11 Okt

Europa – Meditation # 417

Herrschaft des Volkes? (Teil II von III)

Nun hatten die Deutschen 74 Jahre Zeit dem verordneten Demokratie-Modell Eigenleben einzuhauchen. Hüben wie drüben – und seit 1990 sogar völlig unvorbereitet wiedervereint. Und wieder keine Nationalversammlung zum Beginn!

Verständlich, dass sich die meisten zuerst – nach 1945 – lieber mit Wiederaufbau und Schweigen beschäftigten als mit Demokratie „Leben“- sollten die gewählten Vertreter doch mal zeigen, was sie so drauf haben! Alle vier Jahr können sie seitdem per Abstimmung dazu ihren Kommentar abgeben: Gut gemacht, schlecht gemacht, denen werde ich es aber zeigen…

Inzwischen aber macht sich Verdrossenheit breit.

Wie aber konnte sie sich stekum ins demokratische Gefüge einschleichen?

Nicht zuletzt durch die medial ritualisierten Abläufe der Parteienherrschaft.

Könnte ein kleines Beispiel für diese großen Institutionen (Parteien, Verbände, Lobbies) nicht auch die studentischen Verbindungen sein, die an den Universitäten und später im Karriereplan mit ihren S e i l s c h a f t e n eine unsichtbare, aber sehr effektive Rolle spielen? Auch da ist nicht die fachliche Kompetenz entscheidend, sondern den Ausschlag geben die Beziehungen der alten Herren. So werden die Söhne bequem weitergereicht. Statt Wissen und Können setzen sich Begünstigung und sogenannte informelle Freundeskreise durch. Subkutan sozusagen.

Wäre das vielleicht der Einstieg in eine Analyse dieser Verdrossenheit der Demokraten, die zwar alle vier Jahre autonom wählen dürfen, die aber gleichzeitig wissen, dass unterhalb dieser Wahlen der Zusammenhalt derer, die sich als loyale Sachwalter der Interessen ihrer Wähler brüsten, unverändert weiter besteht und leise weitergegeben wird – ganz gleich wie die Wahlen jeweils ausgehen?

Und könnte das nicht die schwer fassbare Ohnmacht des Wahlvolkes in den Blick bekommen?

Ist es nicht ein kluges Argument, dass man für die komplexen politischen Probleme eben extrem spezialisierte Fachleute brauche? Dass der Bürger eben nicht über dieses Fachwissen verfüge? Müsse er nicht geradezu dankbar sein, dass ihm dieses undankbare Geschäft von kompetenten Frauen und Männern abgenommen werde?

Die großen Volksparteien aber zerbröseln von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Der Wähler glaubt diesem Muster wohl nicht mehr. Sollte man ihm deshalb nicht besser ordentlich Angst machen, dass er bei der Stange bleibt?

10 Okt

Europa – Meditation # 416

Herrschaft des Volkes? (Teil. I von III)

Demokratie – ein Mythos, fast so alt wie der von Europa. Fast. Aber wie jeder Mythos hat er etwas Geheimnisvolles, fast Sakrales. Und so wie der Mythos von Europa auf einer Gewalttat eines Mannes an einer Frau beruht, so der von der Demokratie auf einer Lüge – oder zumindest auf einer peinlichen Ungenauigkeit, bzw. leichtfertigen Verallgemeinerung: Denn in dem Stadtstaat Athen, wo dieser Begriff auf der Taufe gehoben wurde, herrschte nun wirklich nicht das gesamte Stadtvolk, sondern lediglich die besitzenden männlichen Patrizier-Schicht. Von Frauen (Sklaven galten ja sowieso nicht als Menschen, sondern als Werkzeuge – nach Aristoteles) ganz zu schweigen.

Und so bleibt es denn auch in der Antike. Auch die italienischen Stadtstaaten der Renaissance sind in diesem Sinne alles andere als Demokratien. Stattdessen liefert ein gewisser Macchiavelli das geistige Gerüst für die Legitimität staatlicher Gewalt gegen innere wie äußere Feinde – notfalls, versteht sich.

Und in der Neuzeit?

