10 Jul

Europa – Meditation # 349

„Wir erleben eine Zeitenwende“ (Olaf Scholz)

Das war im Februar, im Bundestag, also sozusagen ex cathedra diese kurze Parataxe per Mikrofon und bundesweit viral vervielfacht bescheiden in die Welt hallte und seitdem in einem Dauerton echot und echot.

Und der Olaf Scholz setzt sogar noch einen obendrauf: das bedeute,

„die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“

Was für eine Plattitüde, was für ein leer drehender Satz, was für eine selbstverständliche Erfahrung eines jeden von uns seit jeher!

Ähnlich pathetisch formulierte Sätze gab es auch 1914 „Wir sind umgeben von einer Welt von Feinden!“ und 1933 „Jetzt beginnt einen neue Epoche!“ und 1990 „Ein Geschenk der Sieger an die Besiegten“ oder 2001 „Der Kampf gegen den großen Leviathan – das Böse hat seine Fratze gezeigt“ oder auch 1949 „Wer noch einmal eine Waffe in die Hand nimmt“, hatte Franz Josef Strauß 1949 gesagt, „dem soll die Hand abfallen.“ (Später wird er dann gerne Verteidigungsminister)

Da das Chaos der Wirklichkeit – oder das, was wir dafür halten – zu schnell und zu opulent die Zeit im Dauer-Würge-Griff hält, versuchen die Erdlinge dem Augenblick trotzig Dauer zu verleihen und erfinden so ein Narrativ nach dem anderen, das es denkend ermöglichen soll, mit Hilfe aufwendiger Erzählungen und Bilder nicht nur Ordnung, Übersicht und Gewissheiten zu schaffen, sondern auch dem Tempo des Seins machtvoll in den Arm zu fallen und zum Stillstand zu zwingen. Scheinbar.

Dass aber ein ernst zu nehmender Vertreter der repräsentativen Demokratie, ein Vertreter der Exekutive, solche Leerformeln bemüht, um 100 Milliarden Euro für Aufrüstung aus dem Hut zu zaubern, macht schon zumindest nachdenklich. Oder?

Als sei ein Moment vom Himmel gefallen – wie ein Meteorit – der bisher tabuisiertes politisches Handeln sozusagen zwangsweise zwingend notwendig macht. Dem lässt sich keine Gegenrede entgegen halten, dem lässt sich nur patriotisch zustimmen:

„Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ 1914

Oh, pardon, da ist der Schreiber unversehens in die falsche Schublade geraten, hat sich mehr oder weniger um ein Jahrhundert vertan. Kann ja passieren – bei diesem Tempo – die Abwesenheit von zutreffender Wirklichkeitsbeschreibung ist aber damals wie heute nüchtern zu konstatieren.

Als mündige Bürger sollten wir uns 2022 einfach nicht mehr mit solch kindlichen Sätzchen abspeisen lassen. Putler hin, Putler her.

09 Jul

Europa – Meditation # 348

Lässt sich Vertrauen delegieren?

„Politik als Beruf“ – sind wir nicht alle Polis-tiker, also aktive Mitglieder der Polis, die sich nicht vertreten lassen müssen, weil sie direkt mitbestimmen können? ( ca. 150 – plus/minus – Menschen kann unser Gedächtnisapparat wohl speichern und abrufen, wenn er will; mehr geht nicht ((Harari)..

Das Demokratievertrauen in den Massengesellschaften bröselt, die Mitmensch-Motivation ist niedrig, und immer weniger Menschen wollen in Parteien (und maroden Kirchen) eintreten oder sich von ihnen vertreten lassen.

Denn: die Verabredung, Interessen vertrauensvoll im Sinne der Wähler zu vertreten, erweist sich als ein schlechtes Ammenmärchen, an das niemand mehr glauben will.

Zu viele dieser Vertreter – auch in Interessenverbänden – wirtschaften vor allem in ihre eigenen Taschen und Immobilien. Die Korrumpierbarkeit lässt jede moralische Kategorie ziemlich alt aussehen. Die Lüge ist der Kit, der die Kluft zwischen moralischem Anspruch und individueller Gier übertüncht. Die Parteiendemokratie ist längst an ihr unrühmliches Ende gelangt: Jovial schiebt man sich die Jobs zu und lässt sich die Altersvorsorge mit Boni anfüllen. Mündliche Absprachen – zwischen Tür und Angel – stellen dabei sicher, dass die Öffentlichkeit umsonst um Transparenz und kritische Begleitung buhlt (s. Blattner und Platini, von Infantino ganz zu schweigen – oder Krisenmanagement im Ahrtal). Aus all dem quillt nun aus allen Poren die Politik-Verdrossenheit – ein lieb gewonnener Dauerbrenner, der von den Angegriffenen gerne thematisiert wird; als wären sie die Saubermänner und die faulen Äpfel natürlich immer der politische Gegner – ein bleiernes Gefühl, das Erholung sucht im digitalen Dauerfeuer.
In den schnell gestrickten TV-Serien wird dann sowohl die Verdrossenheit des Wählers wie die Korruption der politischen Kaste unbarmherzig zu Tage gefördert – man legt den Finger in die faulende Wunde – und lässt den müden Zuschauer mit einem faden Gefühl zurück, dass der Sündenpfuhl ungestraft in seinem eigenen Gestank sich einfach weiter suhlt.

