17 Dez.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 149

Das Fest bei den Höhlen von Matala.

Es wird eine lange Prozession. Flötenspieler und Trommler vorneweg. Dahinter die Hohepriesterin Chandaraissa mit Athamana an ihrer Seite. Dann tanzende Kinder mit Olivenzweigen in den Händen. Und hinter ihnen in einer Sänfte Europa mit ihren Zwillingssöhnen. Und zum Schluss der Minos – Archaikos. Er ist umgeben von seinen Ratgebern, die in gemessenem Schritt das Ende der feierlichen Wanderung durchs weite Tal Richtung Meer bilden. Wie gerne wären wohl auch die jungen Priesterinnen alle mit dabei gewesen. Aber die sind ja längst abgereist – in alle Himmelsrichtungen auf großen und kleinen Seglern.

Der Himmel ist leicht bewölkt, angenehm warm die Luft, fast windstill. Die Musikanten stellen sich nun am Eingang der größten Höhle in zwei Reihen auf, um Platz für die stolze Mutter und ihre Zwillinge zu machen. Die gesamte Bucht füllt sich gerade mit neugierigen Zaungästen. Schiffer, Netzteflicker, Töpfer, Olivenbauern. Mit dabei ihre Frauen und viele Kinder. Ein Feiertag für alle. Man sitzt auf geflochtenen Matten, isst und trinkt, schaut immer wieder hoch zu dem Höhleneingang, wo jetzt gerade der Minos von Kreta mit der Schar seiner alten Berater, den Ratsherren, ankommt.

Auf einem Felsbrocken mitten in der Höhle steht die große Schale, gefüllt mit Quellwasser. Zwei Ammen tragen die beiden Neugeborenen nun dorthin. Europa wird von vier kräftigen Männern in ihrer Sänfte ebenfalls dorthin gebracht. Jetzt brechen das Flötenspiel und Trommeln vor der Höhle ab. Die Hohepriesterin steht still neben der glänzenden Schale und wartet. Als dann auch der Minos und die Alten sich im Kreis um die Schale versammelt haben, verstummt die Musik. Eine erfrischende Stille erfüllt den hohen Felsendom. Athanama hilft Europa aus der Sänfte, geleitet sie zu ihren schlafenden Zwillingen. Die beiden Ammen halten die kleinen Jungen über die weite Schale. Chandaraissa taucht beide Hände ins kühle Quellwasser, gießt es vorsichtig über die Köpfchen.

„Wir begrüßen euch, ihr beiden, und geben euch hier nun auch eure Namen: Samadanthys“, dabei neigt sie sich zu der Amme auf ihrer Linken, „und dich“, dabei neigt sie sich zu der Amme auf ihrer Rechten und tröpfelt das Kühle Nass über die Zwillinge, die auch gleich ordentlich zu schreien beginnen,“und dich Parsephon“. Die Ratsherren klatschen und versuchen sogar so etwas wie ein kleines Lächeln auf ihre verrunzelten Wangen zu zaubern. Und Europa weint Tränen des Glücks dazu.

02 Dez.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 148

Europas Zwillinge kommen zur Welt.

„Warum Phaistys? Warum ohne Archaikos an ihrer Seite?“ fragt Gortheus, der Fischer, seinen Kollegen.

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich weil da mehr Wind weht als hier oben bei uns.“

Beide müssen lachen. Im Hafen wird viel über die bevorstehende Geburt getuschelt.

„Haben der Minos und diese Europa bereits ihren ersten Streit?“

„Soll die Geburt bei Vollmond stattfinden?“

„Hat Chandaraissa, die Hohepriesterin, von der großen Göttin den Auftrag bekommen, die Geburt in den Höhlen in der Bucht von Mathalla zu erwarten?

Vor Tagen war die neue Gattin des Minos, diese Europa, mit ihren Dienerinnen abgereist. Jeden Tag sieht man Archaikos im Tempel der Göttin opfern. Ob das hilft? Witze kursieren im Hafenviertel.

Der Minos schickt täglich Boten zwischen Phaistys und seinem Palast hin und her.

Doch heute früh – das weite Tal entlang der Höhlen zum Meer schwimmt noch in weichem, weißen Nebel – hört man im Palast von Phaistys Schreie. Immer wieder. Dann verlässt ein Eilbote den Ort.

