause, denkt Europa. Meine Eltern schicken mich zum Tempel, ich soll bei der großen Göttin Astarte, Baals Gemahlin, fragen, was sie mir und meinen beiden Söhnen, Sadamanthys und Parsephon, zu prophezeien haben.

Der warme Wind auf meiner Haut tut so gut. Und das leise Wellenrauschen auch. Aber der Tempel in meiner Heimatstadt Sidon steht doch hoch oben auf der Akropolis. Wie kommt das Meer dorthin? Träume ich etwa, fragt sich Europa in ihrem Traum. Und die Mädchen eben, sprachen die nicht eine ganz andere Sprache als wir in Sidon?

„Mein Vater, mein Vater“, hört sich Europa gleichzeitig flehen, obwohl sie doch weiß, dass er längst tot ist, genau wie ihre Brüder Kadmos, Phoinix und Kilix. Aber er hört sie einfach nicht. Oder stellt er sich nur taub? Und das Blut an seinen Händen, ist das von meiner Mutter, von Telephassa?

Möwen kreischen über Europa.

„Haut ab, macht nicht solchen Lärm, ich kann sonst nicht verstehen, was mir die große Göttin gerade offenbaren möchte!“ zischt sie gegen das Möwengeschrei an.

Wolken ziehen jetzt über sie hin. Ihr Gewand trocknet allmählich. Im Tempel herrscht ein Dämmerlicht, obwohl es doch noch früh am Morgen ist. Aber es riecht gut. Ruft da jemand nach ihr?

Ihre Schritte hallen zwischen den hohen Säulen hin und her. Junge Priesterinnen stehen kichernd in einer Ecke. Europa schüttelt unwirsch ihren Kopf. Keine Ehrfurcht vor der großen Göttin Astarte?

Jetzt kniet sie vor dem riesigen Abbild des Götterpaares Astarte und Baal, die eng nebeneinander sitzen, die Hände liegen auf ihren Oberschenkeln. Lächeln sie oder meine ich das nur, denkt Europa.

„Dein Vater hat zwar wegen seiner schlimmen Bluttat tief unter der Erde zu büßen, aber deine Mutter, Telephassa, bittet uns, dir und deinen Söhnen zu helfen.“

Warum redet der Gott so langsam, warum schweigt Astarte?

„Soll ich weiter die Regentschaft für meine Söhne auf Kreta führen oder…?“

„Europa, Europa, lebst du noch?“ Chaturos Stimme ganz in der Nähe.

21 Dez

Europa – Meditation # 430

Der Unwetter-Kreisel dreht sich weiter und weiter.

Zur Zeit ist er wieder mehr auf der andere Hälfte der Erdkugel unterwegs, der Unwetter-Kreisel, sorgt für Überschwemmungen und Wirbelstürme. Und die Statistiker schauen in ihren langen Tabellen nach, ob es vorher schon einmal solch heftige Ausschläge gegeben habe. Meistens ist die Antwort: nein.

Wir aber auf der nördlichen Halbkugel finden das Wetter zwar ungemütlich, weil zu nass und zu kalt und zu windig, aber so waren doch die letzten Winter alle. Jedenfalls laufen die Talsperren endlich wieder voll, berappelt sich der Grundwasserspiegel Richtung Normallage – was soll also das ganze Gejammere überhaupt?

Da zeigt sich das Kurzzeitgedächtnis des homo sapiens von seiner Schokoladenseite: Nächstes Jahr wird bestimmt alles besser. Alternative Energie wird weiter wachsen, das Brutto-Sozial-Produkt ebenfalls, der Anteil an Elektrofahrzeugen wird so richtig durch die Decke gehen (wir Europäer müssen jetzt endlich mal hier produzierte E-Autos nach vorne bringen) – also wird doch alles besser werden – oder?

Außerdem werden sicher auch noch in anderen Staaten Europas endlich Ministerien für Einsamkeit geschaffen werden (die neuesten Beschlüsse in Sachen illegaler Zuwanderung in ganz Europa werden endlich dieses Fass ohne Boden gründlich reparieren), schließlich ist das andauernde, stumme Starren auf Bildschirme ein echter Schlauch für die nach Kommunikation gierende Seele. Und das monotone Hämmern auf der Tastatur tut dem Bewegungsapparat auch nicht gut.

