25 Apr

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 160

Ein großes Feuer für den Minos von Kreta.

„Vater, Vater, hast du es schon gehört? Der Minos von Kreta ist gestorben!“ Tochter Athena ist es, die es in die Runde ruft. Die Familie sitzt mal wieder gelangweilt auf dem Olymp in ihren Ohrensesseln und schlürfen ihr Nektar und Ambrosia. Zeus, der gerade dabei ist, nach dem üppigen Essen erschöpft wegzudämmern, fährt erschrocken hoch:

„Was hast du gerade gesagt, Tochter?“

„Der Minos von Kreta, Archaikos, ist tot.“

„Ja und? Die Sterblichen pflegen nun mal eben auch zu sterben.“

Zeus findet seinen spontanen Beitrag richtig klug und weise – und so denkt er gleichzeitig selbstzufrieden: Da habe ich meiner dreimal klugen Tochter mal wieder zeigen können, warum ich hier oben der Obergott bin. Ein unterdrücktes Prusten geht durch den sonnenhellen Palastraum.

„Warst du da nicht erst neulich mit deinen zwei tollen Brüdern?“ hakt Athena nach.

Zeus antwortet zuerst einmal nicht. Natürlich hat er diesen letzten und erfolglosen Besuch auf Kreta noch bestens in Erinnerung, natürlich. Und gleich hat er auch wieder schlechte Laune, aber er will sich nichts anmerken lassen, seine Tochter darf auf gar keinen Fall dahinter kommen, dass er neulich erst eine Affäre mit dieser phönizischen Prinzessin Europa hatte und die ihn…Schnell lenkt er seine Gedanken auf andere Themen, zu tief sitzt noch der gekränkte Männerstolz in seinen Adern, zu tief.

Später – Hera, seine eifersüchtige Gemahlin, kümmert sich gerade um die Zusammensetzung der Speisefolgen für das Festessen, das bald auf dem Olymp stattfinden soll – sitzt er mit Poseidon und Hades in der Olympia-Bar. Er will sie überreden, mit ihm zusammen noch einmal nach Kreta – und selbstverständlich inkognito – zu reisen, um an der Trauerfeier teilzunehmen. Denn jetzt, wo diese miese Europa Witwe ist – von wem wohl die Zwillinge sind? Zeus will es gar nicht wissen – jetzt ist die Situation sicher günstig, ihr ordentlich zu schaden. Zeus will gar nicht mehr an die Abfuhr erinnert werden, die ihm Hades verabreicht hat. Als wenn ein schönes Erdbeben samt üppiger Flutwelle so eine große Sache wär!

Als hätten auch die Götter Trauerkleider angezogen, denkt Chandaraissa, die Hohepriesterin, als sie jetzt vor dem großen Scheiterhaufen steht, den sie gleich entzünden muss, denn die tief hängenden, grauschwarzen Wolken dämpfen das Tageslicht, als stünde die große Trauergemeinde in einem unterirdischen Gewölbe, dem Licht ein Fremdwort ist.

Von nah und fern sind sie gekommen, die Kreter, um von ihrem Minos Abschied zu nehmen. Das große Oval vor dem Palast ist eine einzige schwarze Woge, die langsam hin und her schwankt und aus der der eintönige Singsang des Trauerchors quillt wie ein lähmender Dauerton unsäglicher Schmerzen, noch und noch. Und auf einem großen Holzgerüst stehen die alten Ratsherren und vor ihnen in der Mitte Europa mit ihren Zwillingssöhnen.

Und gleich neben dem Gerüst haben sich unter die Trauernden auch drei Gestalten gemischt, die ihre schwarzen Kapuzen weit über die Stirn in ihre Gesichter gezogen haben – es scheinen drei Brüder zu sein, die auch pflichtbewusst mit seufzen und stöhnen, die aber niemand zu kennen scheint. Fremde eben.

Jetzt hebt Europa eine Hand und nach und nach verebben die Trauergesänge. Sie ist jetzt die mächtigste Frau auf der Insel, Vormund der beiden Nachfolger und gehasst von den Ratsherren, die sich übergangen fühlen.

Die drei fremden Gestalten tuscheln leise mit einander:

„Was wird sie denn noch zu sagen haben, jetzt?“

„Sie will doch nur zeigen, dass sie jetzt das Sagen hat!“

„Also, mir kommt sie so vor wie eine trauernde Ehefrau, was sie ja auch ist!“

In die nun sich schleichend ausbreitende Stille fahren als erstes tiefe Fanfarentöne – sie gehen durch Mark und Bein. Viele weinen in aller Stille. Dann ist Europas Stimme – fest und klar – zu hören:

„Mitbürger, Trauernde, Kreter!