„Es sind Zwillinge, es sind Zwillinge!“ ruft er heftig pochend am Doppeltor. Die Wachen hatten mal wieder geschlafen. So dauert es, bis der Eilbote vor dem Minos steht:

„Mein Herr, eure Gemahlin hat Zwillinge zur Welt gebracht, zwei gesunde Jungen!“

Archaikos strahlt. Gleich zwei Jungen. Da muss er sich um seine Nachkommenschaft keine Sorgen machen.

„Hermaios, bereite alles vor, ich will in einer Stunde los!“ Sein Hofmeister verneigt sich und eilt davon.

„Und benachrichtige auch die Hohepriesterin!“ ruft er ihm noch hinterher.

Dann geht es auch schon wie ein Leuchtfeuer durch den Palast und auch den Hafen unten. Europa und Archaikos haben Zwillinge bekommen. Was für Namen werden sie wohl bekommen? Die Fischer und ihre Frauen behaupten natürlich gleich es zu wissen.

Dann stehen sie neugierig an der Straße, die nach Phaistys führt, um ja nicht zu verpassen, wer alles an der Seite des Minos mit darf. Auch das gibt wieder reichlich Anlass für neue Gerüchte um die Geburt der Zwillinge.

14 Nov.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 147

Der Tag der vielen Abschiede von Kreta.

„Wo auch immer ihr an Land gehen werdet, seid ehrfürchtig vor ihren Göttern. Die große Göttin will es so. Sie tanzt mit allen den Welttanz, einträchtig.“

So spricht die Hohepriesterin Chandaraissa zu ihren jungen Priesterinnen am Morgen des Abschied Nehmens. Die meisten haben Tränen in den Augen. Und die Gefühle spielen verrückt: Was wird aus mir werden? Wie kann ich der großen Göttin am besten dienen? Wen werde ich auswählen? Werde ich der großen Göttin gerecht werden? Werde ich meine Freundinnen je wiedersehen? Und meine Eltern? Die Hohepriesterin?

Dann die Prozession zum Hafen. Ihre wenigen Habseligkeiten in einem Sack auf dem Rücken. Um sich Mut zu machen, singen sie ihre Kinderlieder. Dann sehen sie die vielen Masten im Hafen. Neugierige Kreter stehen bei den Schiffen.

Bald sind sie verteilt auf die Boote. Sie wissen, wer wohin segeln wird:

Amirta soll in den Westen, nach Hesperien mitreisen.

Turguta wird mit dem Schiff reisen, das Olivenöl geladen hat: es geht weit in den Nordosten, in ein fernes Meer, das Aksaena genannt wird, was so viel heißt wie das Dunkle, das Schwarze.

Sahalaia fährt mit einem breiten Segler nach Eryx, zu den Elymern

Sarsa mit Kräutern und Geräten aus der Schmiede nach Alalia

Belursa wäre so gerne mit Sarsa zusammen geblieben; aber die Hohepriesterin macht keine Ausnahmen; so wird ihr Schiff sie – bei hoffentlich günstigen Winden – nach Moncodonja bringen.

Athanama, die Priesterin aus Sidon und neue Freundin von Europa, steht jetzt neben Chandaraissa am Hafenbecken und umarmt die Abreisenden – eine nach der anderen. Dabei gibt sie jeder ein kleines Amulett mit – es ist geformt wie die große Statue der großen Göttin, oben in ihrem Tempel.

Die Mannschaften auf den Booten starren die jungen Frauen an, als wären sie Traumgestalten. Ein leidenschaftliches Begehren wühlt ihr Blut auf. Aber sie halten sich zurück. Denn schon nur als Tagtraum mit ihnen zusammen zu sein, ist ihnen Wonne und Seligkeit. Als umgäbe die jungen Priesterinnen eine besondere Aura, die sie schützt und wunderbar wirken lässt. Friedvoll. Sanft. Gewogen. Sind das die Folgen des großen Tanzes? Ist das das Wirken der großen Göttin? Ist sie mitten unter ihnen?

Sie nehmen es mit auf ihre große Reise ins Unbekannte, wollen es dort weitergeben, überallhin. Günstige Winde kommen auf. Ein Zeichen?