Wie wäre es denn da mit dem analogen Lesen eines wirklichen Buches und dem anschließenden Debattieren über das Gelesene mit Freunden, die tatsächlich einem direkt analog gegenüber sitzen?

Um nicht zu übertreiben bei dem Neustart, schlage ich ein dünnes Büchlein – nicht einmal 100 Seiten – von Peter Sloterdijk vor – mit dem dramatischen Titel: Die Reue des Prometheus. Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung.

Da werden wir nämlich ganz fest an die Hand genommen, auf Sauf- und Sextourismus samt All-inclusiv-Kreuzfahrten zu pfeifen und stattdessen – jetzt zum Beispiel: in der Tag-und Nachtgleiche mit Glühwein und herzhaftem Bissgut versorgt – mit den ebenfalls frustrierten Nachbarn auf bessere Zeiten anzustoßen. Nebenan auf der Wiese am besten. Denn da wird – ähnlich wie im Sommermärchen, dem völlig unterschätzten – ein wärmendes Wir-Gefühl bedient, das wir mehr brauchen als alles andere. Das kostet nicht viel, bringt aber so einiges an Wohlbefinden, unerwarteter Nähe, aus der dann auch Solidarität wachsen kann. Kann man üben. Auch auf der Straße. In allen großen Krisen war Helfen in großem Stil einfach angesagt. Da kam Optimismus richtig in Fahrt. Kriegen wir zusammen hin.

Wenn Mütter genervt auf dem Kinderspielplatz die Wohlerzogenheit des eigenen Kindes vergeblich vorzuführen versuchen, kann es vorkommen, dass drei oder vier seufzende, alleinerziehende junge Frauen jovial zuzuhören scheinen, wenn eine besonders kluge sagt: „Zur Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf“.

Das Witzige an diesem Satz ist allerdings, dass er – leicht abgewandelt – auch für uns, die mit dem Glühwein in der Hand und der Pokerface-Maske auf dem Weihnachtsmarkt, gilt:

„Zum Wohlfühlen braucht es eben ein ganzes Dorf – aber auf gar keinen Fall die unterkühlte Anonymität der großen Städte oder Metropolen!“

Kiez, Veddel oder so und ohne diese Blechkisten-Anmache auf und unter der Erde. Überschaubar eben, vertraute Gesichter. Das wäre echt ein qualitativer Sprung nach vorn – wer da von Verzicht reden will, hat einfach nicht verstanden, was die Uhr geschlagen hat, um den Unwetter-Kreisel wieder zu beruhigen.

Sonst werden bald schon die Bilder aus dem Ahrtal – schon vergessen? – getoppt werden von solchen in Alpentälern, von Bergrutschen verschüttet, von trocken gelegten Auenlandschaften, in denen das Vieh ersäuft, und von überlaufenden Staudämmen und noch übleren Bränden in Brandenburg.

15 Dez

Europa – Meditation # 429

Gewohnheiten walzen wie immer Utopien nieder.

Das Auto ist nicht nur in Europa, wo es erfunden wurde, der Fetisch schlechthin, es ist auch im Bewusstsein der meisten längst so etwas wie natürlich, so selbstverständlich, dass eine Debatte über den Individualverkehr natürlich gleich hysterische Brunftschreie – vor allem der Männer – freisetzt. Nachdenken wird so von vornherein verunmöglicht. Außerdem hat die Gewohnheit in Sachen Auto – Straßennetze, Lärm, Gestank, Stau, kolossale Parkhäuser, verstopfte Einbahnstraßen – die Phantasie längst in ihrem Spielraum stranguliert: geknebelt, geknechtet, gedemütigt – so liegt die Phantasie am Boden, weil Mobilität „nur noch“ so scheinbar gedacht werden kann, wie diese agile Metallkiste es zulässt.

Von der Tod bringenden Gewalt ganz zu schweigen.

