10 Apr

AbB – Neue Serie # 4 Wenn Wahrheit, dann in der Kunst

In der Kunst öffnet sich der Weg zur Wirklichkeit.

Manchmal.

Der Kunstgriff der banalen Wirklichkeitserklärung liegt in seiner monotonen Wiederholung. Der kleine Mensch ahmt die großen nach. Immer wieder. Schließlich signalisiert ihr Nicken: Du bist auf dem „richtigen Weg“. So wie die Vögel mit ihren Litaneien folgenschwere Resultate erzeugen, mausern sich die Erdlinge zu unbelehrbaren Besserwissern: Üben, üben, üben. Die Sinne tun dabei ihr Bestes. Lassen sich gerne betrügen. Ist so wohltuend.

Dem aber widersetzen sich die Künstler und Künstlerinnen.

Sie sorgen für Risse in der blendend bunten Wörterwand. Was aber wird dahinter sichtbar? Leere, unendliche Leere, Weite. Stille. Wie sollte man das denn in Worte fassen können, wie sollte man dem einen Sinn überstülpen können? Wie? Nur der Leierkastenmann lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er ist ein entfernter Verwandter der Künstler und Künstlerinnen. Er tut zwar so, als schaffe er Musik, aber es sind nur Lochkarten, die sich nach seinem Schwungrad fortbewegen. Auf der Stelle.

In der Musik aber wohnt die Wirklichkeit wie in einem Sommerhaus: da gefällt es ihr über die Maßen, da wohnen Freunde, da lässt sich gut tafeln und wunderbar schlafen. Und in den Träumen wird dann wahr, was so sowie so nie war. In Siebenmeilenstiefeln stapft das Leben durch das Licht und findet im übermütigen Singen Zuversicht.

„Täusche ich mich?“ fragt sie ihn.

„Natürlich“, antwortet er.

So irren die Erdlinge von Museum zu Museum und verlassen es, als hätten sie eine geheime Offenbarung erlebt.

10 Apr

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 158

Europa und Archaikos sprechen mit den Zwillingen.

Mit vielen Kissen im Rücken sitzt der Minos von Kreta in seinem breiten Bett und versucht zu lächeln. Europa, seine wunderbare Frau, und die beiden Söhne, Parsephon und Samadanthys, um ihn geschart, halb stehend, halb kniend, halb am Bettrand abgestützt, versuchen zu verstehen, was Archaikos gerade stotternd flüstert:

„Der Traum, der Traum hat mich…“ er muss heiser husten, schließt die Augen, schüttelt den Kopf, während seine Hand die von Europa sucht, zitternd.

„Schone dich, mein geliebter Mann, schone dich!“ versucht Europa tröstend beizuspringen.

„Vater, was soll geschehen, wenn es soweit ist?“ Parsephon stellt die entscheidende Frage. Erschrockene Blicke gegen hin und her. Sollen sie jetzt den Sterbenden so bedrängen? Bringen sie so nicht nur das Ende noch schneller herbei? Oder ist es doch richtig, jetzt diese Frage zu stellen? Archaikos erlöst die Verunsicherten:

„Lasst Europa euer Vormund sein, bis eure Zeit gekommen ist. Und dann…“

Wieder versagt dem Minos seine Stimme. Aber er öffnet doch erneut seine Augen, tränenschwer, und fährt dann so fort:

„Parsephon, Samadanthys – teilt euch das hohe Amt. Zu zweit werdet ihr die bösen Absichten des Rats der Alten abwehren können, zu zweit seid ihr doppelt so stark. Das wünsche ich mir.“

Die Zwillinge sind sprachlos. Zusammen? Das hat es noch nie gegeben. Sofort gehen ihnen viele Einwände durch den Kopf. Aber jetzt dem Vater widersprechen? Nein, das können sie nicht. Auch Europa ist völlig ergriffen von diesem entscheidenden Moment. Sie und Archaikos hatten oft lachend so einen Plan erwogen – schon vor Jahren – aber es blieb immer offen, wie ernst sie es denn damit nehmen würden, wenn es ansteht. Und jetzt steht es an und Archaikos hat es klar ausgesprochen: Eine Doppelspitze soll es sein.

Und schon kommt der Augenblick, den sie alle fürchten: Archaikos holt noch einmal tief Luft, wirft einen Blick in die Höhe – was sucht er da? – und sackt dann langsam in sich zusammen. Eine Atem raubende Stille erfasst Europa und ihre beiden Söhne. Tränenschwer ringen sie um Fassung. Umsonst.

„Es ist soweit.“ Europa steht als erste auf. Sie weiß, dass die nächsten Stunden für sie und die Zwilligen entscheidend sein werden.

05 Apr

Europa – Meditation # 388

Die Demütigungs- und Kränkungserzählung blüht weiter.

2023

Gerade zu Ostern, wo Friedenstexte ordentlich Konjunktur haben, passt es doch ausgezeichnet, wenn auch ein paar Brosamen für unsere Brüder und Schwestern drüben mit abfallen.

1919

Im Deutschen gibt es den Begriff D i k t a t f r i e d e n .

