05 Juni

Europa – Meditation # 451


Der Turmbau im Silicium-Tal. (Teil 1)
1825 merkt Goethe zum Zeitgeist damals an: „das Veloziferische“ sei das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt…und so immer von der Hand in den Mund lebt.“ Velocitas – die Eile und Luzifer, der Lichtträger – ein schräger Neologismus, der aber auf den Punkt bringt, was das Problem des homo sapiens war und ist. Da sich das Chaos, das wir Wirklichkeit nennen, nicht in Worte fassen lässt, vereinbaren die Menschen „einfach“, dass es gar kein Chaos ist, sondern „nur“ ziemlich komplex und deshalb schwer in Worte fassbar. Nur Geduld und immer wieder neue Umschreibungen könnten es möglich machen, zutreffende Annäherungen an das, was Wirklichkeit wirklich ist, aus dem Wörterhut zu zaubern. Und es natürlich nicht Zauberei, sondern harte Arbeit zu nennen. Einer der besonders geduldigen und ausdauernden Wortkünstler ist da sicher ein gewisser Herr Kant, der seine Wortgirlanden – mit vielen Nebensätzen verziert – zu scheinbar logischen Ketten verknüpfte, die den Leser unbedingt ermüden werden, was in der Regel dazu führt, dass man erschöpft zustimmt, weil man selbst gar nicht erst zu Wort kam. Eine altbewährte Methode, die auch weniger logisch sprechende Schreihälse schon umwerfend erfolgreich praktizierten. Es muss also immer wieder das Tempo erhöht werden, um in immer kürzerer Zeit immer mehr Wörter, Wortketten und Worttsunamis unterzubringen. Maschinen – von Menschen erfunden – sind da noch effektiver, wenn man einfach alles zwischen 0 und 1 unterzubringen vermag. Und das ist möglich: der Algorithmus liefert nun die beschleunigte Beschleunigung der Wörter rund um die Uhr, pausenlos. Währenddessen kann sich der homo sapiens vom angestrengten Zuhören schlafend erholen oder zumindest meinen, dass er das tut. Denn weder kann er der Wortfülle in sogenannter Echtzeit folgen, noch auch nur Teile davon im Gedächtnis behalten, weil alles viel zu schnell vor seinen Sinnen abläuft. „Von der Hand in den Mund“ – gut, chips ja, Wissen nein. Früher – bereits in der Antike lernte man die 22000 Verse der Ilias und Odyssee auswendig, was zusätzlich angenehme Folgen für das Fassungsvermögen des Gehirns hatte: es vermochte mehr und mehr zu speichern. Wenn heutzutage ein Deutschlehrer die abwegige Aufgabe stellt, ein Gedicht – von sagen wir drei Ströphchen – auswendig zu lernen, werden nicht nur die Schülerinnen und Schüler vehement protestieren, nein, auch die Eltern werden sofort per mail eingreifen: Das sei angesichts der hohen Anforderungen einfach nicht zumutbar, außerdem müsse gerade mit dem Nachhilfelehrer für eine Bio-Klassenarbeit geübt werden! Folge: das Gehirn wird unablässig mit digitalem Trommelfeuer beschossen, die Getroffenen liegen schon bald in den Seilen – oder lagen längst schon in denselben, vom letzten Nachtprogramm oder dem game-boy-level-fight. So kann gar nichts mehr reif werden, weil ja gar nichts mehr gepflanzt wird; es werden höchstens noch Glitzer-Luftschlangen beim Versinken im Off wahrgenommen. Zu denen gesellen sich dann obendrein Schnipsel von politischen Geschehnissen in der Ukraine, Palästina, der Sahel-Zone, Mexiko und Afghanistan, die genauso schnell wie das sonstige Unterhaltungsprogramm bloß aufflimmern und wieder verschwinden – in den Ohren vielleicht noch begleitet von einem schrillen Musikprogramm, das die Kopfhörer unerbittlich ins Ohr tropfen lassen. Alles in allem ein übler Gift-Cocktail.

