12 Sep

Europa – Meditation # 461

Erziehungsgeschichte(n) im wohlwollenden Blick Europas (Tautologie?) – in drei Teilen.

Teil I

Am Wochenende (7./8. Sptember 2024) konnte man in der SZ einen Seiten füllenden Artikel lesen zum Thema „Internatssyndrom“ von Friederike Zoe Grasshoff (S. 43). Darin geht es – wie nicht anders zu erwarten – um die Langzeitschäden von Internatserziehung, die mit dem probaten Begriff „Internatssyndrom“ eingefangen werden sollen.

Da ich selber nicht nur Internatsschüler, sondern auch später als Lehrer und Erzieher in Internate tätig war, liegt es nahe, mit Hilfe der eigenen Erfahrungen und deren geistiger Bearbeitung nicht ganz unparteiisch darauf zu reagieren.

Lassen wir aber vorab eine kompetente Psychoanalytikerin zu Wort kommen, die in einer Langzeitstudie (2015) die These aufstellt, die Probanden legten sich nach der frühen Trennung von den Eltern eine „Überlebenspersönlichkeit“ zu, die gekennzeichnet sei von seelischer Abschottung, Depressionen, Verlustangst und Alkoholismus. Also ein ziemlich defizitäres Ergebnis einer meist ziemlich teuren Erziehungsgeschichte in meist nicht ganz unbekannten Internatsschulen. Man erspare mir, Namen zu nennen (nicht zuletzt um indirekte Werbung zu vermeiden!) – gibt es doch illustre Beispiele in Neu England, Kalifornien, Great Britain, Frankreich, BRD und der Schweiz zuhauf – also europaweit und in Übersee, was im Folgenden (Teil II und Teil III) noch eine wichtige Rolle spielen wird, wenn es um die Reformbewegung der Zisterzienser in eben diesem Europa gehen wird, sowie um die Beginenhöfe und Ignatius von Loyola, als Beispiele für Erziehungsgeschichten in patriarchalisch-christlichen Bevormundungsgestus.

Mit dem Totschlag-Begriff „Syndrom“ – gekoppelt mit dem Reizwort „Internat“ und der Folie einer Idealisierung der bürgerlichen Kleinfamilie – sind die argumentativen Fronten schnell geklärt: Hier das traditionelle Bild der anheimelnde Wärme daheim, dort die allein gelassene Kreatur in liebloser Dressurumgebung und Kälte. So entsteht ein recht bescheidenes Schwarz-Weiß-Bild, das allerdings in vorauseilendem Gehorsam gut gepflegte Vorurteile bedient; auch eine klammheimliche Schadenfreude könnte sicher bei genauerem Hinsehen ausgemacht werden: Siehste, das haben sie nun davon, die reichen Leute: kaputte Kinder, die zum Abi durchgefüttert werden, mit lauter gefakten Noten, klar. Dazu korrupte Lehrer, korrupte Bezirksregierungen.

Allein schon diese geballte Ladung an missgünstigen Zuweisungen sollte stutzig machen: Werden da nicht eigene Versagensgeschichten und Leichen im Keller der abzuzahlenden Doppelhaushälfte und die erkaltete Zweisamkeit, samt Überforderung in Sachen Kindererziehung wild entschlossen ausgeblendet? Liegt da vielleicht sogar das virtuell in Dauerschleife vorgeführte Mann-Bild hinter zugezogenen Vorhängen längst in Scherben?

Also – wie stets und überall – eine schwer zu durchschauende Gemengelage, die jeweils nach Vorverständnis und Interessenlage so oder so zu Buche schlägt. Im SZ – Artikel jedenfalls dominieren bei weitem die negativen Konnotationen, die nur das zu bestätigen scheinen, was man ja sowie so schon längst wusste: Internate sind untaugliche Reparaturwerkstätten vor dem Hintergrund erzieherischer Ratlosigkeit in Kreisen der Besser Verdienenden.

Dem soll im Folgenden in weit ausholendem Diskurs behutsam widersprochen werden: Denn das Modell eines kleinen Gemeinwesens, das sich von dem städtischen Trubel des geschäftigen Bürgertums – sozialisiert in kleinbürgerlicher, privater Familienstruktur – in die Wildnis zurückzieht, um dort ungestört Zeit zu haben für Wissen und Selbstfindung, und möglichst autark das zum Überleben Notwendige selbstständig erzeugt und gleichmäßig verteilt, hat ebenfalls eine lange Tradition und sehr erfolgreiche Ergebnisse erzeugen können.

