06 Apr.

Europa – Meditation Nr. 497

Europa, die weitsichtige.

Was für ein Beiwort: weitsichtig! Europa und weitsichtig? Wenn man das neue Buch von Joschka Fischer „Die Kriege der Gegenwart und der Beginn einer neuen Weltordnung“ liest, dann hat Europa das sich anbahnende Chaos (als wenn vorher Ordnung das Weltgeschehen bestimmt hätte!) gründlich und gerne verschlafen, weil es so angenehm war, sich vom großen Bruder beschützen zu lassen, dessen Lebensart man gleich in traumwandlerischer Selbstvergessenheit in eine pax Americana hoch jubelte. Von Weitsicht keine Spur! Es war sicher nicht unklug, sich als zerknirschter Verlierer dem scheinbar großherzigen Sieger unterwürfig anzudienen. Der konnte konziliant bald die Zügel lockern – mittels Persilscheine und üppigem Startkapital als Anschubhilfe. In den Geschichtsbüchern ist vom Marshall-Plan die Rede. Der eingefleischte autoritäre, patriarchalische Mitteleuropäer witterte im lockeren Gestus des Siegers eine ungeahnte Chance, die eigenen Eckdaten subkutan weiter bestehen zu lassen und oben drüber das Süßholz von der jungen Demokratie zu raspeln, um die eigenen Ungeheuerlichkeiten der verflossenen Jahre ordentlich zu kaschieren.

Wie ein Friedensfürst spielte sich der unwiderstehliche Dollarheld weltweit auf, als wäre er ein fairer Makler, ein beschwichtigender Polizist in lokalen Konflikten. Die Sprache lieferte die dazu gehörige Sahne, um die Gier nach Hegemonie und Bevormundung aussehen zu lassen, als wäre es Großzügigkeit und Großmut, die erfolgreich zu dominieren wüssten.

Schon der Beginn des demokratischen Modells in der Antike ist in der Überlieferung – selbstverständlich ausschließlich von Männern für Männer aufgeschrieben – Augenwischerei: Nur die Wohlhabenden Bürger hatten das Wahlrecht, Frauen, Fremde und Sklaven waren natürlich ausgeschlossen. Erfolgreiche Arbeitsteilung nennt man so etwas, aber Herrschaft des Volkes war es ganz bestimmt nicht – damals so wenig wie heute.

Die weitsichtige Europa! Hat sie denn wirklich vergessen, dass für ihren erzählerischen Anfang ein breit ausgewalzter Vergewaltigungsakt steht? Von Männern für Männern bildgewaltig aufgeschrieben! Gewalt ist also schon im Gründungsmythos Europas eingebrannt. Und die Demokratie, die in Athen und Sparta aus der Taufe gehoben wurde, war genau wie das Modell von 1787 ein Papier, das wortreich und begriffmächtig die Ungleichheit festschrieb, als wäre es die Charta für die Gleichheit und Freiheit aller Mitbürger. Aber sowohl nach innen wie nach außen gingen die Vertreter dieses Regierungssystems unerbittlich gegen Hinderer und Hindernisse vor. Damals wie heute.

Und die weitsichtige Europa zog es bis heute vor, das alles in einem langen Schlaf wegzuträumen. Und in leisen Selbstgesprächen schönzureden. Bis heute. Joschka Fischer, der in seinem Buch – ohne jeden Quellennachweis, ohne eine Bibliographie und fast ohne Zitate – noch einmal das große Lied der PAX Americana – vor allem vor dem Hintergrund der düsteren Wolken, die er heraufziehen sieht – singt und anpreist als hohes Gut, das es weiterzuerzählen gälte, scheint ähnlich wie die eigentlich doch weitsichtige Europa in einem Wachschlaf vor sich hin zu simmelieren.

Und nun scheint die verschlafene Europa gerade nicht von einem Prinzen wachgeküsst zu werden, sondern von einem veritablen Unhold. Zitternd schreckt sie hoch, reißt die Augen auf, die weitsichtigen, und scheint zu meinen: Falle ich gerade aus einem schönen Traum in einen bösen Albtraum?

Nein. Weder noch. Es ist an der Zeit, unverstellt nach vorne zu blicken, das Heft des Handelns selbst in die Hand zu nehmen, mit siebenundzwanzig Helfern zur Seite, die lieben Verwandten. Sie alle müssen nun den wagemutigen Schritt in die Selbstständigkeit tun, die selbstverschuldete Unmündigkeit geht abrupt zu Ende, zum Glück. Denn das transatlantische Rumpelstilzchen ist gerade dabei, sich selbst zu zerreißen vor lauter Wut und Zorn auf eine Welt, die ihn einfach nicht als king of any deal anbeten will. Er macht es im Grunde der weitsichtigen Europa leicht, durchzublicken: Lug und Trug, Pokern und Zocken taugen nicht zum politischen Handeln.