Der Turmbau im Silicium-Tal ist nichts weiter als ein Trugbild, in dem sich der moderne Mensch wie in einem Vixierspiegel berauscht verliert und alle Möglichkeiten einer Selbstbestimmung an Maschinen deligiert hat. Wenn er sich aber weiter vom zunehmenden Tempo der medialen Dusche berieseln lässt, entgleitet ihm nach und nach jede Teilhabe und humane Gestaltungsmöglichkeit. Dieser Turm ist eine Fata-Morgana, die nur noch in Algorithmen als Mörtel aufgebaut und gleichzeitig wieder als Datei zerbröselt wird.
Wenn Europa aus diesem „größten Unheil unserer Zeit“ entkommen will, wird es nötig sein, Wachstum und Beschleunigung durch eine neue Zauberformel zu ersetzen: Entschleunigen und kleine Flamme. Beides würde eine Wiedergeburt der eigenen körperlichen und geistigen Kräfte in Gang setzen, ein Lebensgefühl der Teilhabe an der Natur wiedererwecken und wirkliche Lebensfreude wachsen lassen. Die eigentliche Renaissance des Menschen und allen kulturellen Lebens weltweit. Mittelalter und Neuzeit würden als zwei selbstbetrügerische Irrwege abgehakt sein; der homo sapiens springt als Münchhausen von der Kugel und wandert stattdessen erstmals als friedliebendes Gemeinschaftswesen durch eine massiv zu reparierende Welt, in der Geld und Eigentum keine Rolle mehr spielen werden.

24 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 174

Das Orakel in Sidon spricht.
Europa kann es immer noch nicht fassen: Erst dieser fürchterliche Schiffbruch, die Angst um ihre Söhne, die Gastfreundschaft auf der Insel der Aphrodite und dann die Weiterreise nach Sidon – ein Katzensprung. Zusammen mit Athanama ist sie sich ganz sicher, dass die große Göttin ihre schützenden Hände über sie gehalten hat, dass sie bald schon mit einer klaren Botschaft des Orakels nach Kreta zurückkehren werden. Aber die Bilder der immer noch in Trümmern liegenden Stadt holen sie unsanft zurück in die Wirklichkeit. Unbarmherzig scheint die blendende Sonne auf zerbrochene Säulen, auf verschüttete Straßen, auf eingestürzte Tore. Schweigend bahnen sie sich einen Weg durch die einst so vertrauten Gassen. Parsephon und Sadamanthys sehen zum ersten Mal die durch das Erdbeben zerstörte Geburtsstadt ihrer Mutter. Schweigend trotten sie hinter ihr her. Ihre Blicke schweifen rastlos von Ruine zu Ruine. Dazwischen Menschen, die um ein Feuer sitzen. Stumm starren sie in die Glut. Sie fühlen sich wohl alle von allen guten Göttern verlassen. „Schaut“, wendet sich gerade Europa an die Zwillinge, „schaut, da vorne, der Tempel mit dem Orakel steht noch, als hätte es das Erdbeben gar nicht gegeben!“ Sie nicken bloß. Vielleicht ist das ja alles nur ein Albtraum, denkt Parsephon und wundert sich deshalb auch gar nicht, wenn sein Bruder neben ihm flüstert: „Vielleicht bilden wir uns das ja gerade alles nur ein. Und unsere Mutter zeigt gerade auf etwas, das es gar nicht gibt.“ Parsephon ist sprachlos. Was ist denn nun gerade der Traum: Dass sein Bruder zu ihm spricht, als habe er seinen Gedanken erraten, oder dass Sidon gar nicht zerstört ist oder…?Von weitem sehen sie, dass auf den Stufen des erhalten gebliebenen Tempels jemand steht, der sie anstarrt, als seien sie Dämonen, die gerade aus der Unterwelt kommen. Entsetzt dreht er sich um und verschwindet im Inneren des Tempels. „Euer Großvater, mein Vater Agenor, hat dieses Orakel einst bauen lassen. Es war sein ganzer Stolz“, holen sie die Worte ihrer Mutter in die Wirklichkeit zurück. „Mutter, warum ist der denn gerade so erschrocken weggelaufen? Sehen wir so furchterregend aus?