Abnehmende Wahlbeteiligung, Parteien, die sich in Flügelkämpfen selbst zerlegen und exponierte Politiker (Trump und Johnson z. B.), die ihre eigenen Lügengeschichten viral werbewirksam vermarkten, tragen Tag für Tag dazu bei, dass der vereinsamte Zeitgenosse alle Lust auf Vertrauen fahren lässt und lieber ins Zocken oder Hacken flieht, um nicht mehr die Ohren voll gepustet zu bekommen mit Wahlslogans, die leer drehen und nur Produktwerbung schlecht kopieren.

Brot und Spiele – heutzutage dann eben Hamburger, Fritten und Fußball – sind die Pseudo-Opiate des Volkes – die Kirchen mit ihren Missbrauchshintergrundgeräuschen sowieso nur noch eine traurige Lachnummer verklemmter Männer. Wie kann man da Demokratie als beste alles Staatsformen guten Gewissens noch verkaufen?

03 Jul

Europa – Meditation # 347

Ungebremstes Loblied auf die westlichen Demokratien.

In der SZ konnte man vor kurzem vor lauter euphorischer Texte kaum noch Atem holen, so wurde da gejubelt und beweihräuchert:

Der „Westen“ (die schlichten Formel-Begriffe schmeicheln der von der Pandemie gekränkten Konsumseele wie Samt und Seide) tritt energisch Putlers Regime mit allen Mitteln politisch, ökonomisch und militärisch entgegen. Wow!

„Die USA engagieren sich wieder stärker in Europa, das Militärbündnis stärkt mit vielen Soldaten die Ostflanke und wächst mit Schweden und Finnland im Norden.“

Wie eh und je: panem et circenses. Große Open-Air-Konzerte können endlich wieder stattfinden, Fress-Gassen platzen aus allen Nähten und Sport-Events unterhalten die genervten Zeitgenossen – Flüge werden gestrichen, Staus auf Straßen und Gleisen fordern Engelsgeduld. Aber wer hat die denn schon – angesichts blank liegender Anspruchshaltungen?

Da endlich wieder ein eindeutiges Feindbild fixiert werden kann – früher nannte man das sybillinisch „Sozial-Imperialismus“ – können alle Ressourcen wie selbstverständlich für Munition, Panzer, Kriegsschiffe und Bomber ausgegeben werden. Für die Gehälter-Streitereien in den helfenden Berufen ist da jetzt nun wirklich keine Zeit – also bitte!

Die Prioritäten sind doch offensichtlich: Die Demokratie – transparente Debatten von Parlamentsdebatten einerseits und clandestine Absprachen von Managern der Rüstungsindustrien andererseits, mit entsprechenden Boni – tut ihr bestes, die Wähler bei Laune zu halten. Schließlich ist doch schon die bloße Wirtschaftskraft der westlichen Demokratien so überwältigend groß, dass Kritiker nichts weiter scheinen, als schlecht gelaunte Verlierer im Konkurrenzkampf, der beweist, dass jeder, der will, nach wie vor vom Tellerwäscher zum Milliardär werden kann (die schlechten Charaktereigenschaften, die da knallhart zu Buche schlagen, können die Moralisten gerne an den Universitäten verhackstücken, vor Ort sind sie einfach die Voraussetzung für Erfolg); dass die Verlierer und Gekränkten, also die absolute Mehrheit in den westlichen Demokratien, nicht über die Runden kommen, krank werden (von den hybriden Krankheiten der Gewinner soll hier gar nicht erst gesprochen werden!) und unglücklich sind, soll nun federnd aufgefangen werden in einem Loblied auf die Solidarität der Verteidiger westlicher Werte, die entschlossen und geeint dem Bösen unerschrocken die Stirn bieten.

Nichts weiter als ein mieses Ablenkungsmanöver – insgeheim werden die Profiteure dem Putler sicher dankbar sein für seine martialische Vorlage.

Also sollen die Looser auch noch ein schlechtes Gewissen haben – denn die Galionsfiguren der westlichen Systeme sind ja solche Strahlemänner und -frauen, sie kennen nur ein Ziel, selbstlos die Demokratien zu verteidigen, als ginge es um ihren kleinen Garten, der von üblen Bonzen bedroht wird.