06 Aug

AbB – Erneute Annäherungsversuche # 6 TEIL 2

D e r Z i e g e n m a n n

T e i l 2

Inkognito – der Ziegenmensch unterwegs

Der ehemals so gut gelaunte und lebensfrohe Gott kann sich selbst kaum mehr an all die Feste erinnern, die er mit seinem Gefolge unter den Menschen aller Erdteile feierte. Es ist schon so lange her.

Nun aber ist es genug.

Zornig, mit zwei Hörnern auf der Stirn und Ziegenfüßen, zieht er ziemlich abgerockt und verloddert alleine durch die Welt. In zerfetzten Kleidern aus Ziegenmaterial. Seine ehemaligen Freunde und Gefolgsleute sind längst auf der Strecke geblieben. Und in seinen Augen blitzt Unwille ziemlich bedrohlich auf: Er hat das Gefühl, dass die Menschen, die ihm ehedem freudig opferten (Feldfrüchte noch und noch, Trauben, Blumen, Beeren), nach dem Konzept der „verbrannten Erde“ unterwegs sind und die Natur strangulieren, als gäbe es danach reichlich Ersatz. Es scheint ihnen unbändige Freude zu machen, nicht nur sich selbst, sondern auch gleich die gesamte Natur mit in den Abgrund zu reißen. Wenn er ihnen begegnet, erkennen sie ihn nicht mehr. Sie haben nur noch Zeit für sich selbst und ihre Schminke. Grotesk sehen sie aus, geliftet, wie sie das euphorisch nennen. Geliftet!

Dabei fährt ihr Lebenslift längst nicht mehr nach oben, sondern in rasendem Tempo in den Keller, die Unterwelt – früher dachten sich die Menschen, dass dort ein großes Feuer lodert, heute erfrieren sie in der Tiefe an ihrer eigenen Gefühlskälte.

Was soll er machen?

Wie könnte er sie wach rütteln?

Wie zur Umkehr bewegen?

Seit den fünfziger Jahren hat auch der Floh immer wieder die falschen Verlockungen um sich herum abwehren müssen. Trotzig und wortkarg leistete er eigensinnig Widerstand. Er verweigerte sich dem großen Konsumtanz um das goldene Kalb des „immer mehr!“ und inszenierte zum Wohlgefallen des alten Gottes ein Theaterstück nach dem anderen. Und der Glanz in den Augen der jungen Leute, die da auf der Bühne zu zaubern verstanden, und der Glanz in den Augen der Zuschauer, die sich gerne verzaubern ließen, war jedes Mal ein Augenblick phantastischer Seinsgewissheit im Jetzt, das den Verlockungen der Warenwelt ohne Not zu widerstehen wusste.

Das gefiel dem zornigen Ziegenmenschen, der da inkognito durch die Lande zog: Na also, es gibt sie also noch: die verkehrte Welt scheint nur die Norm zu sein, in Wirklichkeit lebt aber in jedem jungen Menschen immer wieder von Neuem der Wunsch nach Selbstverwirklichung im Hier und Jetzt, jenseits der toten Dinge, inmitten der fulminanten Begegnungen von Mensch zu Mensch – im Theater, im Tanz, in der Musik, in der lustvollen Vereinigung, wie die innere Natur es sich immer und immer wieder wünscht.

06 Aug

AbB – Erneute Annäherungsversuche # 6

D e r Z i e g e n m a n n

In den fünfziger Jahren tauchte in den USA angeblich ein Mischwesen aus Ziege und Mensch auf, das Jagd auf Teenager machte. (in: SZ Sa/So, 30./31. Juli 2022, Nr. 174, S. 20 – Von Florian Welle – (nach der Lektüre:)

Da war der Floh gerade mal zehn Jahre alt und mit seinen Albträumen ganz allein. Während auf der anderen Seite des atlantischen Ozeans die ehemaligen Europäer mutwillig ihrer eigenen Natur massiv in den Rücken fielen und der Massenproduktion von Waren fanatisch huldigten und sie als frohe Botschaft zurück ins darnieder liegende Europa sandten, holte der gekränkte Gott der Lebenslust zu einem Gegenschlag aus:

Er reiste nicht mehr – begleitet von wilden Musikanten, wilden Tieren, wilden Wein und wild tanzenden Mänaden – durch die Länder dieser Welt, um den Menschen eine Freude nach der anderen zu bereiten, sondern er verwandelte sich – das hatte er wohl seiner Begleitung, lauter Mischwesen, den Silenen und Satyren, abgeschaut – ebenfalls in ein furchterregendes Mischwesen aus Ziege und Mensch. Dabei begegnete er zufällig in der Neuen Welt auch Ches McCartney, der in einem alten Wagen durch die Vereinigten Staaten rumpelte; ‚gezogen wurde sein klappriges Gefährt von mehreren Ziegen und er selbst trug mit Vorliebe Kleidung aus Ziegenmaterial – ein Abtrünniger, dachte der gekränkte Gott, einer, der sich nicht verführen ließ vom patriarchalischen Gewaltsystem, von dem er als Mann ja hätte profitieren können. Eine traurige Figur in seinem Widerstand.