Unser Minos ist von uns gegangen. Er geht zu den Vätern, Vorvätern. Er hat Kreta groß und mächtig gemacht. Er gibt uns Zuversicht für die Zukunft. Auch den Göttern und der großen Göttin fühlte er sich stets verpflichtet. Wir wünschen ihm eine glückliche Fahrt hinüber in die andere Welt!“

Nun lässt sich die Hohepriesterin ihre Fackel anzünden, dann dreht sie sich zu dem hohen Katafalk um und entzündet ihn. Gleich jagen spitzzüngige Flammen durchs dicke Gebälk, Rauch steigt auf, hüllt für einen Augenblick den oben aufgebahrten Körper des Minos völlig ein, dann züngeln die Flammen hoch zu ihm erfassen die Leichentücher, mit denen Archaikos umwickelt ist, setzen sie wild in Flammen, fressen sie auf. Bald ist der der große Scheiterhaufen ein einziger, glühender Feuerball, aus dem der Minos aufsteigt wie ein lichter Vogel, der mit seinem durchsichtigen Federwerk federleicht im düsteren Wolkengebirge davonfliegt, schneller und schneller, weiter und weiter.

Wie eine wärmende Flut legt sich nun die Hitze des großen Feuerwerks auf die Trauernden, die jetzt wieder mit ihren monotonen Gesängen hin und her wiegen, als wären sie ein verblühtes und verkohltes Ährenfeld, das in einer sanften Brise wellenartig hin und her zu wogen scheint.

Hinterher, als sich nach und nach die schwarz gewandeten Menschen heimwärts wenden, mischen sich die drei fremden Gestalten unter die tuschelnden alten Ratsherren, denn Zeus möchte unbedingt wissen, was diese Greise vorhaben, um Europa und ihren Söhnen zu schaden, sie vielleicht sogar ganz aus dem Weg zu räumen – denn das wäre dann ja ganz in seinem Sinne – als erfolgreiches Ende eines so stümperhaft geführten Rachefeldzugs.

23 Apr

Europa – Meditation # 390

Europäer, wie sie in ihren blinden Spiegel starren.

Systole und Diastole, zwei Begriffe, die auch Goethe, der Dichter mit dem klassisch-globalen Blick, gern benutzte, um Prozesse nicht nur in der Natur anschaulich zu beschreiben – auch die Weltgeschichte ist mit diesen beiden Begriffen gut bedient, könnte vielleicht sogar zu einem neuen Narrativ taugen:

Was, wenn wir Europäer rückblickend die letzten 400 Jahre als einen systolischen Moment begriffen, in dem wir meinen konnten – wie mit einem nachhaltigen Einatmen – weltweit alles Fremde zu inhalieren, um es europäischen materiellen genauso wie ideellen Maßstäben unterzuordnen und auszubeuten, so lange der Vorrat reicht?

Und wie dieser Moment „natürlich“ zu einem selbstverständlichen geschichtlichen Geschehen – aus Sicht der Europäer – werden musste, dem dabei völlig, aber gerne entgangen ist, wie zufällig, einseitig, verlogen und kurzfristig diese Seh- und Erzählweise ist: Sie diente und dient lediglich dazu, die gewaltsame und unerbittliche Weltaneignung als Akt aufklärerischer, uneigennütziger und humaner Begegnung zu kaschieren.

So segelten – lange vor der Erfindung der Dampfmaschine – die großen Schiffe der Portugiesen, Franzosen und später noch mehr die der Engländer auf der bald – wie auf einer nassen Autobahn – als natürlicher Verkehrsweg ausgebauten Strecke hin und her und kamen stets reich beladen zurück. Mit Geschichten als Dekoration drum herum, die von lauter maritimen und missionarischen Wohltaten künden mussten. Kolonialwarenläden schossen aus dem Boden. Was für ein hübsches Wort aber auch!

The european and later the american way of life galt als unverwüstlicher und vorbildlicher Gesellschafts- und Weltentwurf – war aber nichts anderes als die selbstgefällige Haltung von knallharten Händlern, die Kasse mit fremden Rohstoffen und billigsten Arbeitskräften machen wollten. So selbstverständlich war den Europäern (und ihre nach Übersee ausgewanderten verarmten und fast verhungerten Auswanderer Generationen) ihr stolzer Blick in den Spiegel, dass ihnen dabei völlig entging, wie trüb, stumpf und schemenhaft das Bild längst geworden war, das natürlich auch in allen Schulbüchern als unwiderstehlich propagiert wurde – und wird.

