04 Jun

Europa – Meditation # 396

Das Modell der Europäer stößt an seine Grenzen – weltweit.( Teil 1)

Unsere Sinne betrügen uns nicht. Wir tun es selbst mit unseren Deutungen des sinnlich Wahrgenommenen. Nur halten wir es nicht für Betrug, sondern für zutreffend, was wir uns ausdenken, wenn unsere Sinne Alarm schlagen. Wenn ein Kind geboren wird, sorgen wir uns liebevoll um den Nesthocker, bis er flügge wird. Und alle wissen, dass es die wichtigste Arbeit überhaupt ist, die einer Gesellschaft ihr eigenes Überleben sichert. So wertvoll, so mühsam, so lange. Und wer erledigt diese Care-Arbeit? Genau. In den meisten Fällen Frauen. Kostenlos. Über viele Jahre.

Die Nachteile, die diesen Frauen deshalb aufgezwungen werden, gelten gewissermaßen als natürlich. „Das war doch schon immer so.“

Wenn dieses Kind dann alt und gebrechlich geworden ist, sind es wieder die Frauen – meistens – die entweder unentgeltlich oder zu Hungerlöhnen diese wichtige Arbeit auf sich nehmen. „Das war doch immer schon so.“

Mit anderen Worten: Am Anfang und am Ende des Lebens steht wichtige Arbeit – meistens von Frauen geleistet – die angesichts der seit ein paar Jahrhunderten geltenden, hochdotierten Kopfarbeit fast als gar nicht wertvoll, gewinnbringend, lohnend angesehen wird – ähnlich wie die Handarbeit. Nun aber – seit per Kopfarbeit ChatGPT dazu kommt – lässt sich sämtliche Kopfarbeit an Automaten auslagern und mit einem Schlag sind alle Kopfarbeiter höchstens noch Wasserträger.

Es gibt nur einen Ausweg aus diesem Horrorszenario: Nach der Care-Arbeit am Anfang (die selbstverständlich ordentlich bezahlt werden muss) bedarf es einer hochqualifizierten Berufsgruppe, die den Auszubildenden beibringt, wie KI und ChatGPT in dienender Funktion gehalten werden muss, (bloßes Bildungswissen aus Antike, MA und Moderne anzuhäufen, liefert solch geformte Gehirne hilflos den Apparaten aus) damit nicht nur noch Lemminge aufgezogen werden, die außer Unterhaltungskonsum keinerlei Bedürfnisse mehr haben wollen und sich auch gerne dabei von der Technik herum kommandieren lassen. Und dazwischen tobt das pralle Leben der konkurrierenden Selbstverwirklicher. Erbarmungslos und lebensgefährlich, aber bei entsprechender Vorbildung und entschiedenem Durchsetzungsvermögen scheinen die Ergebnisse sehr befriedigend – zumindest für ein paar Jahre. Dabei werden sich die Akteure zu knallharten Gegnern, die nur e i n Motto kennen: Mir gehört die Welt, ich muss hart sein nicht nur gegen mich selbst, sondern erst recht gegen die Mitbewerber. Und selbstverständlich heiligt der Zweck die Mittel.

04 Jun

Historischer Roman II – Blatt # 181 – Leseprobe

Kennt denn das Schicksal überhaupt keine Gnade?

Der kommende Morgen in Augusta Treverorum müsste von einem Augenzeugen aufgeschrieben werden. Aber da ist kein solcher. So wird auch dieser Tag bald in Vergessenheit versunken sein, genau wie die Ruinen aus besseren Tagen hier an der behäbig dahin fließenden Mosella.

In aller Frühe entrollt ein des Schreibens kundiger Franke das schnell aufgeschriebene Urteil: Wegen Auflehnung gegen das Königsheil muss die fremde Frau aus Yrrlanth sterben. Am Galgen. Als Somythall der Richterspruch vorgelesen wird, ist im ehemaligen Amphitheater schon der Galgen aufgebaut.

„Nein, nein!“ schreit sie. Aber ihre Stimme versagt ihr. So ist es eher ein Röscheln, das ihr entfährt. Von zwei starken Wächtern wird sie kurzerhand aus dem Keller ans Tageslicht getragen. Sie wehrt sich mit Händen und Füßen. Die sind aber stramm gefesselt. Ein Zucken ihres Körpers ist alles, was ihr so gelingt. Tränen, nichts als Tränen der Wut und der Verzweiflung lassen alles vor ihren Augen verschwimmen. Schon liegt sie in einem klobigen Wagen, gezogen von einem alten Ochsen. In seinen großen Augen spiegeln sich die geschäftigen Männer, die stumm ihre Befehle ausführen. Sie kennen die Frau nicht. Ihre Geschichte und ihre Botschaft sagen ihnen nichts. Yrrlanth? Was will die denn überhaupt hier bei uns? Peitschenknall, der Karren setzt sich in Bewegung, das Tier trottet die gepflasterte Straße hinab, vorbei an den baufälligen Thermen, die niemand mehr besucht, vorbei an dem ehemaligen östlichen Tor, das kaum mehr als Tor erkennbar ist. Ein Steinbruch jetzt, mehr nicht. Bauern auf dem Weg zu ihren Feldern