In den sogenannten Neuengland-Staaten kommt es dann zu einem neuen Demokratie-Mythos: Er steht in der Tradition der antiken Vorbilder und stellt sich fest, dass die wohlhabenden Bürger und Adligen, die aus Europa in die „Neue Welt“ ausgewandert waren, gottgewollt und von den volljährigen Männern (Frauen und Sklaven „natürlich“ wie in der Antike ausgeschlossen) zum Wohle der Allgemeinheit agieren dürfen – auf der Basis eines Zensuswahlrechts, klar.

Und in der Französischen Revolution dient das amerikanische Modell als Vorbild und Muster, das aber bald schon wieder von einem Kaiser kassiert wurde.

Erst im nächsten Jahrhundert soll in Europa ein neuer Versuch mit dem Mythos Demokratie angeschoben werden – der Traum von der Teilhabe, Mitwirkung und zumindest indirektem Einfluss: Die Weimarer Republik. So sind auch 1933 unter den Wählern, die die NSDAP wählen, Frauen gewesen.

Dann aber – nach dem Zweiten Weltkrieg – verordnen die mächtigen Sieger den deutschen Frauen und Männern gleich in zwei Varianten ein repräsentatives Demokratie-Modell, das alles bisherige in den Schatten stellen sollte.

Eine Nationalversammlung hat es aber weder 1949 noch 1989 gegeben.

(in Teil II wird es um den Frust gehen, der mittlerweile eingekehrt ist)

06 Okt

Europa – Meditation # 415

Amerikanische Matrix – eine Erwiderung.

In einem Interview mit Moritz Baumstieger in der SZ vom Freitag, den 29. September 2023, kommentiert Karl Schlögel sein neuestes Buch „American Matrix: Besichtigung einer Epoche“ in einer Weise, die nicht unwidersprochen bleiben sollte.

Als es um das Stichwort „The american way of life“ und gleichzeitig um die Entwicklung in Russland unter Lenin und Stalin geht, versucht er die Unterschiede an einem Beispiel zu verdeutlichen:

„Fast gleichzeitig wurden in den USA der Hoover-Damm und in der Sowjetunion deer Damm am Dnjepr bei Saporischschja gebaut. …unter radikal verschiedenen Bedingungen: Ins entlegene Nevada zogen die Arbeiter wegen der hohen Arbeitslosigkeit freiwillig, die am Dnjepr folgten einer Zwangsmobilisierung von oben. Ich scheue mich fast, es so plakativ zu sagen: Auf der einen Seite gab es eine offene Gesellschaft, auf der anderen eine Diktatur.“

Unfassbar! Hier argumentiert ein Wissenschaftler im Gestus der Ausgewogenheit und kritischen Distanz und bemerkt dabei nicht, wie sehr sein Denken von der Ideologie der Marktwirtschaft längst vollständig kolonisiert ist: die hohe Arbeitslosigkeit in den USA nicht als Macht und Gewalt des Dollars gegenüber der Arbeiterschaft zu brandmarken und den Arbeitern Freiwilligkeit zu attestieren, wenn sie in ihrem Elend Minimallöhnen hinterher wandern müssen, kann nur als akademische Borniertheit eines Privilegierten verstanden werden, der die soziale Ungerechtigkeit schönzureden weiß, weil er es sich leisten kann und in ideologischen Phrasen scheinbar eine objektive Position einzunehmen meint.

Das Wirtschaftsmodell, das in Europa erfunden wurde und in den USA – dank der Weite und dem natürlichem Reichtum der gnadenlosen europäischen Eroberern und ihrer Geldgier (Gold als Mythos und Metapher), ideologisch verpackt mit einer blendenden Prädestinationslehre bei heftigsten Kollateralschäden – scheinbar gottgewollt und wie von selbst zugleich die Reichen (WASPs) immer reicher machte und nach dem Weltkrieg auch in Europa als „Brandbeschleuniger“ gerne kopiert wurde, dieses Wirtschaftsmodell als unschlagbare Erfolgsgeschichte zu verkaufen und dem östlichen Modell als Vorbild gegenüber zu stellen, kann man eigentlich angesichts der Krisen, die es nach innen und nach außen erzeugt, nur noch als sträflichst naiv oder eben zynisch borniert bezeichnen.