Dazu in Teil II und Teil III die entsprechenden Exkurse in die Erziehungsgeschichte(n) Europas in der Neuzeit. So viel lässt sich aber schon an dieser Stelle sagen: Die in dem Artikel in SZ dominierende Thesen zum sogenannten „Internatssyndrom“ werden bei genauerer Betrachtung in sich zusammenfallen.

06 Sep

Autobiographische Blätter – Leseprobe (AbB – Dekameron # 83)

Lordum und Lukimeeló auf ihrer Pilgerreise durch Pentagonien

Noch schwer vom warmen Regenguss tropft es plätschernd von den glänzend grünen großen Blättern herab auf den moosnassen Boden. Über den weiten Wald schweben feine Nebelschwaden – mal lang und schmal, fast wie riesige Schlangen, mal üppig prall wie kleine Sahnegebirge – garniert von vorsichtigen Vogelstimmen, die nach dem heftigen Donnergrollen ihre eigenen Melodien ausprobieren. Wie beim Stimmen der Instrumente im Konzertsaal so schwillt auch hier am Rande der weiten Savanne ein Töne Proben an und ab, als stünde der Beginn einer großen sinfonischen Dichtung an. Aber das abendliche Naturschauspiel ist ein viel größeres, schöneres als jedes menschengemachte je gewesen ist oder je sein könnte.

Es sei denn, sie besteigen nacheinander die fünf sanften Anhöhen Pentagoniens, so wie Lordum und Lukimeeló es gerade vorhaben. Hand in Hand schlendern sie den sacht ansteigenden Pfad des ersten Hügels hinauf. Barfuß. Vorsichtig weichen sie den groben Steinen aus, die immer wieder aus dem sonst sandfesten Weg herausragen. Immer wieder blicken sie zurück.

„Sind das nicht satte Farben?“ fragt ganz begeistert Lukimeeló. Ein Kribbeln läuft Lordum über die Haut. Denn das farbenprächtige Bild betrachtend gerät auch sein Blut in Wallung – und das nicht nur wegen des Wanderns bergauf. Sie bleiben unvermittelt stehen. Mit den Schultern aneinander gelehnt genießen sie die Buntheit des duftenden Augenblicks und ihre wärmende Nähe. Lordum weiß gar nicht, was er auf ihre Frage antworten soll. So bedeckt er einfach ihre einladenden Lippen mit einem Kuss, an dem sie sich lange festhalten. Lukimeeló hat ihre Augen geschlossen, Lordum schaut sie staunend an. Ist diese Wanderung vielleicht doch nur ein Traum, gibt es Pentagonien vielleicht gar nicht? Er atmet tief durch. Ja, sie sind auf dem Weg nach Sirotilk, dem ersten der fünf Hügel, denn Berge kann man sie eigentlich doch nicht nennen. Sie wirken von weitem eher wie weiche Bäuche oder wohlgeformte Brüste, die die Natur einfach spielerisch aus sich heraus geformt hat. Aber schon von der geringen Höhe, von der sie das weite Land insgesamt überblicken können, erscheint das ganze wie ein bescheidener Archipel: statt Wassermassen umgeben grüne Wälderwogen die fünf Insel. Vielleicht sollten es ursprünglich einmal Vulkane werden, die dann aber beim Wachsen eingeschlafen sind. Ein Lächeln huscht über ihre Gesichter. Während Lukimeeló wollüstig den langen Kuss genießt, steigt in Lordum wie eine unaufhaltbare Flut sein Begehren auf. Mit einem Seufzer löst er sich abrupt von ihren Lippen und ihrem Körper.

„Komm, von ganz oben ist der Blick sicher noch viel schöner“, sagt er leise. Und nimmt ihre Hand und zieht sie hinter sich her. Lukimeeló hätte zwar gerne noch länger den Kuss genossen, aber an seiner Hand weiter hinauf zu steigen, gefällt ihr auch. Ihre Schatten gehen wankend vor ihnen her, das weiche Abendsonnenlicht streichelt nicht nur ihre Rücken, sondern auch die vom Regen immer noch nass glänzenden Sträucher, Gräser, Disteln und Bergblumen. Alles erscheint ihnen unwirklich wirklich, die Ränder der Blätter wie mit starkem Pinsel fixiert, die abziehenden Wolkentürme wie weiße Plumeaus, die fluffig „Dreimal darfst du raten“ spielen „wer bin ich?“ Dabei ändern sie in eleganten Wendungen ihre Fülle wie leichtfüßige Seiltänzer über einem endlosen Abgrund.

Bald schon haben sie das kleine Plateau erreicht, das den Hügel krönt. Weit und breit keine Menschenseele, selbst der Gesang der Vogelstimmen ist von hier oben kaum mehr zu hören. Als wären sie in eine andere Welt gewandert. Aus ihren rund geformten Lippen stoßen sie ruckartig ihren Atem aus.

