05 Okt

Europa – Meditation # 414

Restitution des Denkens in Europa?

Kolonialwarenladen.

Ein gutes Stichwort, um sich peu à peu dem Problem Europas wenigstens ein wenig zu nähern:

1. Die Waren, die in solch einem Laden angeboten wurden, kamen eben aus den Kolonien, die sich die Europäer gewaltsam angeeignet hatten. Die Aufteilung Afrikas am Ende des 19. Jahrhunderts wurde später in den Geschichtsbüchern als Wettlauf bezeichnet: Wer zuerst da war, dem sollte es auch gehören. So wie kleine Kinder im Sandkasten ihren Sandstrich wild entschlossen gegen jeden Eindringling verteidigen, so machten es auch die Europäer in Afrika und Asien. Verbrämt wurde diese gewaltsame Vereinnahmung mit aufklärerischem und christlichem Vokabular, das den Kindern in den Schulen eingebläut wurde als Nächstenliebe oder Entwicklungshilfe.

2. Der Reichtum, der dadurch nach Europa gespült wurde – Parkanlagen und Herrenhäuser in Frankreich und England künden noch heute von solcher Ausbeutung – ist längst verprasst, in zwei Weltkriegen verbrannt und an den Börsen verspielt.

3. Jetzt meldet sich das schlechte Gewissen und man will wenigstens einiges von dem, was man an kulturellen Schätzen Afrikas und Asiens raubte, wieder zurückgeben. Restitution. Geradezu rührend aber auch! Es wird medial als Spektakel verkauft, hochrangige Politiker und Politikerinnen lassen sich dabei beim Hände Schütteln zuschauen – wenn genügend Kerosin zur Verfügung gestellt wurde.

4. Viel wichtiger wäre allerdings, wenn diese Vorgänge in Europa genützt würden, eine Restitution des Denkens herbeizuführen: Denn das Loblied auf die Freiheit und die Demokratie, das in Akademikerkreisen seit dem 18. Jh. leidenschaftlich gesungen wurde und das Denken der Gebildeten wie einen feinen Ausgehanzug kolonisierte, erwies sich im Alltag der Mächte lediglich als Prolog, auf den dann Gewalt, Angst, Unfreiheit und Tod wie die apokalyptischen Reiter folgten. Gnadenlos, grenzenlos, uferlos und im Endeffekt immer auch sinnfrei. Zumindest in dem Sinne, dass Idee und Wirklichkeit so weit auseinander klafften, dass der zugrunde liegende Widerspruch nicht mehr als solcher zu erkennen war und bei vielen immer auch noch ist. Die Privilegierten verschanzten sich borniert hinter ihren Wohlstandshalden, bis die Flüchtlingswellen auch den letzten eines besseren belehrten. Der Planet bittet zur Kasse.

03 Okt

AbB – Neue Versuche (Dekameron) # 78 – Leseprobe

Endlich kann das Begehren sich bewähren.

Lukimmeló und Lordum spüren geradezu, wie die steinernen Portalfiguren ihrer Kindheit zerbröseln. Sie sacken in sich zusammen, als wären sie aus pulvrigem Sand. Beiden wird leichter und leichter ums Herz. Die Morgendämmerung begrüßt sie wohlwollend und voller Behutsamkeit. Langsam. Voller Begeisterung und Begehren gleiten ihre Blicke über die nackten Körper. Die kühle Morgenluft streichelt haarsträubend über sie hin. Und weit über ihnen kreisen jetzt zwei große Greifvögel, Adler wohl, deren spitze Schreie ihnen wie das Auslachen alter und scheinbarer Gewissheiten in ihrem Denken anmuten. Ausgelacht sind sie nun. In sich zerfallen. Kleine Halden verlogener Gewissheiten. Hin. Nun aber blüht endlich wieder natürliches Begehren auf.

„Ich fühle mich so frei, so unendlich frei wie noch nie in meinem Leben“, sagt Lukimeeló zu Lordum.

„Ich auch“, ist alles, was er ihr erwidern kann.

