05 Jul

Europa – Meditation # 404

Die frohe Botschaft – oder eine Drohung? ( 2.Teil )

„Alles wird sich ändern“ eine große Überschrift im internet am 03-07-23 zu lesen – wie banal ist das denn? Klingt doch gut – oder? Oder sollen wir das Fürchten lernen?

Dabei ändert sich doch schon immer alles unablässig, nur können wir Erdlinge das oft nicht so sehen (oder wollen es lieber so nicht sehen), weil wir nur sehr flüchtig in diesem Chaos auftauchen und bald schon wieder verschwinden. Aber für die kurze Phase unseres Wahrnehmens haben wir – sehr phantasievoll und erfinderisch und wohl auch aus Gründen des Selbstschutzes – viele Wortgebilde erfunden, um diese rapiden Veränderungen scheinbar zu verstetigen. Begriffe, Abstrakta.

Wenn wir nun die letzten 78 Jahre zurück schauen, könnten wir bei ruhiger und gelassener Betrachtung leicht feststellen, was sich nicht alles plötzlich und oft auf völlig unvorhergesehen geändert hat.

Hier nur ein paar Beispiele:

1. Abschaffung der DM – wer hätte das gedacht!

2. Ende des Kalten Krieges – wer hätte das für möglich gehalten?

3. Ein neuer Krieg am Rande Europas – wer hätte es sich vorstellen können

4. Das Schrumpfen der Kirchengemeinden – oh Gott, oh Gott!

5. Die plötzliche Wiedervereinigung – als Schiffbruch – schade

6. Der Individual-Verkehr in den Städten – wie soll das denn gehen?

7. Die Wachstums-Ideologie – und wie soll die Alternative denn aussehen?

8. Die Pandemie – im Nachhinein weiß es jeder besser!

9. Der Konsum-Wahn – und wenn dann alle arbeitslos sind?

Lauter Abstrakta, die wie in Stein gemeißelte Wahrheiten anmuten sollen, damit auch alle sie schön für wahr und unabänderlich halten können. Doch:

alles sind bloß vorübergehende Erfindungen, um Menschen in bestimmte Richtungen zu steuern, damit die Steuernden davon profitieren.

Und deshalb können sie auch jederzeit wieder abhanden kommen, verschwinden, wenn nur der Leidensdruck groß genug ist – wie nach einer Katastrophe, nach einem Krieg, einer Epidemie.

(wobei das Ahrtal ein Beispiel dafür ist, wie selbst der erlebte Leidensdruck nach gebührender Trauerzeit in die Wüste geschickt werden kann und die alten Fehler unter neuen Vorzeichen wieder einbetoniert werden.) „Alles wird sich ändern“, ist also nichts anderes als eine Leer-Formel, an die wir uns klammern, die wir aber auch sofort wieder fallen lassen, wenn wir es für profitabel, günstig, richtig und rettend halten.

Die ordentliche Einteilung der sichtbaren Welt in links, rechts, grün, braun, farblos ist und bleibt reine Mutwille, an den wir uns klammern, bis uns eben wieder etwas Neues einfällt – vor allem wenn um uns herum plötzlich Müll-Container, SUVs und Uhrenläden brennen.

Eigentlich also ein geeigneter Augenblick, Überkommenes fallen zu lassen und mit kleinen Dosen gemeinsam in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen, in der wir uns weder von Katastrophenszenarien noch von Welterlösern beeindrucken lassen, sondern die Dinge um uns herum selber in die Hand nehmen. Solches findet nämlich nur nicht statt, so lange wir nicht damit beginnen. So einfach ist das – und ganz ohne abstrakten Überbau.

03 Jul

Europa – Meditation # 403

Die frohe Botschaft – oder eine Drohung? (1. Teil)

„Alles wird sich ändern“ eine große Überschrift im internet am 03-07-23 zu lesen – wie banal ist das denn?

Soll das eine Drohung sein oder ein Wechsel auf die Zukunft? Das klingt so, als wäre das, was ist, beständig, hartnäckig langlebig und widerstandsfähig gewesen.

Als wenn sich nicht unablässig sowie so alles ändern würde! Wir selbst vorneweg, wir Erdlinge. (Warum haben denn Schönheitschirurgen Hochkonjunktur? Um die Veränderungen hinter einer Maske zu verbergen – was für ein erbärmlicher Aufwand, und wie teuer und wie unnatürlich! Und wie vergeblich!) Nur unsere Sprachgebilde – die wir ja auch selbst für uns erfunden haben – verführen uns immer wieder dazu zu glauben, es gäbe Dinge, die andauern. Nur weil Tag und Nacht immer wieder sich abwechseln, ist doch jeder Tag und jede Nacht völlig anders als die vorherigen. Zahlen, die immer wiederkehren, können uns lautlos, aber nachhaltig dazu verführen, zu glauben, sie beschrieben das Gleiche, wenn sie als Zahlen wieder an andere Stelle auftauchen. Selbst jeder Geldschein, jede Münze ist nicht wie die gleiche daneben, sie ähneln sich nur so sehr, dass wir sie für dieselbe halten. Und das tut der Seele, der zappelnde, natürlich sehr gut, möchte sie doch dem Augenblick Dauer verleihen, Verlässlichkeit in diesem unbeschreiblichen Chaos zu garantieren, das uns – permanent in Bewegung – immer wie ein Kaleidoskop umgibt. Scherben, die wir gerne als stabile Ganzheiten betiteln, um der Angst vor der Flüchtigkeit allen Seins sichere Zufluchtsorte entgegen zu phantasieren.