Was aber nun, wenn nach diesem kurzen Moment der europäischen Systole jetzt im Windschatten der Diastole auf Europa ein Sog von jenseits des gesprungenen Spiegels auf die vergreisten Europäer und Amerikaner zukäme, der zu Lande wie zu Wasser in Siebenmeilenstiefeln und in seidenen Socken genauso unerbittlich und felsenfest von sich und seiner Botschaft überzeugt (wie „gestern“ noch die Europäer) bestehende Absatzmärkte mit clandestiner Gewalt zu übernehmen beginnt? In eleganter Geste vorgetragen und in einer Sprache, die kein Europäer versteht. Ein neues Narrativ, das einfach anstelle des bisherigen treten will und wird, weil es all das mitzubringen scheint, was dem verkalkten Westen abhanden gekommen ist: Eine neue Weltbotschaft, eine neue Seinsweise, eine neue Arbeits- und Gemeinschaftswelt, die aus schierer Quantität in eine völlig neue Weltqualität umschlagen wird – überwölbt von einem Bild einer anziehenden „Mitte“, die wie eine Zentrifuge alles drum herum zu sich hin völlig neu ordnet und unterordnet. Ein Sog eben. (Oder ein Tsunami ohne Wasser?) Für die nächsten 400 Jahre oder länger – oder zwischendrin erscheint als nachhaltige Störung von Systole und Diastole auf dem Welt-Monitor in Großbuchstaben dummerweise: ERRORERRORERRORERRORERROR….

16 Apr

YRRLANTH – Historischer Roman II – Blatt 178 – Leseprobe

Ein Mönch muss aufschreiben, was sich zugetragen hat.

Wenn die Götter und Dämonen, die lautlos über dem ehemaligen Gallien schweben oder in den Bäumen und Quellen alter Wälder bescheiden wohnen, jetzt zu Gericht säßen, um die zu strafen, die gerade in der Palastaula zu Augusta Treverorum ein Blutbad angerichtet haben, dann müssten sich die Täter auf ein strenges Urteil gefasst machen. Da sie sich aber mehr und mehr von dem mörderischen Treiben der Menschen enttäuscht zurückziehen, maßen sich die kleinen Erdlinge an, selbst zu Gericht zu sitzen. Ob da nun der Schuldige sitzt oder nicht, ein Urteil lässt sich immer aussprechen.

Jetzt sitzt Bodebert, der kurz vor der Hochzeit mit Avelina, der Tochter des getöteten Königs, steht, flankiert von den beiden Äbten Martinus und Anselmus im Kellergewölberaum des Amtsitzes von Flavius Baracus Dicus, dem städtischen Präfekten, und starrt die nur noch spärlich mit einem groben Laken bekleidete Somythall an. Gefesselt, aber sehr aufrecht steht sie da. Sie kann es immer noch nicht fassen. Ist es doch nur ein böser Traum? Sie muss von Dämonen besessen sein, denkt der Graf gerade. Wie könnte sie sonst so unerschrocken vor ihm stehen? Die Soldaten, die im Halbkreis um sie herum stehen, glotzen sie abschätzig und gierig zugleich an. Und die beiden Äbte – mit gefalteten Händen auf dem Tisch – starren weiter unverwandt auf die von Flecken übersäte Holzplatte vor ihnen.

„Bruder Gregor, schreibt jedes Wort genau auf!“ hallt gerade Bodeberts Stimme unheilverkündend durchs Gewölbe.

Bruder Gregor zuckt zusammen, nickt eifrig. Seine Hand zittert.

„Nun, Frau, da du dich durch deine ausweichenden Antworten selbst in Verruf gebracht hast, ist deine Glaubwürdigkeit sehr in Frage gestellt. Meine beiden Beisitzer, Abt Martinus und Abt Anselmus, werden dir nun ein paar einfach Fragen stellen. Deine Antworten werden alle aufgeschrieben, damit nichts verloren geht.“

Sein Grinsen ekelt Somythall an. Sie ist gespannt, was diese beiden Äbte sie denn fragen könnten.

Abt Martinus räuspert sich und beginnt dann so:

„Im Namen des Herrn Jesus Christus fordere ich dich auf, keine Lügen auszusprechen!“

Dabei lächelt er gönnerhaft und lässt seine Hände elegant umeinander kreisen. Immer wieder.