31 März

Europa – Meditation Nr. 496

Verluste und Gewinne am Scheideweg (Teil 2)

In seinem neuen schmalen Buch „Die Kriege der Gegenwart…“ liefert sich Joschka Fischer ein munteres Gefecht mit seinen eigenen Begrifflichkeiten, die folgsam den vertrauten Klickklacks folgen und somit so beruhigend folgerichtig klingen: Geopolitik, Weltordnung (!) – die es doch nur in der Einbildung geben kann – bipolare Blockkonfrontationen, geopolitische Hauptachse, Retro-Zeit, Isolationismus, Neonationalismus, (wie ein Sisyphus-Unterfangen ist diese Begriffshalde unnachgiebig ungehalten abzuräumen), Zweiteilung der Welt in Demokratien und Autokratien, neues Zeitalter, geprägt von der künstlichen Intelligenz…“Ohne Ordnung, im Chaos der Rivalität mehrerer Großmächte und deren widerstreitender Interessen, Wertesysteme und irrationalen Ambitionen…“ (S. 22).

Der Alt-68-er gefällt sich hier als scheinbar weiser Alt-Politiker, der in der Stille seiner Schreibstube einfach nur fest hält, was aus einer nüchternen Vogelperspektive zum Stande der Dinge einfach mal gesagt werden müsste. Als gäbe es diesen außerplanetarischen, archimedischen Punkt, von wo aus man das Geschehen auf dem blauen Planeten in einer Gesamtschau überblicken könnte, als handele es sich bei den globalen Machenschaften der mächtigen Clans und Geldmengensammler um ein Glasperlenspiel, das man von oben herab interesselos betrachten könnte…als könnten Abstrakta den aufgescheuchten Menschen Zuversicht und Gelassenheit in Aussicht stellen.

Ja, er liefert nicht nur Analysen zu Gegenwart und Vergangenheit, nein, er bietet auch wortreich und so kompetent besorgte Prognosen für die Zukunft.

Abstraktionen-Kaleidoskop eines Wortjongleurs, der mittels der Aura des Elder statesman damit kokettiert, gelassen den Überblick über ein unübersichtliches Welt-Chaos zu verwalten und von seiner Warte aus sorgenvoll, differenziert und kenntnisreich ein Gesamtbild zu entwerfen, das möglichst viele, wenn nicht sogar fast alle, Variablen im Welt-Macht-Spiel vor Augen führt. Und um hinterher staunend über so viel Umsicht, Weitsicht, Durchsicht und Klarsicht sprachlos und dankbar tief durchzuatmen, weil einem endlich mal in einem großen Wurf gesagt wird, was Sache ist.

Das muss den Leser – je nach seiner Herkunft, Bildung und eigener Weltsicht – andächtig erschauern lassen, abnicken lassen oder völlig ratlos zurücklassen, weil man weder die Zeit noch die intellektuellen Werkzeuge parat hat, mit denen man solch einem Rundumschlag/Blick kritisch begegnen könnte.

Oder sollte man es auf einer Gewinne/Verluste-Skala nicht eher als allzu leichtfertiges Großpuzzle ansehen, das zwar schön und ordentlich anzuschauen ist, das aber lauter Puzzleteile (Abstrakta) nur in ein Gesamtbild zwängt, das so in der Wirklichkeit weder in der Vergangenheit, der Gegenwart oder auch für die Zukunft Anspruch auf Wirklichkeitsabbildung haben kann.

Es sei nur daran erinnert, wie „überrascht“ die Menschen in Europa waren, als im Sommer 1939 plötzlich Krieg war, als im Herbst 1989 plötzlich das Gorbatschow-“Wunder“ geschah und als plötzlich 2024 ein Rumpelstilzchen entgegen den Prognosen einen klaren Wahlsieg nach Hause fuhr! Über Nacht fielen vertraute Denkmodelle wie Kartenhäuser in sich zusammen. Und als gerade im Gaza Palästinenser gegen die Hamas protestierten. Die Medien – dahinter lauter kompetente Denker der jeweiligen Szenerien – hatten so was von falsch gelegen, obwohl sie doch nur dem klaren Verstand vertraut hatten.

Wie war das möglich, fragen sich dann im Nachhinein die Kenner genauso wie die Zuschauer?

Vielleicht sollte man stattdessen einfach kleinere Brötchen backen, im Alltag vor allem den eigenen Kindern gegenüber einen glaubhaften, kleinschrittigen Weg weisen durch die Fährnisse dieses Chaos, das die Natur uns Tag für Tag und Nacht für Nacht gratis frei Haus inszeniert, ganz gleich auf welchem Erdteil man zufällig geboren wurde. Und ihnen vorleben, dass ein gesunder Zweifel den lautstarken Parteipolitikern genauso wie den akademischen Flüsterern gegenüber für das eigene Überleben stets angesagt ist, statt Abklatschen, chorisches Jubeln und hektisches Banner Wehen. Von aggressiven Geschrei ganz zu schweigen.