Schon im Begriff schlummert der Unfrieden weiter.

Beladen mit heftigen Gefühlen. Von gekränktem Stolz, von Erniedrigung, von schlimmen Lügen. Im historischen Gedächtnis bis heute sehr unterschiedlich aufbewahrt.

1990

33 Jahre ist es her – so alt war doch auch der Wanderprediger damals am Jordan, als er von Versöhnung, Frieden und Eintracht fleißig predigte – seit die getrennte Großfamilie Deutschland friedlich wieder vereint ist (dank der müden Großmächte, die für einen Moment keine Lust mehr zu haben schienen auf Vorherrschaft, alte Rechnungen und Konflikte).

Es gibt auch immer einen dritten Weg – das war 1953 so, als die Mitte Europas für einen Moment auch als neutrale Brücke zwischen dem Osten und dem Westen denkbar schien und das war auch 1989 so, als dieselbe Mitte zu einem dritten Weg hätte aufbrechen können; mit einer gemeinsam geschriebenen neuen Verfassung, in dem die besten Ideen aus zwei völlig verschiedenen Denkansätzen verschmolzen wären – jenseits der ehemaligen ideologischen Blöcke. Aber diese Wege wurden nicht beschritten. Stattdessen „trat die DDR der BRD bei“. Das Volk wurde nicht gefragt. Damit verschwanden auch die Ideen des sogenannten „Runden Tisches“ sang- und klanglos in der Versenkung.

Die Folgen dieses hastigen „Beitritts“ erleben wir bis heute. Demontage – erinnert irgendwie an die Zeit nach dem ersten und dem zweiten Weltkrieg. Die Sieger ließen demontieren. Nur sind es diesmal die Deutschen selbst, die die Deutschen demontierten. Im wahrsten Sinn des Wortes:

„Erst haben wir euch euer Land weggenommen, dann die Arbeit, schließlich die Frauen“ – klingt das nicht, als sabbere ein alter Kolonialherr über seine Erinnerungen, die ihn zwar manchmal auch plagen, die er aber auch genießt wie ein Aphrodisiakum?

So fühlten sich die anfangs euphorisierten Schwestern und Brüder wie wirkliche Schwestern und Brüder – wenigstens für ein paar Wochen – bis ihnen nach und nach dämmerte, dass sie nicht nur über den runden Tisch gezogen worden waren, sondern dass man sie – die sich 40 Jahre als klassenlose Gesellschaft versucht hatten zu fühlen – zu Menschen zweiter, dritter Klasse degradierte. Gnadenlos, gesichtslos. Die Rechtssprechung „Rückgabe vor Entschädigung“ und die neue Währung erledigten das automatisiert. Den jungen Frauen blieb nur die Abwanderung, die jungen Männer fuhren entweder unerfahren gegen Alleebäume oder flüchteten unter Mutters Rock oder unter die Flagge derer, die für massiven Gegenwind Stimmung machten und machen. Oder wurden Drogenfans. Großflächig wurde so gesellschaftliche Teilhabe oder gar Mitgestaltung verunmöglicht.

Die angekündigten „blühenden Landschaften“ sind inzwischen menschenarme Liegenschaften fremder Eigner, die nichts anderes im Sinn haben als Profitmaximierung. Ironie des Schicksals? Der ehemals als Klassenfeind nieder gesungene Bruder spielt nun selber die erste Geige, gnadenlos.

Arbeitslosigkeit und Altersarmut gehen Hand in Hand durchs alte Land, das sich nun nur noch als touristische Attraktion gewinnbringend für betuchte Fremde anbiedern darf, wenn überhaupt.

Und darunter köchelt weiter – sprachlos, wie nach Ende des Zweiten Weltkriegs schon einmal – die Demütigungs- und Kränkungssuppe: Die einen, die trotz ihrer menschenverachtenden Machenschaften mit weiß gewaschenen Westen einfach in ein neues – vorzugsweise verbeamtetes – Leben übersiedelten und nun die Rentenpolster genüsslich absitzen, die anderen, die schwer traumatisiert nicht nur nicht ihr eigenes Leben in den Griff bekommen können, sondern sich darüber hinaus auch randständig noch als Versager verständnisvoll anlächeln lassen müssen.

In der Ukraine ist Krieg.

In Deutschland nicht. Es sei denn, man bezeichnet das, was hinter den Kulissen ausgetragen wird, ebenfalls als Krieg.

Dafür gibt es bloß einen neuen D i k t a t f r i e d e n.

Hier werden die Sieger und Verlierer viel wirkungsvoller voneinander geschieden: An der Oberfläche sollen sie wie eine Einheit wirken (das ununterbrochene Unterhaltungsprogramm samt social media ist die Zauberdroge dabei), aber alles, was da drunter vor unglaublicher Zerrissenheit so lange schon lautlos schreit und schreit – da können die klerikalen Profis von den Kanzeln zu Ostern säuseln wie sie wollen – bleibt individualisiert als individuelle Abweichung von der nicht befragbaren Norm der hyperventilierenden Verbraucher. Frohe Ostern!