Wie hieß doch gleich der Film von Alexander Kluge 1968? „Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos“. Das passt zu uns Erdlinge immer noch ausgezeichnet, wenn wir ehrlich wären.

Was aber von dem, das wir für beständig halten, müsste sich denn ändern (neben dem natürlichen Veränderungsprozess von allem und jedem!)?

Wie wäre es denn, wenn endlich die etablierten Parteien aufgelöst würden, um regionalen Vereinigungen auf Zeit Platz zu machen?

Wie wäre es denn, wenn die repräsentative Demokratie ins Museum geschickt würde, um variablen Formen direkter Demokratie Platz zu machen?

Wie wäre es denn, wenn die übergroßen Parlamente (meistens sind die Sitze bei den Sitzungen sowie so nicht besetzt – oder man starrt auf sein Handy – und war eine gewisse Frau Merkel da nicht schon Wegbereiterin?)

Wie wäre es denn, wenn jeder in seinem privaten Bereich begänne, umweltverträglich zu agieren, statt auf „die da oben“ zu warten?

Nur, um mit ein paar Beispielen für moderaten Diskussionsstoff zu sorgen!

30 Jun

AbB – Neue Versuche (Dekameron) # 76 Leseprobe

„Wir wollen nicht länger diesem Götzen dienen!“

Es ist nur ein sehr kurzer Schlaf, der ihnen gegönnt wird. Ihre Träume sind es, die sie wieder wecken. Als wären ihnen Flügel gewachsen. Als wären sie einer langen Verbannung entlaufen. Emilia ist es, gerade im Augenblick des Aufwachens, als gingen alte Männer hinter ihr her, die sie beschimpfen, bedrohen. Aber sie hat überhaupt keine Angst dabei. Im Gegenteil: Sie lacht, weil diese Männer, je näher sie kommen, umso kleiner werden und ihre Stimmen zu Flüstertönen verebben, die sie nicht verstehen kann. Ihr Lachen aber wird lauter und lauter und weckt sie so aus dem Schlaf. Und neben ihr Elise schlägt auch gerade ihre Augen auf, atmet tief ein und sagt dann zu Emilia:

„Hast du mich gerade gerufen? In meinem Traum gingen wir zusammen spazieren, Arm in Arm. Dabei waren wir umringt von müden Soldaten, die anscheinend erschöpft von einem verlorenen Feldzug zurückkehrten. Wir winkten ihnen zu, aber die Männer lösten sich wie Nebelwesen in Nichts auf. ‚Mich wundert es überhaupt nicht, dass die so lautlos verschwinden‘, war dein Kommentar dazu. Ich schaute dich völlig verblüfft an. Deine Stimme klang so sicher und stark.“

Und Lukimeeló, die zwar noch meint zu schlafen, obwohl Lordum sie gerade behutsam wach küsst, erinnert sich noch genau, wie sie eben einem Bischof im Beichtstuhl im Dom von Florenz ins Gesicht zischte: ‚Wir wollen nicht länger eurem Götzen dienen, diesem unsichtbaren Popanz, diesem…‘ und – als wäre es eine Zauberformel gewesen – dadurch der Mann in seiner lila Soutane schrumpft und schrumpft und gleichzeitig wild gestikulierend und mit rollenden Augen schlimme Flüche der Beichtenden entgegen schleudert.

„Lukimeeló, was hast du denn gerade geträumt?“ fragt Lordum nach dem Weckkuss.

„Ein schrumpfender Bischof verfluchte mich im Beichtstuhl. Ich musste so lachen, weil er wie eine aufgeblasene Puppe zischend Luft verlor und in sich zusammen sackte.“

Und Lordum? Er erinnert sich nicht mehr an seine Träume, obwohl er ziemlich sicher ist, dass auch er geträumt hat. Da kommt die Zauberin, Klipenia, an ihnen vorbei. Sie lächelt vielsagend, winkt ihnen zu und scheint Lordum zu ermutigen, Lukimeeló zu verraten, was in ihm vorging, eben.

„Hör mal, Liebe, deine weichen Lippen entlocken mir Worte und Bilder, von denen ich nicht weiß, wo sie her kommen: Säulen standen in einem Oval über eine weite Wiese verteilt, in der Mitte kichernde Priesterinnen in langen, blauen Gewändern. Dünner Stoff, der mir lustvolle Durchblicke erlaubte. Sie winken mich heran. Und als ich näher komme, bemerke ich, dass sie alle wie du aussehen. Wie kann das sein? Ich hatte ein Gefühl, als badete ich in einem klaren See von Glück. Ich ließ mich treiben. Dein Geruch, deine Haut, deine Seufzer trugen mich, so dass ich nicht untergehen konnte. Weder hatte ich Angst zu versinken, noch dich zu verlieren. Du warst um mich wie Seide, die kühl und schmeichelnd über meinen Körper glitt. Dabei lagen wir auf dieser Wiese – Säulen geschützt – und sahen uns an, als sähen wir uns zum aller ersten Mal. Wunderbar.“

Lukimeeló schließt glücklich ihre Augen. Frau Angst war längst abgereist.