Warum verweigern sich die Männer und Frauen ihrer eigenen Natur?

Warum verneinen sie Lebenslust und Sinnenfreude in ihrem Sein?

Warum verneigen sie sich vor Angst, Gewalt und Unterdrückung?

Warum feiern sie nicht mehr die üppigen Angebote der Natur und fertigen stattdessen künstliche Produkte an, die sie anbeten, als wären sie es wert?

Statt Antworten erlebt der Ziegenmensch seitdem nur schrilles Geschrei, Gezappel und Gemetzel. Der Mensch, dieses so begabte und phantasievolle Wesen, hat sich selbst domestiziert und seine innere Natur, die so voller Lust auf Leben und Lieben angelegt ist, eingesperrt in einem Zwinger, der eingezäunt ist von todbringenden Gittern und keinen Toren ins Freie hinaus. Die Frauen müssen auf dem Altar dieses Götzendienstes Jahr für Jahr ihre Opfer abliefern, tränenschwer und unsagbar traurig. Warum tun sie das? Warum tanzen sie nicht mehr – wie die Mänaden – den ekstatischen Tanz ungehemmter Lebensgier?

Es sind die Männer – sie nennen sich hochnäsig Patriarchen – die diese gewaltsame, lebenslange Haftzeit allen aufzwingen, gnadenlos. Und schon so lange…zu lange!

24 Jul

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 143

Europa und Archaikos – Herrscherpaar auf Kreta (Teil 2)

Nach und nach – längst ist die Mondgöttin über der Insel emporgestiegen – kehren die Kreter in ihre kleinen Hütten und Häuser zurück oder schlendern noch am Ufer des kühlenden Meeres entlang. Es wird wenig gesprochen, denn sie sind alle noch so sehr beschäftigt mit den Bildern der Zeremonie vor dem Palast, als Europa und der Minos von Kreta in ihren bunt glänzenden Gewändern vor der Hohepriesterin Chandaraissa in die Knie gingen.

Gleichzeitig hocken unsere drei olympischen Brüder in ihrer Bar auf dem Olymp und starren in ihrer Gläser, gefüllt mit Nektar und Ambrosia. Und was sonst ein berauschender Wohlgeschmack zu sein pflegte, ist ihnen nun ziemlich schal auf der Zunge.

„Papa, schmeckt dir etwa unser Cocktail nicht mehr?“ fragt Athene, Zeus‘ Tochter, etwa spitz in die traurige Männerrunde. Die verdrehen nur die Augen. Poseidon und Hades wissen natürlich genau, dass ihr Bruder gerade den nächsten Plan ausheckt, um diese eitle Europa zu Fall zu bringen. Jetzt auch noch Frau des Minos von Kreta! Unglaublich! Da kommt Göttervater Zeus auch schon die rettende Idee. Hephaistos soll es richten: Wie wäre es mit einer olympischen, unterirdischen Feuersbrunst, die sich als gewaltiger Vulkanausbruch auf dem Meeresboden breit macht und mit einer ungeheuren Welle einfach diese übermütigen Inselbewohner von Kreta wegspült?

Als die beiden Brüder plötzlich das breite Grinsen auf dem Gesicht von Zeus bemerken, ist auch ihnen gleich klar, dass jetzt die große Abrechnung bevorsteht. Schließlich waren ja alle bisherigen Versuche peinlichst gescheitert.

Im Palast liegen Europa und Archaikos weich gebettet im weiträumigen Schlafraum des Minos und geben sich voller Leidenschaft ihrer Lust hin. Aber nicht nur sie lassen sich in hingebungsvoller Sinnlichkeit völlig gehen, sondern auch am Strand und in den Hütten und kleinen Häusern und in den Höhlen oberhalb der Stadt will der Sinnenrausch einfach kein Ende finden. Denn die fast schon vergessene Botschaft vom Glück hat an diesem Freudentag einfach alle Gitter um die eingesperrten Sehnsüchte niedergerissen. Die Natur feiert überschwänglich sich und ihre Geschöpfe in einem Fest aller Sinne. Angstrei, schuldlos, weg von jedweder Gewalt und Unsicherheit. Als wären Frauen und Männer immer schon zu nichts anderem geboren worden, als sich und das Chaos der überbordenden Natur unablässig zu besingen und in wildem Tanz zu gestalten, als wären Zeit und Raum nur kleine Kieselsteine am endlosen Ufer des Kosmos.