Sie wissen, was für eine verführerische Schlange die Sprache ist. Dieser Quälgeist, er macht im Handumdrehen aus Begehrenswertem Angstschweres. Aus natürlicher Lust unnatürliches Befremden, Schuldgefühle, Vorwürfe. Im Handumdrehen. Jetzt fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen. Jetzt lassen sie es mit jedem Atemzug lustvoll aus sich entweichen. Wie einen Dämonenfluch, der sie schon so lange meinte niederzwingen zu dürfen.

Nur wenn dem Begehren gleiches Begehren entgegen giert, können die Sinne – und nur sie – im lustvollen Tanz von Suchen und Finden zum Ziel gelangen.

S e i t e 2

„Komm, komm!“ flüstert Lukimeeló lockend.

Gleichzeitig drückt sie mit beiden Händen ihre beiden Oberschenkel hoch und auseinander. Wie zufällig sieht sie in diesem Dreieck oben am Himmel den Adler kreisen, als wäre er – wie durch einen Zauber- in diesen Raum gebannt, als hätte sie ihn gefangen. Sie selbst fühlt sich dabei so frei wie noch nie. So frei.

Lordum schiebt nun vorsichtig seinen Kopf in die Spitze dieses kühnen Dreiecks und liebkost mit seiner Zunge den kleinen, glänzenden Hügel darin.

Lukimeeló stöhnt gierig gern ihm entgegen.

„Mehr, mehr!“ spornt sie ihn übermütig an, „mehr!“

Sie hatte gedacht, er würde gleich in sie hineingleiten.

Dass er nun mit seinem Kopf zwischen ihren Beinen versunken ist, lässt sie vor Wonne fast zerspringen. Und da sind keine Störeinflüsterungen mehr, die der Freude in die Quere kämen. Da ist nur lustvolle Zustimmung, reines Begehren. Schon kommen in mehreren Wellen von innen her sie überflutende Glücksgefühle nach oben, jubilierende, wie zu freiem Flug abhebende Gesänge. Sein Kopf kommt nun hoch zu ihr. Lippen noch feucht vom berauschenden Trinken am Zauberberg. Gleichzeitig spürt sie, wie wohlige Wärme in sie eindringt, sie völlig ausfüllt. Und sein schönes Stöhnen nimmt sie genauso bereitwillig in sich auf wie seinen warmen Samen, der in ungestümem Schwall in sie hinein sich ergießt.

Als würden Zeit und Raum wie eben erst die morschen Portalfiguren bröselnd in sich zusammen fallen, so scheinen Lordum und Lukimeeló den

S e i t e 3

unverhofften Augenblick zu erleben, dem sie sich endlich frei und ganz hingeben können. Doch jetzt ist es Lukimeeló, die ihn sacht von sich schiebt, um sich stolz über ihm zu erheben und ihn so erneut in sich zu versenken. „Ah, wir sind eins…!“ haucht sie lüstern in sein Ohr, „eins!“

Später – die ersten Morgensonnenstrahlen bringen gerade die vielen Schweißtropfen auf ihrer Haut bunt und wunderbar zum Glitzern – müssen sie immer wieder lachen. Oft völlig unvermittelt. Da purzeln alte Satzgebilde aus dem Kopf in ihr müdes Bewusstsein. Wie Fremdlinge muten sie sich an.