“ Sadamanthys möchte seine Mutter zum Lachen bringen. Aber ihre Antwort passt gar nicht dazu: „Vielleicht hatte sich hier das Gerücht verbreitet, wir seien ertrunken. Dann müssen wir jetzt für sie Wesen aus dem Totenreich sein.“ Da treten aus dem Eingang gleich mehrere Menschen hervor: Der Oberpriester, zwei Wächter, zwei junge Priesterinnen. Jetzt hebt der Oberpriester den rechten Arm hoch und ruft Europa entgegen: „Wer seid ihr? Wer schickt euch? Das Orakel hat euch gerufen, aber ihr seid doch im Sturm ums Leben gekommen. Zu wem wird es nun sprechen?“ Europa verneigt sich vor dem Sprecher, auch Athanama und die Zwillinge gehen in die Knie. „Wir haben den Schiffbruch überlebt, so kommen wir nun, um den Spruch als Lebende zu hören!“ Alle, die da oben auf der obersten Stufe der Treppe zum Tempel stehen, schauen sich ungläubig an. Sie sind also keine Geister, keine Dämonen? Möwen ziehen kreischend über ihnen vorbei. Es klingt fast wie Hohngelächter. Alle hatten zu ihnen hoch geschaut. Ein Zeichen? Der Oberpriester findet als erster wieder seine Fassung. Denn wenn dem so ist, dann steht hier die Tochter des gefallenen Königs vor ihm, Europa. Er atmet tief durch und bittet die Ankömmlinge mit einer großen Geste einzutreten, gleichzeitig gibt er seinem eigenen Gefolge zu verstehen, eine Gasse zu bilden, damit der Eingang für die Frau des Minos von Kreta weit offen steht. Die Kühle im Innern der Cella tut ihnen allen gut. Sie brauchen zwar eine Weile, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht des hohen Raumes gewöhnt haben, dann aber – begleitet vom Raunen und Flüstern hinter ihnen – staunen sie über die still in der Apsis auf ihrem Stuhl sitzende Seherin, die sie lächelnd zu erwarten scheint. Europa kommt näher, hält an, verneigt sich erneut und spricht dann so: „Du hast gerufen, wir sind deinem Ruf gefolgt. Was ist es, dass du uns sagen sollst?“ Die Zwillinge sind mächtig stolz auf ihre Mutter, dass sie hier – umgeben von all den fremden Menschen und der Seherin, neben der inzwischen auch der Oberpriester steht – das Wort ergriffen hat. Die Seherin nickt. Schweigt. Parsephon, Sadamanthys, Europa und Athanama werden auf eine harte Geduldsprobe gestellt. Denn das Schweigien dauert lange. Der Oberpriester blickt scheinbar ins Leere. Oder wen schaut er an? Schließlich – den Ratsuchenden kommt es wie eine Ewigkeit vor – beginnt die Seherin mit sehr leiser Stimme, fast summend, zu sprechen: „Blitz und Donner galten zwar dir, doch deine Bestimmung ist es, der Entführung mit einem guten Ende zu antworten. Gewalt ist nicht die Botschaft, vielmehr sollst du die fast schon vergessene Botschaft vom Glück in deinen Söhnen weiter tragen helfen.“ Als hätten diese wenigen Worte die Seherin unendliche Mühe gekostet, schließt sie nun seufzend die Augen und fällt auch gleich in einen tiefen Schlaf. Der Oberpriester fordert mit einer kleinen Geste die zwei jungen Priesterinnen neben sich auf, die Schlafende vorsichtig zu stützen. Europa ist erleichtert. Denn wenn sie mit dieser Botschaft nach Kreta zurückkehren wird, werden die alten Räte der Inthronisation ihrer Söhne nichts mehr entgegensetzen können.