„Hier ist gut sein…“, beginnt Lordum, aber Lukimeeló kennt den Text allzu gut und unterbricht ihn laut lachend:

„Ja, ja, schon gut! Wir müssen gar keine Hütte bauen, wir können auch unter freiem Himmel hier übernachten – oder?“

Lordum ist sprachlos. Glücklich. Erleichtert. Sie will es also auch. Die Sonne wandelt sich in großer Pose in eine rote Feuerkugel.

„Wir haben den ersten Gipfel erreicht.“ „Noch nicht ganz!“ erwidert schmunzelnd Lukimeeló.

23 Aug

Europa – Meditation # 460

„Nur wer hoch steht, kann auch tief fallen.“

Es beginnt mit einem großen Fest einer illustren Gesellschaft. Man feiert einen großen Sieg in einem großen Prozess – dabei ging es um sehr viel Geld. Nun soll dem Gott Pluto gehuldigt werden, denn der stand wohl auf ihrer Seite – mit Wein, Weib und Gesang. So machen das die scheinbar Großen dieses kleinen Planeten schon eh und je. Möglichst ohne Zaungäste – also am besten dann wohl vor der Küste auf See vor Anker, in einem Juwel von Segelschiff.

Und dann sinken alle in den weichen Armen von Morpheus, dem Gott der Träume, in einen erlösenden Schlaf. Kopf und Bauch arbeiten währenddessen weiter an den Altlasten des ausschweifenden Gastmahls an Bord. Drumherum zunehmend schwere See vor Morgengrauen. Als wäre es ein mythisches Bild zeitloser Hybris der Sterblichen, die sich bei solchen Gelegenheit schier unsterblich wähnen.

Aber die Natur, die Herrin im Haus der Menschen, ist eine strenge Lehrmeisterin. Während die schlecht Schlafenden auf ihrer Prachtyacht auch noch schlecht träumen und sich in ihren Kojen hin und her wälzen, sind auch die Wachposten oben an Deck nicht auf dem Laufenden. Sie haben keine Lust auf Dienst – zumal die Bezahlung äußerst mäßig ist – sollen die doch ihren Mist selber machen. Und schon hat auch sie der schmunzelnden Morpheus in seinen Armen.

Poseidon aber, der zornige Meeresgott, der nicht nur den listenreichen Odysseus zehn Jahre vor sich her trieb, hat es längst satt, die Verschmutzung seiner heiligen Gewässer länger tatenlos mitansehen zu müssen – Öl, Plastik, riesige Netze, Wracks mit gefährlicher Ladung an Bord, die Abfälle dieser grotesk großen Vergnügungsluxusliner, die Liste könnte er noch lange verlängern – er hat sich mit längst mit Vulcanus verabredet: beide wollen dafür sorgen, dass die Menschen wieder in ihre Grenzen gewiesen werden: Tsunamis, Überschwemmungen, Wirbelstürme, Erdbeben und Vulkanausbrüche wollen sie als Mittel einsetzen, die übermütigen Naturzerstörer in ihre Schranken zu weisen.

So könnten sie, wenn sie ihren Verstand sinnvoll einsetzten, an diesem Unglück, das sich da vor der Küste von Palermo nachts ereignete, ablesen, wer sie sind und was sie dürfen und eben auch, was sie alles nicht können, diese dummen alles besser Wisser, die sie sind!

Erschrocken könnten sie an diesem Beispiel nicht nur sehen, dass der, der hoch steht, auch tief fallen kann, sondern dass jeder zu jedem Zeitpunkt vor der Natur ein hilfloser Zwerg ist, der nur im Bewusstsein seiner eigenen Hinfälligkeit achtsam und vorsichtig mit sich und seiner Umgebung umgehen sollte, damit er den achtlosen Zufällen mit Würde und Einverständnis begegnen kann.

Also keine Häme, kein Hohn, keine Schadenfreude – wo auch immer wir stehen, wir sind und bleiben uns so unendlich ähnlich in unseren Ängsten, Sehnsüchten und Träumen. Und jeder Augenblick kann für jeden der letzte sein – oben, unten oder in der Mitte; das spielt absolut keine Rolle. Sind es doch alles nichts anderes als Rollen in einem Theaterstück, dessen Skript nicht in unseren Hand liegt und dessen Ausgang ebenso nicht. Solch ein Unglück sollte jeden von uns daran erinnern, dass es immer eine Katastrophe ist, wem auch immer es geschieht. Und auch sollten wir keine Gaffer sein, die ihre Sensationsgier an solch einem Ereignis kühlen wollen. Vielmehr sollten wir immer glücklich sein, wenn uns andere spontan in unserer Not zu Hilfe eilen