20 Mai

Europa – Meditation Nr. 500

Der neue Dreisatz im Chaos-Tanz der europäischen Wirklichkeit.

Erster Satz:

Das Credo vom Individualismus „Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!“ hat sich als schlimme Verlockung, als hohl und mörderisch erwiesen. Denn statt einer Befreiung des Ichs betrog sich der kluge Kopf in einem steilen Aufstieg zu einer noch nie da gewesenen Entfremdung von sich selbst, in dem er sich den scheinbaren Gesetzmäßigkeiten der Materie und des Marktes verschrieb, in dem er mehr und mehr zum Getriebenen und bloß noch Gebrauchten verkam, der das Mehr an Haben dickköpfig als ein Mehr an Sein sich selbst einzureden vermochte und gleichzeitig nicht nur der eigenen Tier-Natur, sondern auch der sie tragenden äußeren Natur so viel Gewalt antat, dass er die Verkümmerung seiner Seele genauso wie die Klima-Katastrophe und die Ressourcen-Ausbeutung als Weg zur Vollendung der „Aufklärung“ verbrämen musste. Die Kosten sind immens. Geld wurde so zur endgültigen neuen Religion, die zu zelebrieren er all seine Phantasie einsetzte. Das Bild vom goldenen Kalb aus dem alten Testament wird so zu einem Menetekel, das sich in diesen Tagen auf unheimliche Weise dermaßen vergrößert hat, dass die Selbstverwirklichungswünsche des einzelnen nur noch über die Schiene der Geldvermehrung funktioniert. Die Auswüchse werden überdeutlich in der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich: die Deals, die in der letzten Woche in Saudi-Arabien und den Emiraten ausgehandelt wurden, sind das letzte und verlogensten Beispiel dieser Irrfahrt des Individuums zu sich selbst: da ist nichts mehr übrig als Kälte, Gewalt, Lüge und Betrug.

Zweiter Satz:

Vielfalt ist die entschiedene Antwort auf diesen totalen Schiffbruch der völlig misslungenen Emanzipation des Individuums mittels cartesianischer Mittel. Die Europäer können sich aus der Sackgasse des amerikanischen Modells endlich selbst befreien: Sie müssen sich nur auf den Wert der Vielfalt europäischer Traditionen, Sprachen und Kulturen besinnen, die – wie in einem großen Konzert – eine so starke Melodie auf den Weg bringen kann, dass nicht nur nach innen selbstwirksame Kräfte freigesetzt werden, sondern auch nach außen eine Stärke sichtbar wird, die in der Vielfalt der Welt wie eine neue Einheit erscheinen kann. Sie wird dann in dieser globalen Krise zum beeindruckenden Vorbild für Hilfe durch Selbsthilfe – eben nicht nur auf dem eigenen Kontinent, sondern auch auf der ganzen Welt. Das bisherige westliche Modell wird über Nacht zu einem Auslaufmodell, weil die tönerne Botschaft in sich selbst zusammenfällt und an ihre Stelle die „Vereinten Völker Europas “ (VVE) die ihre setzen, die weder der Selbstausbeutung noch der Ausbeutung der Natur anheim fällt, sondern behutsam und nachhaltig an den Schäden sich abarbeiten wird, um gemeinsam mit ihren „followern“ den Kollaps des Planeten doch noch abzuwenden. Die Kräfte dieser Vielfalt müssen überhaupt erst zum Bewusstsein kommen – da haben die Medien ihre große neue Aufgabe – in der Bildung der nachwachsenden Generation muss das zum Kern-Curriculum in allen europäischen Ländern werden, damit die Flucht in die Welt der Pixelsucht obsolet wird. Es ist höchste Zeit, denn die Stunde der Wahrheit hat geschlagen.

Dritter Satz:

Den cartesianischen Sicherheitsversprechen durch Maß und Zahl werden dann die ernüchterten Individuen in Europa eine Haltung entgegen setzen, die sich bescheiden als neugierige Nomaden-Existenz versteht, die im Denken wie im Tun das „Unterwegs Sein“ auf seine Fahnen schreibt: die im Vorläufigen, Experimentellen, im Probelauf also, die Lebensdevise sieht: Wir – als aufrecht gehende Tiere mit einem zu Überspanntheit neigenden Gehirn – sind neugierig unterwegs zu neuen Versuchen, die weder der Gewalt, noch dem Selbstbetrug das Wort reden, sondern der Sterblichkeit bescheiden Tribut zu zollen bereit sind, um im jeweiligen Moment des eigenen Lebens alles daran zu setzen, mitzuhelfen, das gemeinsame Schicksal Europas doch noch zu meistern – eben nicht in Selbstüberheblichkeit und Größenwahn, sondern in Solidarität mit den Nachbarn, die man kennt und respektiert und von denen man weiß, dass sie für die eigene Rettung lebensnotwendig sind. So könnte Europa der neue Trendsetter werden. Weitsichtig.

