Lügen haben kurze Beine
„Hera! Ich bin gerade mal kurz meine Füße vertreten.“
„Sie aber bitte zeitig zurück, mein Lieber. Wir haben heute Abend Gäste, wie du hoffentlich weißt!“
Zeus verdreht die Augen und ist froh, dass er sich aus dem olympischen Mief davon schleichen kann. Gäste! Wer hatte sich denn angesagt? Er hat keine Ahnung. Er braucht dringend ungestörte Ruhe, um die nächsten Schritte in Sachen Europa und der gemeinsamen Verabredung mit seinen beiden Brüdern zu überlegen. Da kommt völlig unerwartet Athena herein geplatzt:
„Hallo, Papa, gut, dass ich dich gleich antreffe. Ich muss dringend mit dir reden.“
War wohl nichts mit Ruhe. Er kennt seine Tochter, die lässt sich nicht mit fadenscheinigen Ausreden abwimmeln. So seufzt er wohlwollend, legt seinen Arm um ihre Schulter und säuselt los:
„Athena, wie freue ich mich, dich zu sehen. Natürlich habe ich alle Zeit des Olymps für dich. Du würdest mich niemals mit Schnickschnack behelligen. Stimmt’s?“
„Natürlich nicht, Papa.“
Zeus schwant nichts Gutes. Jedenfalls möchte er auf keinen Fall, dass Hera dabei ist, wenn Athena ihr dringendes Anliegen vorträgt. Er weiß, wie klug seine Tochter ist. Die wird doch nicht etwas von seinem Feldzug gegen die aufsässigen weiblichen Erdlinge mit bekommen haben oder gar etwas von seiner so misslich verlaufenen Anmache der Europa?
„Komm, suchen wir uns ein stilles Plätzchen, wo wir ungestört reden können, ja?“
Auch bei Athena keimt ein kleines Missbehagen: So schnell und so bereit? So kennt sie ihren oft eher überforderten Vater gar nicht. Sie will auf der Haut bleiben.
In einer angenehm Schatten spendenden Grotte gleich unter dem Olymp lassen sie sich nieder. Zeus ist erleichtert: Niemand hatte sie wohl gesehen.
„Also, ich will gar nicht erst lange um den heißen Brei reden, Papa. Ich komme gerade von den Inseln. Da erzählt man sich eigenartige Sachen: Eine Prinzessin aus Phönizien sei entführt worden. Europa sei ihr Name. Über den Entführer gibt’s die tollsten Gerüchte. Andere wollen wissen, sie sei auf Kreta aufgetaucht…“
Zeus spielt den Empörten:
„Nein, also wirklich, was ist denn da unten schon wieder los?“
„Papa, jetzt tu nicht so, als wenn du nicht Bescheid wüsstest!“
„Ich? Wieso ich?“
Zeus läuft es heiß und kalt den Rücken herauf und herunter. Warum muss ich aber auch so eine vorwitzige Tochter, solch eine Kopfgeburt haben? Womit habe ich das nur verdient? Er kramt all seine schauspielerischen Möglichkeiten zusammen und schaut Athena völlig verblüfft an.
„Weißt du was, Papa, vielleicht sollten wir den Frauen da unten überhaupt mehr beistehen. Die Männer nehmen sich einfach zu viel heraus, finde ich. Würdest du mir helfen, wenn ich in die Richtung aktiv würde?“
Zeus traut seinen Ohren kaum: Seine eigene Tochter plant, ihm in den Rücken zu fallen, und will auch noch seine Hilfe dabei. Spielt sie ein doppeltes Spiel? Hades, Poseidon und er haben doch erst neulich einen feierlichen Eid geschworen (natürlich streng geheim!), alles zu tun, was hilft, die Frauen den Männern noch mehr als bisher untertan zu machen – als Rache für die Demütigung, die ihm Europa zugefügt hat. Und jetzt das! Wie komme ich aus dieser Patsche nur wieder heraus, denkt er nervös. Zeus ist nicht so der große Schnelldenker und erst recht nicht so der scharfe Schnelldurchblicker wie seine Tochter Athena. Er muss Zeit gewinnen, ist der einzige klare Gedanke, der ihm spontan kommt. Zeit, er braucht Zeit. Ihm gelingt sogar ein breites Lächeln.
„Oho, hört, hört! Athena will die Welt verändern! Was habe ich nicht für eine kluge Tochter! Aber im Ernst, meine Liebe, das ist ja keine Kleinigkeit, die du mir da vorträgst. Das will gut überlegt sein.“
„Also kann ich auf dich rechnen, Papa?“
„Nein, nein, nein! Hast du nicht zugehört? Das muss sich zuerst einmal setzen. Das muss ich überschlafen, bevor ich zu- oder absage.“
„Ich wusste, dass ich mit dir rechnen kann, ich wusste es. Danke, Papa!“
Athena umarmt ihren überrumpelten Vater, tanzt um ihn herum, lacht, klatscht in die Hände und läuft singend davon. Zeus ist am Ende. Wie soll er aus dieser Zwickmühle denn wieder heraus kommen? Und was ist, wenn Athena erfährt, dass er der Entführer war? Und was erst, wenn sie erfährt, dass er einen Rachefeldzug gegen die dreimal kluge Europa und alle anderen Frauen da unten plant? Was mach ich jetzt nur?
Wie ein begossener Pudel erhebt sich stöhnend der alte Obergott und trottet niedergeschlagen zurück zu seiner Gattin, Hera. Vielleicht weiß die ja Rat in dieser verzwickten Angelegenheit. Da fährt ihm der nächste Schrecken in die Glieder:
„Nein, das wäre der reinste Wahnsinn, sie einzuweihen! Ich müsste ihr ja gestehen, dass ich Europa…nein, nein, Heras Eifersucht ist so was von furchtbar. Nein, ich muss es mit mir alleine ausmachen. Ich bin hier umgeben von lauter Frauen, die nicht auf meiner Seite stehen. Ist das die Rache des Schicksals für meine geplante Rache an den Frauen da unten?“
Mit hängenden Schultern und bitterem Schmollmund trottet Zeus nach Hause. Es wird ihm alles mal wieder zu viel. Da steht auch schon Hera, seine hehre Gattin, die Arme entschlossen in die Hüften gepresst.
„Da bist du ja endlich! Hol mal gleich was Gutes zu trinken, damit sich unsere Gäste auch wohlfühlen. Die müssen nämlich jeden Augenblick da sein.“
„Ja, ja, schon gut, wollt ich sowieso gerade machen“, nuschelt er, ohne ihr in die Augen zu schauen.
„Ist was, mein Lieber? Du wirkst so niedergeschlagen?“
„Ich? Nein, ich bin nur etwas müde.“
„Dachte schon, ich müsste mir Sorgen machen.“
„Alles gut, alles gut.“
Wenn die wüsste, was ich im Moment für Probleme habe, läuft da sein Denkapparat langsam wieder an. Was sollte ich gerade besorgen? Ach ja, Getränke, richtig. Gute Idee.
„Werde meine Sorgen einfach in Nektar und Ambrosia versenken, das hilft immer. Meistens. Manchmal. Ist ja auch egal…“