„Warum sollte ich lügen, ich habe nichts zu verbergen und nichts Verwerfliches getan!“ antwortet Somythall sofort. Der Schreiber schaut fragend den Abt und den Grafen an: Muss ich das aufschreiben, soll sein Blick wohl sagen. Der Graf würde am liebsten jetzt kurzen Prozess machen. Diese Frau bringt ihn noch zum Wahnsinn. Aber er hat sich für die freundliche Darbietung entschieden, also muss er jetzt einfach nur weiter lächeln und nicken. Ja, schreib alles auf.

„Gut, Frau. Sag uns doch, ob du unserem Herrgott, Jesus Christus treu Gefolgschaft leistest, das würde dich in deiner Glaubwürdigkeit wachsen lassen.“

Somythall ist für einen Augenblick verwirrt. Soll sie sagen, dass sie nur ihrer Göttin verpflichtet ist oder soll sie so tun, als wäre sie getaufte Arianerin?

„Die Frage, die ich doch eigentlich beantworten soll, hat mit meinem Glauben nichts zu tun. Ich war jedenfalls zur fraglichen Zeit in der Villa Marcellina und nicht in Lutetia.“

Der Abt ist sprachlos. Mit solch einer Antwort hat er wahrlich nicht gerechnet. Aber gut. Er will es noch einmal versuchen, er will dieser fremden Frau doch nur helfen.

„Nun, Frau, wann hat dich denn der König – möge er ruhen in Christo – zuletzt gesehen?“

Na, geht doch, denkt Somythall, das ist nicht schwer zu beantworten.

„Als Duc Rochwyn aus YRRLANTH vom König in Lutetia empfangen wurde, stand ich neben dem Duc und habe den König freundlich gegrüßt.“

Der Abt gibt dem Schreiber ein Zeichen: schreib das nur ja ganz genau auf, das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt, soll das wohl heißen. Der Schreiber schwitzt, seine Feder kratzt über das Pergament, als wäre sie auf der Flucht vor einem Aasgeier.

„Bruder Anselmus, wollt ihr noch eine Frage stellen?“ wendet sich Abt Martinus an den anderen Beisitzer. Dabei streift er den Blick des Grafen dazwischen und spürt, dass der überhaupt nicht zufrieden scheint mit seiner Befragung. Bruder Anselmus nickt und legt auch gleich los:

„Weib, wäre es nicht besser gewesen, vor dem König in die Knie zu gehen und ihn nicht anzublicken – als Fremde, als Frau?“

„Nein, das hätte dem König sicher nicht gefallen.“

Alle fränkischen Männer im Raum halten den Atem an. Sie sind entsetzt.

Abt Anselmus versteht nicht, was diese fremde Frau mit ihrer Antwort sagen will. Doch bevor er nachfragen kann, mischt sich nun wieder Graf Bodebert ein:

„Schön, schön, Frau. Wir sehen, dass du dich entschlossen hast, unsere Fragen nicht ernst zu nehmen. Damit erübrigen sich natürlich weitere Fragen. Denn du hast uns so eine klare Antwort gegeben: Ich will euch nicht die Wahrheit sagen. Schreiber, versieh dieses Verhör mit dem Datum des heutigen Tages und lass es mich dann unterschreiben!“

„Halt! Mit keinem Wort habe ich gesagt, nicht die Wahrheit sagen zu wollen“, erwidert Somythall sofort. Doch der Graf – mit einem unwirschen Kopfschütteln beantwortet er die wortlose Frage des Schreibers, ob er diesen Einwurf der Frau aufschreiben soll – unterbricht sie nun recht rüde:

„Schweig, Weib! Du machst es so nur noch schlimmer. Führt sie ab! Schon morgen soll vor dem Stadtpräfekten Flavius Baracus Dicus der Prozess wegen Mitwisserschaft an der Ermordung des Königs stattfinden. Bis dahin sollten in einer peinlichen Befragung die Namen der Täter offenbar gemacht sein. Führt sie ab!“

Somythall kommen vor Wut die Tränen. Göttin, Rochwyn, Julianus – wo seid ihr denn? Ich brauche eure Hilfe, jetzt, fleht sie in ihrem Innern. Schon packen sie recht unsanft die wachhabenden Soldaten – sie sind froh, sie jetzt von nah riechen und spüren zu können – und schleppen sie aus dem düsteren Raum. Der Graf und die beiden Äbte tuscheln noch eine Weile, während der Schreiber Sand über die noch feuchten Buchstaben streut.