14 Mai

Erzähl mir keine Geschichten! Nr. 8 – Leseprobe

Der Blick aus den Fenstern in den alten Park. Vogeltänzerei.

Diese beflügelte Leichtigkeit befiederter Tänzerinnen und Tänzer ist in ihrer Stille und Akrobatik Natur gewordene Schönheit, von der sie allerdings nichts wissen, genauso wenig wie von den herrlichen Melodien ihrer Lockrufe und Reviergesänge, die sie Tag für Tag der Welt verschwenderisch schenken. Nur wir Menschen umhüllen sie noch zusätzlich mit dem Etikett der Vergänglichkeit. Wie überflüssig, wie pharisäisch! Denn anders als in der lebensfrohen Vogelwelt verstecken wir nur allzu gerne in unseren eigenen schön geredeten Wortgirlanden die düsteren Momente unseres Tuns. Als zäher Nebel kommen sie aber immer wieder zurück in unsere Erinnerungsarbeit, manchmal sehr, sehr viel später. So wie die Geschichte um die polnischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, die auch im Rheinland unter wahrlich unwürdigen Bedingungen arbeiten mussten – die größten Anstrengungen galten dabei aber der Arbeit am Überleben. In Beuel genauso wie in Siegburg, um nur zwei der zahllosen miesen Nester nationalsozialistischer Unterdrückungsorte zu nennen.

Beuel: in der Zeitung dieser Tage ein gestelltes Foto adrett hergerichteter Polinnen, die in ihren Gesichtszügen die Kränkung und die Angst kaum verbergen können, die sie Tag und Nacht in ihrem Würgegriff halten. Jadwiga Pawlowska. Eine von vielen. Sie lebten dicht gedrängt in überfüllten Baracken. Jadwiga Pawlowska starb unter menschenunwürdigen Bedingungen. Tuberkulose, keine ärztliche Hilfe, sie wurde einfach weggesperrt, bis sie starb. Jadwiga Pawlowska. Ein Name unter vielen in Beuel. 1943 – 1945.

Siegburg: Illa (94) erzählt ihrem Sohn beiläufig, dass sie im Betrieb auch polnische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen gehabt hätten. Jeden Tag habe sie eine Suppe für sie gekocht. In welchen Baracken haben sie hausen müssen? Wer waren die Aufseher? Der Sohn versäumt, nachzufragen, die Mutter wechselt das Thema. Was wussten die Seilers von ihren Lebensbedingungen vor Ort, wie wurden sie im Betrieb behandelt? Gab es da auch eine Jadwiga, eine Malgorzata? Tuberkulose? Wo sind sie beerdigt? Was geschah nach den Tagen der Kapitulation am 8. Mai 1945? Wechselte nun die Angst die Seiten? Fürchtete man auf dem Stallberg die Rache der Gedemütigten?

Wie sagt doch Sting in seiner Autobiographie „Broken Music“: „Wir sind alle Trappistenfamilien, jeder gefangen in seinem eigenen Schweigen“. Das haben die Eltern in nachhaltigem Unterricht jeden Tag am Esstisch ihren Kindern beigebracht: zu schweigen. Jadwiga? Wir kennen keine Jadwiga. Was ist das überhaupt für ein komischer Name? Wo hast du das her? Hast du schon die Hände gewaschen? Ab! Aber dalli. So ging das. Und wir Kinder in unserer Angst waren brave Schülerinnen und Schüler im Fach Schweigen.

Später werden wir es unseren eigenen Kinder als Normalfall weiter vorleben. Und unter einem Berg von Werbespots und schriller Musik ist Jad-wiga dann höchstens noch ein hohler Klangkörper fast so wie Rot-China.

Jenseits solchen Schweigens bleibt aber die Stille im Park einfach nur wunderbar, der Lufttanz der Meisen und Amseln kostenlose Schönheit und der vielstimmige Gesang abends und morgens ein reiches Geschenk hochbegabter Sängerinnen und Sänger. Just for free.

Jadwiga – auch ein schöner Klang. Wenn auch mit einem sehr traurigen Unterton.

Małgorzata Chodakowska (* 9. Mai 1965 in Łódź, Polen) ist eine polnische Bildhauerin, die seit 1991 in Dresden lebt und arbeitet. Sie besitzt neben der polnischen seit 2018 auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Neben den sogenannten „Stammfrauen“ – überlebensgroßen Holzskulpturen, die im Stück aus Baumstämmen gehauen werden – gestaltet Chodakowska auch Brunnenfiguren sowie Preisskulpturen für Wettbewerbe. Besondere Aufmerksamkeit erhielt ihre Skulptur Trauerndes Mädchen am Tränenmeer, die seit 2010 in Dresden an die Bombardierung der Stadt 1945 erinnert.