27 März

Europa – Meditation Nr. 495

Verluste und Gewinne am Scheideweg 2025 (Teil 1)

Verluste? Wie man’s nimmt. Abnabeln tut weh, klar, aber es ist nötig, um zu sich selbst zu finden. Dieses Bild übertragen auf die symbiotische Beziehung Deutschlands nach dem 2. WK mit den großen Gewinner im Osten wie im Westen, bedeutet eben jetzt: nach dem blauen Wehgeschrei des übertragenen Embryos muss endlich klar Tisch gemacht werden. Schluss mit dem wehleidigen und schimpfenden Selbstgespräch! Und genauso gilt das auch nach dem rot und schwarz blubbernden Kaugummi-Gestammel des fettleibigen Coca-Cola-Rülpsers. Schluss mit dem übereifrigen und vorauseilenden Gehorsam!

Was da endlich in Mitteleuropa in die Mottenkammer gehört, ist nichts als Wortkaskaden von scheinheiliger Bruderliebe und bigottem Gesundbeten mittels Wachstum und uferloser Bereicherungsorgien. Beides sind mörderische Sackgassen, die nach achtzig Jahren endlich verlassen werden sollten/müssen.

Gewinne? Selbst verantwortlich sein zusammen mit dem Nachbarn und der Nachbarin für ein naturnahes, diverses Leben, das schonend mit dem umgeht, was die Natur uns noch zu bieten hat und nicht auf Übervorteilen und Verdrängen des Nächsten basiert.

Große Worte, in der Tat.

Und am Anfang steht wahrlich nicht der Gewinn, sondern die gemeinsame Arbeit, Reparaturen und Trockenübungen für die nachwachsende Generation: Von klein auf muss den jüngsten vor Augen geführt werden, wie reich und lebenswert dieses Europa in seiner Vielfalt ist und wie sehr es sich lohnt, dafür einzustehen. Gemeinsam. Die alten Vorbilder haben sich als Pappkameraden entpuppt. Und um das zu lernen, müssen die Köpfe wieder frei geschaufelt werden von allzu vielen sinnentleerten Dauerunterhaltungsangeboten, von der Herrschaft der kleinen Geräte über die jungen Seelen und Gehirne, damit sie lernen können, sich selbst denkend und handelnd zu begegnen und nicht mehr nur als klickende Zuschauer und Claquere.

Der gesamte Erziehungsbereich muss deshalb im Zentrum der Aufbruchsstimmung stehen: Nicht Angst vor dem bösen Wolf, sondern Freude an den eigenen Begabungen gilt es zu fördern. Es wäre fatal, jetzt Ängste zu schüren und sich klein zu machen, weil auf anderen Erdteilen Angstmacher das Sagen haben und verrostete Hegemonialphantasien aus dem Schuppen holen.

Zentrale Begriffe müssen in diesem Zusammenhang wirklich verstanden sein, um Europa nicht ein leeres Versprechen sein zu lassen, sondern als weithin sichtbarer Leuchtturm für die neu zu entdeckende Langsamkeit in allem, was das verstörte Tier homo sapiens sapiens braucht, um ein sinnvolles und friedliches Leben leben zu können. (dazu demnächst Teil 2)

All die großen Institutionen – Parteiapparate, Versicherungs- und Bankenkonglomerate – sie entfremden die jungen Menschen nur von sich selbst; ritualisiertes, vierjähriges Wahlkarussell täuscht sie über ihre marginalisierten Rollen nicht länger hinweg. Dagegen wird Teilhabe in kleineren Gremien und Entscheidungsrunden sie in ihrem eigenen Wert bestätigen können und zur Mitarbeit ermuntern.

Der Abgesang der Gesellschaftsmodelle der Vergangenheit darf zügig verklingen, in die Geschichtsbücher wandern, denn die neuen Töne müssen nicht nur von den betrogenen Betrügern, sondern auch von ihren Kindern eingeübt und ausprobiert werden – alle mit dem Rücken an der Wand. Das jedenfalls schafft Klarheit. Lamentieren Zeitverschwendung. Haben wir nicht!

Global stellen sich die alten und neuen Völker neu auf. Alles muss neu verhandeln werden. Das ist in der Tat eine radikale Wende im Selbstverständnis aller, weltweit. Aufregend, weil für einen Moment offen für Neues. Europa sollte sich jetzt zum Pionier machen, nicht zum Follower.