„Kenne ich nicht, weiß ich nicht, brauch ich nicht…“

So oder so ähnlich kommentieren sie die langweiligen Querschläger aus früheren Tagen. Die Großeltern, die Eltern, die Priester, die Lehrer, deren Geplapper kommt ihnen nun vor wie ulkiges Gekrächze. Immer wieder müssen sie in ihrem Tagtraum, den sie nun sich gönnen, fragen: „Was hast du gesagt? Ich verstehe dich nicht, Mutter. Was meinst du damit, Großvater?“ Als wären es müßige Gespräche aus einem verflossenen Leben, einer völlig anderen Welt, die auf einem anderen Planeten wohl gerade stattfinden mag, nicht aber in ihrem Augenblick, den sie beide gerade fühlen. Unverständlich, unvorstellbar, unsinnig. Überflüssig. Wenn sich Lukimeeló und Lordum nun in diesem klaren Morgenlicht von der Seite her anschauen, sind sie sich ganz sicher: ihr vorheriges Dasein war nur Vorspiel auf dem Theater, ein irriger Probelauf, der sich als müßig herausgestellt hat. Sie sind nun endlich frei. Frei wie der stolze Adler oben über ihnen. Gelassen zieht er dort seine Kreise. Kennt keine Angst.

N a c h w o r t

Viele Jahre später in Florenz.

Die Folgen des Sensenmannes, der im Dienste der Pest, so lange und so schlimm in ganz Europa wüten durfte, sind immer noch nicht überwunden. In den Gassen von Florenz wanken in langen, schwarzen Gewändern trauernde Großmütter hin und her. Murmeln Gebete, sprechen mit den Toten, als wären sie noch an ihrer Seite.

„Ja, ja, mein lieber Sohn, pass gut auf dich auf und komm bald wieder heim…“

Tränen laufen faltige Wangen hinab.

„Was hast du gerade gesagt? Du sprichst so leise. Du weißt doch, ich höre nicht mehr so gut.“

Jetzt steht die Alte am Ufer des träge dahin fließenden Flusses. Ganz in Gedanken meint sie das Lachen von Kindern zu hören. Dann starrt sie auf einen Körper, der im Wasser an ihr vorbei zu gleiten scheint. Fast verliert sie ihren Halt und wäre in den Fluss gestürzt, wenn nicht im gleichen Moment eine Schar Tauben dicht vor ihr vorbei geflattert wäre. Sie schreckt hoch und sucht Halt an einer Uferweide. Glück gehabt.

Oder war es Klipenia, die Zauberin, die Mitleid mit der Alten hat?

Ganz in der Nähe fühlt auch Lordum die Nähe der Zauberin. Er erinnert sich an die Nacht, als er diesen hellen Schweif am Himmel gesehen hatte. Lukimeeló neben ihm. Und der Tempel der Eos vor ihnen geheimnisvoll beleuchtet vom Mond. Sie hatte ihn gefragt, ob er sich etwas gewünscht habe. Auch an die Geschwister Gewalt und Angst denkt er – wie damals. Nur haben sie längst keinen Platz mehr in seiner Gefühlswelt.

S e i t e II

Seine Wutrede. Jetzt kann er darüber nur lachen. Natürlich hat er längst geheiratet, hat Kinder. Die studieren inzwischen in Bologna Jurisprudenz. Aber er fühlt sich so frei wie noch nie in seinem Leben. Als würde erst jetzt die Zeit ungebremster Lebensfreude einsetzen. Er schreibt am offenen Fenster gerade einen Brief an die Meisterin ihrer Geheimgesellschaft.

„Liebste, Lukimeeló! Beim nächsten Vollmond möchte ich dich wiedersehen.

Oben vor San Miniato al Monte auf der kleinen Terrasse, von der man diesen wunderbaren Blick hinunter auf den Fluss und den Dom hat.“ Mit Schwung versiegelt er das kurze Schreiben, es soll heute noch mit einem Boten zu ihr gebracht werden, heute noch.

Wie sehr hat sich die Welt für die Flüchtlinge von damals doch verändert!Wie Lordum und Lukimeeló haben auch die anderen Paare, die damals in dieser unvergesslichen Mondnacht bei einander gelegen hatten, die Einflüsterungen aus Kindertagen wie welke Blätter hinter sich gelassen. Sie haben sich die Lebensstufen neu zusammengesetzt. Gewalt und Angst daraus verbannt, für immer. So können sie nun – völlig frei von Schuldgefühlen oder Eifersucht – zueinander finden und die Wünsche der inneren Natur frei in Erfüllung gehen lassen.

