13 Mai

AbB – Erneute Annäherungen # 2

Apokrypher Schriftfund, 3. Jahrhundert nach europäischer Rechnung

Hat nicht Plato in seinem Symposion Sokrates die Priesterin Diotima über die Liebe dozieren lassen und war dieser Dialog seitdem nicht der Maßstab für die mit Lettern bekleidete und damit schamhaft verhüllte Bilderwelt der Geschlechtlichkeit ganz nur im Kopf beheimatet? Alles dem Ideal zu opfern, der Einbildung, dem leblosen und kalten Torso schöner Marmorkörper. Wo dieses Bild vom „gelungenen Lebensentwurf“ wie der kleine Junge bei Robert Musil, der aus seinem Fettgefängnis manchmal noch heraus zu winken scheint, gefangen sitzt seitdem wie Rapunzel im hohen Turme. Langes Haar erinnert noch an die Leiter zu Lebensfreude und Übermut samt wild wütigem Treiben.

Schon von klein auf werden die Wörter sorgsam sortiert nach erwünscht und unerwünscht. Gelehrig saugen es die Kleinen schon mit der Muttermilch auf. Da schmeckt es noch nach wärmendem Fleisch und flüssiger Lust nach mehr. Dann aber kommt das Selber Denken hinzu. Es baut sich gehorsam entlang des Gehörten die eigenen Luftschlösser, in denen die wahre Lust zu Hause sein soll. Je dünner die Luft, umso intensiver der Genuss, lautet das selbst erdachte Motto solcher Lebensfluchtpläne. Und wer sich diesem großen Bild nicht anzuschließen weiß, sieht sich verbannt in die Niederungen unmenschlicher Schwachheiten und erniedrigendem Versagen.

Dann begegnet er der Kunst – einer Welt, die ihn völlig verunsichert, denn nun soll wieder die Genauigkeit k e i n e Gewähr leisten für Lebensnähe und Wirklichkeit, nun soll das gelten, was das Kind gelernt hat zu verneinen: Das Vage, das Schillernde, das Bodenlose, das Verführerische.

Aber in der Alma Mater wieder hilft ihm wortreich die Lehre der Weisheit erneut auf die Beine: Du musst nur immer weiter denken, Wortgebirge aufhäufen und besteigen, dann erwartet dich oben der große Überblick über dich, die Welt und alles, was sie zusammenhält. Drunter aber brodelt weiter – wie im Kern der Erde – glühend heiß die wunderbare Wollust und wartet auf ihren unvermeidlichen und insgeheim ersehnten neuen Auftritt.

Bis dahin aber umstellen den ratlosen Menschen Gebote und Verbote zuhauf, damit er lerne, sich selbst zu verneinen. Und Strafe auch.

Aber hat nicht schon Friedrich Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft (schon im Begriff schimmert die pure Lust hindurch!) unter der vielsagenden Zahl 69 – sie ist das Bild für die Wucht der Triebe – gesagt: „Was sagt dein Gewissen? – Werde, der du bist!“

Nun hat man unlängst eine apokryphe Schrift gefunden, in der jenseits von solchem Beschwichtigen der Triebwelt ein anderes Gelage samt Dialog überliefert ist. Nicht von alten Männern verfasst, sondern von jungen Priesterinnen eines Kultes, die der fast schon vergessenen Botschaft vom Glück verpflichtet sind. In Höhlen feierten sie dionysische Feste und eine hat wohl aufgeschrieben, was sie dachten, damals. Da fallen lautlos die Wortgebirge wie welke Blätter in sich zusammen.

Fast könnte man meinen, es sei ein Text aus der Feder von Lukrez, der ja auch als teuflisch ins Abseits geschoben wurde, weil seine Botschaft in eine der Erde verpflichteten Weise das Lied vom lustvollen Werden und Vergehen in den Mittelpunkt gestellt hatte: de rerum natura.

„Und alle Lust will mehr“, steht da geschrieben. Und wieder ist es eine Priesterin, die solches huldvoll kündet, lüstern lockend den tumben Mann, denn das Tier im denkenden Panther lässt sich einfach nicht bändigen. Warum auch? Venus ist die nackte Gestalt, deren Schönheit und Anziehungskraft keiner sich entziehen kann.

„Was also ist die Mitte der Existenz allen Seienden?“ fragt der weise Mann die schmunzelnde Priesterin – für Augenblicke könnte man sie sogar für die anziehende Melancholia halten – und lauscht mit klopfendem Herzen ihren Worten:

„Nun, schon die Frage führt schnurstracks in die Irre“, tönt ihre dunkle Stimme weich und warm.

„Wie das?“ fragt verwirrt der ratlose Mensch und hofft dabei sehnlichst auf Erlösung – jenseits von Wortgirlanden und Begriffswasserfällen.

„Es bedarf keiner Mitte, die zu finden wäre, es ist in dir selbst. Du hast dich nur gelehrt, es zu vergessen. Und dieses ‚in dir selbst‘ tanzt überall in dir, es ist dein ganzer Körper, der darin lebendig webt, schwebt und wirbelt.“

„Das verstehe ich nicht“, flüstert verstört der zitternd Zuhörende.

„Es ist auch nicht zu verstehen, es ist einfach nur zu leben. Und der Weg dorthin ist immer schon da, du hast nur gelernt, ihn gründlich zu übersehen.“

Da schließt er verunsichert die Augen und versucht dieser Botschaft in sich selbst zu begegnen. Und gerne hilft sie ihm dabei, die Glückliche.

Hier ist das Fragment zu Ende.

Wie es wohl weiter geht?

Muss es das denn überhaupt noch?