sehen das Gefährt, die nebenher laufende Eskorte, aber die Frau darin sehen sie nicht. Das Poltern allein ist ihnen ein vertrauter Lärm. Da wird wohl etwas transportiert. Wegen der Wächter könnten sie Fragen stellen. Doch lieber nicht. Jetzt, wo der fränkische König ermordet ist, muss man besonders vorsichtig sein. Schnell hängen sie einem ein Schild um den Hals: Handlager der Meuchelmörder.

Auf den mit Unkraut übersäten Stufen des Amphitheaters sitzen blöd vor sich hin glotzend die Bettler, die vom Hämmern der Tischler aufgeweckt worden sind. Ein Galgen? Wer soll da gehängt werden? Hin und her gerissen zwischen dem Hunger auf etwas Essbares und der Neugierde auf das bevorstehende Spektakel haben sie sich für zweiteres entschieden. Der knurrende Magen protestiert.

Da kommt auch schon der Ochsenkarren angepoltert, flankiert von schwer atmenden Wächtern. Oho, oho! Brr! Was? Wen hat’s diesmal erwischt? Frongur, der gewählte Anführer der Bettler hier im Amphitheater, wird gleich vor geschickt:

„Geh, frag, wer sie ist, was sie verbrochen hat!“

Die Wächter schubsen ihn sehr unsanft zurück.

„He, du, pass auf, sonst bist du der nächste, der da hängt!“ Grölend verjagen sie mit Tritten Frongur, der gar nicht erst protestiert.

„Die Fremde gehört zu den Verschwörern des Königsmords, das geht euch gar nichts an, hau ab!“

Die Bettler hören alles mit. Schon beginnen sie zu tuscheln. Sie machen lange Hälse, nur ja nichts verpassen – von der Mörderin!

Somythalls Tränen sind versiegt. Wie eine Tote lässt sie sich aus dem Karren heben. Sie will diesen Angsthasen nicht ein Bild bieten, das die sich von einer Frau, einer zum Tode verurteilten Frau, machen. Sie will auch diese Welt, die da gerade um sie herum geistert, gar nicht mehr sehen. Mit geschlossenen Augen sieht sie sich neben Rochwyn auf dem Schiff sitzen, das sie neulich erst von Yrrlanth ins Reich der Franken gebracht hatte. Neulich. Fast ein Jahr ist es her. Und welch wunderbare Dinge ihr in dieser Zeit widerfahren waren. Fast gelingt ihr ein Lächeln dabei. Julianus. Wie sie im Tempel der Diana zusammen fanden, wie…Wie eine wacklige Statue stellen die Wächter jetzt die Frau unter den Galgen, legen ihr die Schlinge um den Hals. Das Rülpsen und Schmatzen der Bettler im Amphitheater rings um verstummt abrupt. Geiles Glotzen, sonst nichts. Der Anführer, der breitbeinig neben dem Galgen steht, verliest das Urteil. Somythall verweigert ihren Ohren das zu Hörende zu hören. Sie atmet jetzt ganz tief. Es schmerzt in der Brust. Sumila. Sumila. Das ist das Bild, das sie jetzt mit nimmt, als unter ihr der grobe Hocker weg getreten wird.

Die hungrigen Zuschauer klatschen grölend Beifall:

„Ey, ihr mutigen Krieger, das habt ihr gut gemacht, echt! Die ist hin!“

Die Wächter haben nur verächtliche Blicke für sie. Einer stellt neben dem Galgen noch ein Holzschild ab. Eingeritzt nur ein Wort: Mörderin. Als hätten sie schwere Arbeit erledigt, klettern sie dann ächzend in den Karren, in dem eben noch Somythall gelegen hat. Wieder knallt die Peitsche, wieder müht sich der alte Ochse mit dem Karren ab. Wieder kehrt die alte Ruhe im Amphitheater ein. Das ruchlose Schauspiel ist vorbei. Und die Augenzeugen taugen nichts. Sie können weder lesen, noch schreiben. Und schon beschäftigt sie Wichtigeres.

30 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 162

Europa will das Orakel des Baal in Sidon befragen.

Chandaraissa ist noch immer verwirrt: Wer waren die beiden fremden Männer? Was sollten diese Schmeicheleien?

„Europa, was meinst du zu den beiden? Meinst du, dass sie wirklich aus Phönizien gekommen sind?“

„Chandaraissa, mir gehen gerade so viele Gedanken fast gleichzeitig durch den Kopf, dass ich gar nicht sagen kann, was ich davon halten soll.“

Die beiden Freundinnen reden lange miteinander. Als sie sich ermüdet endlich trennen wollen, meldet ihnen eine der jungen Priesterinnen einen Boten, der dringende Botschaften aus Sidon habe.