20 Mai

Europa – Meditation # 450

Der fünfzigste Tag.
Pentekostae Hemera. Schönstes Griechisch, aus dem im Deutschen nach und nach der Zungenbrecher Pfingsten geworden ist. Wer weiß denn heutzutage noch, was hinter der Zahl 50 eigentlich steckt? Schon die Frage setzt etwas voraus, das zunehmend abhanden kommt: Wissen und Wissen Wollen. Längst wischt man sich durch digitale Angebote, wirft kurz einen Blidk darauf, verwendet im nächsten Gesprächsbeitrag cool das fehlende Puzzleteil, schweift erneut ab, schnappt wieder etwas auf, das man nicht weiß, wischt sich erneut durch die vertrauten digitalen Signalstraßen und hüpft so vom Stöckchen aufs Hütchen und so weiter. Gleichzeitig wischt man sich durch die neuen Bilderstrecken von Überschwemmungen in Brasilien, Afrika und im Saarland, gefällt sich in einem zynischen Beitrag: „Na, dann gibt es zumindest zur Zeit keine Waldbrände, wie letztes Jahr“, und lacht dazu ein schmallippiges „Huhuhu!“ und entscheidet gleichzeitig im inneren Tageskalender, dass man am Abend unbedingt einen Blick in die neue Staffel werfen wird, weil die letzte inzwischen so was von ausgelutscht ist, dass man schlecht gelaunt einen Spruch loslässt, wie einfallslos und oberflächlich doch diese Serien seien. Als wäre man selber ein besserer Macher an dieser Stelle, wenn man ihn nur ließe…! So geht auch dieses Wochenende wie ein schlechter Film – bei so einem miserablen Wetter aber auch – am Betrachter vorbei, und die näher rückenden Einschläge im ehemaligen Palästina und der Ukraine sorgen höchstens für zusätzlichen Nervenkitzel. Radikale Siedler im West-Jordanland bringen Laster mit Lebensmittel zum Anhalten und werfen die Ladungen auf die Straße, damit die flüchtenden palästinensischen Familien im Gazastreifen nicht überleben können. Junge Israeli reisen im Bus an, um Schadensbegrenzung und Solidarität mit den traumatisierten Familien in Rafah zu praktizieren; der Zuschauer in der BRD soll stattdessen den 75. Geburtstag „seiner“ Verfassung feiern: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“…Wie langweilig. Zumal keine Fußballspiele anstehen, Jürgen Klopp in Liverpool aufhört (der sollte mal den Laden in München aufmischen! geht es dem Besserwisser in seinem vollautomatischen Fernsehsessel durch den Kopf-Schmerz-Kopf); über Tirol wird er dieses Jahr bestimmt nicht an die Adria fahren, klar, wär‘ er ja schön blöd. Schnäppchen-Flug, klar. Was soll das mit dem fünfzigsten Tag denn eigentlich bedeuten, stört ihn da aufdringlich die Überschrift? Ach so, Pfingsten. Das mit dem schlauen Vogel, da soll den Aposteln doch ein Licht aufgegangen sein: Endlich der volle Durchblick, endlich wurde denen da gesagt, wo es lang gehen sollte. Die Einzelheiten verhandelten dann uralte Männer auf sogenannten Konzilien per Mehrheitsbeschluss: Ein, zwei oder drei Gottheiten – oder einfach alle in einem. Nicht schlecht. Dass aber heute uns Europäern, von den abrahamitischen Religionen nachhaltig geprägt im Denken und Handeln (Salman Rushdie hat mit seinen „satanischen Versen “ dazu ein phantasievolles Ausrufezeichen gesetzt), kein Licht aufgeht, sondern man lieber mit leichtem Gänsehaut-feeling die bedenklichen Erschütterungen im San-Andreas-Graben in Kalifiornien an sich vorbei flimmern lässt, hat schon etwas sehr Befremdliches: wie aufgeregte Ameisen flitzt der homo sapiens durch die Feiertage und meint, selber von all dem Desaster nicht betroffen zu sein. Als könne er in Dauerschleife Zuschauer bleiben in einem planetarischen Geschehen, bei dem er unterdessen fleißig mithilft weiter an dem Ast zu sägen, auf dem er selber selbstgefälllig hockt. Im Roman von Anthony Doerr „Wolkenkuckucksland“ kann der gebildete Europäer gleichzeitig schmunzelnd folgende Textstelle vor seinen Augen Revue passieren lassen: .
„Seymour interessieren die Methanmengen, die im sibirischen Permafrost eingeschlossen sind. Über den Rückgang der Eulenpopulationen zu lesen, hat ihn auf die fortschreitenden Entwaldungen gebracht, die zu Bodenerosion führen, zur Verschmutzung der Ozeane und dem Korallensterben, alles erwärmt sich, schmilzt und stirbt weit schneller, als die Wissenschaftler es vorausgesagt haben, jedes einzelne System auf diesem Planeten ist auf unzählige unsichtbare Weisen mit allen anderen verbunden: Kricketspielern in Delhi wird wegen der Luftverschmutzung in China schlecht, indonesische Torffeuer pumpen Milliarden Tonnen Kohlenstoff in die Atmosphäre über Kalifornien, riesige, Millionen Morgen überziehende Buschfeuer in Australien färben die letzten Gletscher Neuseelands rosa. Ein wärmerer Planet = mehr Wasserdampf = ein immer noch wärmerer Planet = auftauender Permafrost = im Permafrost gebundenes COzwei und Methan geraten in die Atmosphäre = mehr Hitze = weniger Permafrost = weniger Eis an den Polen, das die Sonnenenergie reflektiert, und all die Beweise dafür, all die Untersuchungen stehen in der Bibliothek, jeder kann sie finden, aber soweit Seymour das sagen kann, ist er der Einzige, der sie sich ansieht.“
Der fünfzigste Tag. Man könnte natürliche auch die „Geheime Offenbarung“ des Johannes (NT) zu Rate ziehen – als Szenario, das in Hollywood-Schinken längst rauf und runter bespielt wird – um sich ein Bild vom Untergang zu machen. Aber Angst machen gilt nicht. Dann doch lieber weiter Bespaßen lassen – in Vorfreude auf die kommenden End-Spiele in Berlin und Dublin und die sicher wieder märchenhaft unterhaltsame Europameisterschaft im eigenen Land!