Hier aber soll noch einmal anhand von zwei zu Herzen gehenden Beispielen aus Deutschland – wo Mercedes, BMW, Audi und VW die Götzen sind, die um jeden Preis angebetet werden müssen – anschaulich verdeutlicht werden, zu welchen hirnrissigen Folgen dieser Fetisch die Männer treibt:

1. Beispiel – Verkehrsunfall auf der Bundesautobahn 5 im Juli 2003

Die 21-jährige Mutter und ihre zweijährige Tochter verstarben noch an der Unfallstelle. Zeugenaussagen zufolge war unmittelbar vor dem Kontrollverlust ein dunkles Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit dicht auf das Fahrzeug der Verunglückten aufgefahren.

Umtobt von den fürchterlichen Kriegen der Gegenwart scheint der Hinweis auf die von einem Testfahrer verursachte Tötung einer Mutter und ihrer zweijährigen Tochter nicht der Rede wert.

2. Beispiel – Genauso wie der gewaltsame Tod auf der 555 erst vor einigen Tagen, als ebenfalls eine Mutter (49) mit ihrer Tochter (23) bei einem Wettrennen von zwei spätpubertierenden Bubis – Nachwuchskicker beim 1.FC-Köln – in ihrem Kleinwagen verbrannten, weil sie wohl den jungen Männern im Weg waren – auf gerader Strecke…

Vier Frauen, die heute noch leben könnten, wenn nicht…ja, wenn nicht was?

Wenn nicht die Pandora in ihrer Büchse dieses fatale Geschenk („nimm nur, es ist ein wunderbares Spielzeug, mehr nicht!“) gehabt hätte, das eben nicht nur unsere Beweglichkeit so unglaublich unterstützt, sondern auch u.a. uns ein weiteres Instrument zum Töten liefert. Die Zahl der Verkehrstoten ist zwar dramatisch zurückgegangen – vor fünfzig Jahren waren es noch 18000 – 1990 mehr als 10000 – jetzt sind es „nur“ mehr als 2000 Tote.

Dabei gibt es genügend Beispiele auf der Welt, wie man den Individualverkehr ersetzen kann durch klügere, kostengünstigere, ungefährlichere Fortbewegungsweise. Stichworte wie Cable-Cars oder Gondeln wären nur zwei, die echte Alternativen böten.

Wie viel Platz würde der homo sapiens sich schaffen, wenn der Individualverkehr aus den Städten vertrieben würde, wie viele Menschenleben würden verschont werden!

Der Wille des Menschen kann Berge versetzen – so wie Sultan Mehmed während der Belagerung von Konstantinopel 1453 eine Landstraße für 70 Schiffe bauen ließ, um die Sperrkette am Eingang zum Goldenen Horn auf dem Landwege zu umgehen – Kreisel statt Ampelkreuzungen, Fußgängerzonen statt Durchgangsverkehr sind nur kleine Beispiele für Not wendenden Veränderungen:

So ließe sich auch der gesamten Individualverkehr in den Städten mittels pausenlos hin und her pendelnden Kleinbussen ersetzen und auf den Autobahnen bereit stehende Leihfahrzeuge, die man statt eigener Metallkisten einfach nutzt. Man steigt einfach am Ende der Autobahn um und ein in ein bereitstehendes Shuttle-Gefährt. Von den denkbaren Dimensionen städtischer Seilbahnnetzen ganz zu schweigen – siehe La Paz, wo inzwischen schon mehr als 300.000 Fahrgäste täglich hin und her befördert werden.

Warum darauf warten, bis Politiker Planungsbüros einrichten für Planer, die planend daran arbeiten sollen, gegebenenfalls nach ganz neuen Plänen den öffentlichen Verkehr zu gestalten?

Jetzt will der Wille des Volkes per Entscheid die Verkehrswende starten, jetzt, nicht morgen oder demnächst oder…

Aber wo sind die entscheidungsfrohen Menschen zu solchen Veränderungen?

Sie verbarrikadieren sich hinter Gewohnheiten, Zwängen, Zweifeln. So wird der Verbrennungsmotor noch lange machtvoll dazu beitragen, die Lebensqualität von uns allen nachhaltig zu schmälern. Dumm, sehr dumm.