17 Jul

Europa – Meditation # 351

Das Fluchtmodell der Lemminge

So wie die Selbstmordtheorie in Sachen Fluchtverhalten der Lemminge längst als falsch widerlegt ist, so ein-Tags-Fliegen-Tango-haft schlingern in Dauerschleife Katastrophen-Szenarien durch die Cloud bis in die Video-Spiele, auf dass sich der homo sapiens sapiens ordentlich gruseln möge – aber ansonsten weiter macht wie bisher: konsumieren bis zum Anschlag, mehr verdienen bis zum Umfallen und weiter fliegen bis ins Weltall.

Unser Kurzzeitgedächtnis ist jedenfalls nach wie vor bemüht, die Überfülle an Weltuntergangsstimmungen weich zu kochen und als überflüssiger Sud wegzuschütten – im Sekundentakt. Selbst wenn so jemand wie Jared Diamond – seines Zeichens Evolutionsbiologe – ein statement raus lässt wie:

„Wir leben in der krisenhaftesten Zeit aller Zeiten“

sind wir Konsumenten höchstens leicht amused ob solcher Superlative, an die wir uns doch längst als basso continuo der Werbesprache gewöhnt haben.

Dann wechseln wir die Seite und schauen uns staunend den Krater vom Nördlingen Ries an, wo vor ungefähr 15 Millionen Jahren ein Asteroid eingeschlagen war. Oder bestaunen mit unseren Kleinen in Kinderbüchern dramatische Bilder an über das Dinosaurier-Sterben, als sich die Welt für lange verdunkelte.

Ansonsten stürmen wir – als Entschuldigung gilt praktischerweise die Pandemie mit ihren Strangulierungen – die Abfertigungshallen der Flughäfen, ertragen stoisch oder cholerisch nie gesehene Warteschlangen und sind so was von gelassen, dass wir glatt das Gepäck zurücklassen, wenn wir es nur noch in den Flieger schaffen.

Oder fahren in Gluthitze Tausende von Kilometern in die Waldbrand-hot-spots, um auch möglichst dramatische Filmchen posten zu können, wie nahe man der nächsten Katastrophe mal wieder ein Schnippchen geschlagen hat.

Wir sind eben unverwüstliche Tagträumer, die die Klimakrise, CO²-ausstoß und Vermüllung der Meere genauso analytisch wegdiskutieren können wie den Krieg – wo auch immer er gerade stattfindet: Drogenkrieg, Religionskrieg, Resourcenkrieg, Hegemonie-Krieg. Immer sehen wir uns selbst dann eher als zeitgenössische und kritische Betrachter, aber nicht als willfährige Täter. Und voll empathisch natürlich.

Dadurch ist es uns ja auch möglich, weiter nach Dienstplan unseren Alltag und unsere Freizeit zu gestalten, als wären Daten eben nur Daten und nicht bloß Zahlen für eine dummdreiste Zerstörungswut von Milliarden von Egos, die lediglich ihr eigenes Fortkommen im Auge haben. Lemminge eben.

11 Jul

Europa – Meditation # 350

Kommt Krieg auf leisen Sohlen – oder mit Pauken und Trompeten?

Krieg und Frieden. Jede Generation kann sich da die widersprüchlichsten Geschichten erzählen, immer steht man selbst auf der Seite der Guten, die anderen sind meistens die Bösen – schon immer. Hab ich doch gewusst. Sag ich doch schon immer.

Rückblickend zeigt sich in Europa jedoch ein eigenartiges „Phänomen“: im Nachhinein pflegen die Zeitgenossen zu sagen: „Da hat doch keiner mit gerechnet, das kam für uns wie aus heiterstem Himmel.“

Wenn man allerdings genauer auf dieses „das“ schaut, dann war in allen nationalen, wie internationalen Krisen die Zeit vor dem Kriegsausbruch sehr wohl als Pulverfass zu erkennen.

Das war 1870 so – die Emser Depesche ist da nur der letzte Tropfen auf einem heißen Stein. Es war keine Überraschung. Im Nachhinein – wohl vor allem um die eigene Position rein zu waschen – ist es der „Feind“, der provoziert hat.

Das war 1914 so – das Attentat von Sarajewo ist da nur der vorletzte Tropfen auf den heißen Stein. Es war überhaupt keine Überraschung. Die Option Krieg war nicht nur in den Medien weit vor 1914 sehr gesellschaftsfähig.

Das war 1939 so – die Sudetenkrise ist da nur einer der vielen Tropfen auf einem glühenden Stein. Der Überfall auf Polen reißt die Sommergäste an Ost- und Nordsee zwar aus Revanche-Phantasien für 1918 unsanft heraus, aber das Kriegsvokabular war nicht nur in den Medien en vogue.

Das war 1992 so – die Serben in Belgrad schütten da nur einen weiteren Tropfen auf den heißen Stein. Selbst für die UN ist der Krieg in Bosnien-Herzogowina keine Überraschung und der Sebrenica-Genocid im Kriegsgeschrei schon fast herauszuhören.

Das war 2001 so – als die Amerikaner in Afghanistan eine sogenannte „Intervention“ anführen, um den Islamismus „an der Wurzel“ zu bekämpfen und westliche politische Werte zu importieren. (Wie nannte Putin seine Intervention in der Ukraine? „Militärische Spezial-Operation“) – seit 2014 brodelte da schon der Konflikt zwischen Kiew und Moskau.

Das war 2003 so – als die Amerikaner ihre große „-Befreiungs-Kriegs-Walze“ in Gang setzen, zusammen mit einer „Koalition der Willigen“, um den Irak von einem Diktator zu erlösen und die Segnungen westlicher Demokratien einzuführen

Das ist 2022 so – als die ehemaligen Verbündeten im 2. Weltkrieg, die unversöhnlichen Gegnern im Kalten Krieg, Russland und Amerika, nach 1989 fast auf dem Weg zu Bündnispartnern, nun erneut unversöhnliche Gegner sind, für die die Option Krieg eine unter anderen ist – mit und ohne A-Waffen.

Die ideologischen Scheuklappen sollten den Zeitgenossen nicht die Augen vor der drohenden Gefahr verschließen, denn sie ist durchaus real. Also genau hinschauen und hinhören, Frieden ist harte und bewusste Arbeit!