12 Mai

Europa – Meditation # 499

„Wir sind und waren doch immer nur Freunde!“

Nach einem wirren Wechselbad der Gefühle und Botschaften, die den Europäern Tag für Tag zugemutet wurden – und nicht nur ihnen – , schleift bereits die Kraft der Gewohnheit selbst das Ungewöhnlichste wieder glatt: „dank“ eines neuen Kanzlers und „dank“ eines neuen Papstes, dem undramatischen Ende der Bundesligasaison und dem bevorstehenden Vatertag, den verlässlichen Hiobsbotschaften aus der Ukraine und Palästina, sind die Europäer wohl bereit, im neuen Alltag der Alten Welt der Neuen Welt Paroli zu bieten: auf dem schmalen Grat zwischen Skylla und Charybdis – zwischen Weltkrieg und Klima-Kollaps – entscheiden sich die Europäer mit dem Rücken an der Wand für ein völlig neues Kapitel ihres Selbstverständnisses und ihrer Rolle in der Welt:

Die verrottete Nabelschnur zum großen Bruder aus Übersee ist von diesem selbst mutwillig durchschnitten worden; so müssen die Europäer aus ihrem bequemen Wohlstandstaumel endlich aufstehen und auf eigenen Füßen wandeln – erwachsen werden eben. Es ist aber nur scheinbar ein großer Trennungsschmerz, war doch die Beziehung nie eine partnerschaftliche, sondern immer eine ökonomische und auch ideologische Abhängigkeit. Dass sie fast 80 Jahre funktionieren konnte, war in den ersten vierzig Jahren der Angst vor dem Over-Kill gezollt und in den letzten vierzig Jahren den Gesetzmäßigkeiten einer einseitig exportorientierten Volkswirtschaft.

Es musste also erst ein tobendes Rumpelstilzchen à la Trampel auf dem Parkett erscheinen, bevor die Europäer die scheinbaren Bequemlichkeiten einer „alten Freundschaft“ als das erkennen konnten, was sie ist: fast wie siamesische Zwillingen hatten sie sich aneinander gebunden: ein starker, großer und schwerer Zwilling mit einem kleinen, aber auch potenten Zwilling. Wer das Sagen hatte, war unausgesprochen offensichtlich: der schwere Knabe natürlich.

Nun ist es vorbei damit.

Die Verwirrung ist groß, denn der Ritt in die Selbständigkeit ist weder ein Selbstläufer, noch eine Selbstverständlichkeit. Die Europäer liebäugeln mit zwei Optionen (es bleibt allerdings nicht viel Zeit sich zu entscheiden, denn die großen „Player“ dieses stöhnenden Planeten rangeln schon um die besten Plätze): Rückkehr in die Sackgassen nationaler Prioritäten und Fremdenfeindlichkeit oder Aufbruch in ein kühnes Netzwerk verwandter Völker, die ihr Eigeninteresse am besten erfüllt sehen, wenn sie die Interessen der anderen als hilfreich und nötig verstehen lernen: faire Zusammenarbeit unter gleichen – „Wir verteidigen gemeinsam unseren Erdteil, wissen um seinen Wert gerade in seiner d i v e r s i t y und schätzen unsere Nachbarschaft als hohen Wert im eigenen Leben und Erleben.“ Doch das eigene Leben und Erleben ist den Europäern in den letzten 80 Jahren fast abhanden gekommen, so vorauseilend brav übernahmen sie nicht nur das neo-liberale Wirtschaftskonzept des großen Zwillings, sondern auch sein werbewirksam in Szene gesetztes Zivilisationsmuster: „the american way of life“. Allzu beflissen wurden in all den Jahren die eigenen historisch gewachsenen sozialen Muster preisgegeben, Traditionen, Besonderheiten und regionale Folklore hintan gestellt, um sich von Konsumrausch und dem Mantra: „Verbrauche einfach mehr als du brauchst!“ über den Markt treiben zu lassen. Bis in die Sprachhülsen ließ man sich verformen, neu aufstellen und über den Tisch ziehen. Da war allerdings kein Freund am Werk, sondern ein erfolgsorientierter Business-man, der eiskalt eins und eins zu addieren wusste.

So ist es ein unsanftes Erwachen, das nach Kater schmeckt. Kopfschmerzen bereitet noch und noch.

Das Tempo diktiert die Klimakrise, das neue Konzept für die Europäer muss schnell auf die Beine kommen, sonst kommen wir aus dem Regen bloß in die Traufe.