„Ein Bote aus Sidon?“ Europa hat kein gutes Gefühl, als sie es hört. Aber Chandaraissa drängt sie, den Boten zu empfangen.

Fast bis zum Boden verbeugt er sich, sein langes, wallendes Haar verdeckt dabei völlig sein Gesicht. Die beiden Freundinnen können ein Lachen kaum unterdrücken.

„Nun, Bote, was führt euch zu mir?“ fragt Europa streng.

Und als dieser sich nun erhebt und die beiden Frauen unterwürfig anschaut, kommt Europa völlig überraschend die Idee, Athanama rufen zu lassen. Vielleicht kennt sie ja den Boten.

„Ich komme vom Tempel des Baal in Sidon. Das Orakel dort erwartet euch. Es habe wichtige Botschaften für euch und eure Söhne.“

Fast wie ein wirklicher Schmerz fährt es ihr da durch Mark und Bein. Sie hält die Luft an, dreht sich zu Chandaraissa und flüstert ihr ins Ohr:

„Liebe Freundin, lass schnell Athanama rufen – vielleicht kennt sie den Boten. Vielleicht ist es eine Falle!“

Die Hohepriesterin lächelt den Boten freundlich an, damit der keinen Verdacht schöpft. Mit einladender Geste wendet sie sich dann an den fremden Mann aus Sidon:

„Du musst müde und erschöpft sein – nach der langen Seereise. Folge uns doch in den innenhof, dort werde ich für dich Speisen und Getränke auftischen lassen. Dann hören wir gerne mehr von deiner Botschaft, komm!“

Breit grinsend lässt sich der Bote das nicht zweimal sagen und folgt den beiden Freundinnen zum Innenhof vor dem Tempel der großen Göttin. Unterwegs gibt Chandaraissa den neugierigen Priesterinnen leise Anweisungen, und als sie nun im Schatten eines großen Sonnensegels auf weichen Kissen Platz nehmen, bringen junge Frauen bereits große und

kleine Gefäße, Platten mit frischem Brot, Krüge zum Trinken und stellen alles vor die drei auf einem kleinen Teppich ab. Die Hohepriesterin lädt den Boten ein sich zu setzen, was der natürlich nur zu gerne tut. Wie zufällig stehen die jungen Priesterinnen hinter den dicken Säulen, die den Innenhof umgeben, und tun so, als seien sie in wichtige Gespräche mit ihren Freundinnen vertieft. Manchmal weht eine kühle Brise ihr Kichern über den Hof, es mutet völlig normal an, obwohl alle ziemlich gespannt sind, was der Bote noch alles zu sagen hat.

„Da eure Eltern verstorben und eure Brüder verschollen sind…“ lautes Tuscheln macht da die Runde zwischen den Säulen, der Bote macht eine bedeutsame Pause, um das Gesagte so richtig wirken zu lassen.

Als Europa das hört, verschlägt es ihr die Sprache: Woher weiß er das alles?

Chandaraissa legt tröstend eine Hand auf Europas Schulter, da hören die beiden aber auch schon, wie der Bote fortfährt:

„habe Baal, der große Gott von Sidon mit seiner Frau, der Göttin Astarte, ihre schützenden Hände über die Waise gelegt und über das Orakel sagen lassen:

„Europa, komm her zu uns, wir wollen dir helfen!“

Da kommt Athanama gelaufen. Sie ist nicht im Bilde, was hier gerade vor sich geht, sie kennt noch nicht den Grund, warum die Hohepriesterin sie hat rufen lassen. Aber sie erkennt sofort den Fremden, lässt es sich aber nicht anmerken. Europa winkt sie zu sich und lädt sie ein, Platz zu nehmen. Für die jungen Priesterinnen hinter den Säulen wird es ein immer spannenderer Abend; doch da erhebt sich die Hohepriesterin und ruft laut in den Hof hinein:

„Ab in eure Schlafzellen, verrichtet eure Gebete und ruht euch aus, ab!“ Dabei klatscht sie laut in die Hände. Wie eine Schar aufgeregter Gänse flattern sie in ihren wallenden Gewändern schmollend davon. Schade aber auch! Was hätte es da noch alles zu hören gegeben!

Flüsternd erzählt Chandaraissa Athanama, was der Bote gerade zu Europa gesagt hat und Athanama verrät der Hohenpriesterin, dass sie den Boten aus Sidon kennt.

Wie von einem Blitz getroffen ist Europa plötzlich wieder hellwach und hat auch schon eine Entscheidung getroffen, von der sie nicht einmal weiß, wie sie in ihr zustande gekommen sein könnte.

„Ich danke dir!“ antwortet Europa dem Boten schließlich, „Ich werde noch in dieser Woche mit meinen beiden Söhnen nach Sidon aufbrechen.“