Immer wieder und voller Lebensfreude. Und von Jahr zu Jahr wuchs auch ihre Geheimgesellschaft, denn vor allem die griesgrämigen Vertreter der Kirche predigen ja weiter von Sünde, Strafe, Höllenfeuer. Als wäre die Natur in einer Fehlerfalle gefangen, der sogenannten Erbsünde. Darüber können sie insgeheim nur lachen, Lukimeeló, Lordum und all die anderen

von damals samt den vielen neu hinzu gekommenen.

S e i t e III

Mond, Terrasse, Fluss und Dom sind die vier Losungsworte, die den Priestern unverdächtig scheinen, die der Geheimgesellschaft aber Tür und Tor zu ihrem geheimsten Begehren öffnet. Einer wirklichen Welt, in der Sprache und die Purzelbäume der Logik sehr, sehr alt aussehen und nur staunend zuschauen können, was jenseits ihrer künstlichen Gebilde und haarsträubenden Konstruktionen an natürlicher Wirklichkeit unendlich liebenswerter ist.

Nach und nach werden so die Jahrtausende alten Domestizierungen der inneren Natur wieder in sich zusammenfallen und Männer wie Frauen wieder dahin zurückkehren können, wo sie eigentlich ursprünglich gewalt- und angstfrei leben konnten.

30 Sep

Europa – Meditation # 413

Das Licht der Aufklärung: Ein Blender ohnegleichen.

Die Männer wollten sich nicht länger von einem Gott bevormunden lassen. Also verkündete sie kühn: Gott ist tot. Es lebe der neue Gott, der Mann – oder um es intellektueller klingen zu lassen, das Individuum. Das klang sachlicher, neutraler. Als wenn sich dahinter nicht das gleiche, alte Interesse verborgen hätte! Der Kaisers neue Kleider waren auch nicht besser als alle anderen davor. Aber es schien zu funktionieren: Der Jubel war groß. Die neue Idee grenzenlos, damit auch die Möglichkeiten für das Individuum. Die Skala nach vorne weit offen. „Komm mit, ins Offen, Freie, wir werden alle frei sein, alle. Im Klartext hieß es dennoch: die Männer. Jetzt nicht mehr als Priester, wohl aber als Wissenschaftler, die vordergründig um Objektivität zu ringen schienen, hintergründig allerdings mit viel subtilerer Gewalt als je ihre Dominanz zementierten – und dass nicht nur ihresgleichen gegenüber, sondern auch der eigenen Basis gegenüber, der Natur.

Dieser historische Schwenk im logischen Denken und wissenschaftlichem Sprechen ließ einer Euphorie Tür und Tor eröffnen – man benutzte (und tut das immer noch) die Metapher vom Licht der Vernunft, das sich nun befreiend auszubreiten schien – dass endlich menschengemacht alles, selbst der Tod, in den Griff zu bekommen wäre. Natürlich gab und gibt es dabei Meinungsverschiedenheiten, die bis hin zu Weltkriegen führen können, aber das gehört eben scheinbar alles dazu, zu diesem neuen Welt- und Menschenbild vom freien, unabhängigen und kritischen Individuum. Das Licht – inzwischen so grell hell wie ein Atomblitz – hat aber längst die Männer völlig blind gemacht – in religiösem Kontext würde man von „verblendet“ sprechen – , so dass sie jedwede Orientierung verloren zu haben scheinen. Und da sie aber weiter stolz auf ihre „Aufklärungsepoche“ sein möchten, verbieten sie sich einfach zuzugeben, dass wir uns in eine Sackgasse manövriert haben, aus der eben nur die totale Umkehr die einzige Lösung sein würde.

Die rettende Wendung in diesem Sinne kann – mit dem Rücken zu Wand – nur noch von den Frauen kommen, die die Leidtragenden (im wahrsten Sinne des Wortes!) sind und die dennoch in Ermangelung dieses unseligen Stolzes der Patrix die Männer mitnehmen würden, weil man Blinde eben an die Hand nehmen muss, damit sie nicht straucheln oder gar in einen Abgrund stürzen.