05 Apr.

Europa – Meditation # 446

Das Rüstzeug für eine zukunftsfähige Generation

Die theatralischen, alltäglichen Aufgeregtheiten verbrauchen unerbittlich die Aufmerksamkeit der Europäer: hektisch hecheln sie von Event zu Event, von Katastrophenbild zu Katastrophenbild, von lautstarken Empörungsgesten zu hysterischen Besserwissereien. Immer sind es die „Großen“, die sich wichtig tun, während die „Kleinen“ umsonst um Zeit und Aufmerksamkeit buhlen. Sie bekommen sie höchstens in den schlagwortartigen Einleitungssätzen ermüdender Grundsatzreden scheinbar wichtiger Volksvertreter, die von sich behaupten, sie verträten die Interessen des Volks – unbestechlich und engagiert, während im Vorfeld längst die Lobbyisten ihre Pflöcke einzuschlagen wussten.

Seit Jahrzehnten (!) lautet der Einleitungssatz solcher Reden: „Unsere Kinder sind das wichtigste, was wir haben. Für ihre Zukunft müssen wir alles tun, was in unseren Kräften steht!“

Doch dann übernimmt übergangslos der unwiderstehliche „main-stream“ die Themen des Tages und der Stunde: steigende Kurse an der Börse, abnehmende Auftragseingänge im Bauwesen, boomende Rüstungsindustrie, Antichambrieren hier und da in Jerusalem, Kiew, New York, Brüssel…

Längst ist der schöne Einleitungssatz verhallt. Ein verlogenes Spiel. Die Kleinen haben eben keine Lobby. So ein Pech aber auch!

Dabei sind die vielfältigen Begabungen, die so weiter brach liegen werden, unbedingt nötig, um die anstehenden Herausforderungen halbwegs zu meistern: Die viel beschworene Medienkompetenz müsste systematisch angeregt und eingeübt werden. Da sind nämlich die Eltern und Betreuer nach wie vor ziemlich überfordert; und zwar nicht nur zeitlich, sondern auch fachlich. Noch wichtiger allerdings ist selbstverständlich die ökonomische Kompetenz: Wie sehr die Gesellschaften auf dem gesamten Globus bestimmt sind vom maßlosen Haben Wollen und den Konkurrenten Ausschalten Lernen, wird ja schon beim Kindergeburtstagsfest offenkundig. Nervöse Mütter, die materielle Vergleiche ungebremst an ihre Brut weiterreichen, damit diese auch gleich Bescheid weiß, wie der Hase läuft. Wie sehr alle inzwischen bereit sind, ihre Daten kostenlos den großen Playern zur Verfügung zu stellen, damit diese dem persönlichen Profil angemessen ihre Werbung platzieren können und die freudig erregten Konsumenten zum Schulden Machen leichtfertig überreden dürfen.

Wenn dann noch die Medien-Demokratie mit ihren Fallgruben von der nachwachsenden Generation nicht durchschaut wird, sollte man sich nicht wundern, dass die durchgenudelte politische Verdrossenheit weiter voran schreitet und das graue Nichts weiter und weiter sich ausbreitet, wie in der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende bereits anschaulich vor Augen geführt.

Wenn die Jungen – und inzwischen auch selbst die Jüngsten schon – nur noch in ihren Blasen vom Stöckchen zum Steinchen hüpfen und dabei glauben, es ginge nur um sie und ihre eigene Unverwechselbarkeit und gar nicht mehr anders können, als vom virtuellen Raunen – der so sehr ermüdenden Alltagserfahrung – sich betören zu lassen, dann ist es aber wirklich höchste Zeit, dass nicht nur die demonstrierenden Schüler auf der Straße, sondern auch die erschöpften Eltern und die in sorgenvoller Geste lamentierenden Politiker ein klares Bündnis miteinander eingehen und klar stellen:

1. Die Kinder sind die wichtigste Priorität

2. Die Kitastrophe kann nur abgewendet werden, wenn mehr Zeit und mehr Kompetenz in diese alles entscheidende Anfangsphase investiert werden.

3. Die Grund- und weiterführenden Schulen werden ab sofort mit der doppelten Anzahl an Lehrern und Betreuern versorgt: attraktive Ausbildungsangebote und bessere Bezahlung als Wendesignal.

4. Lesen, Schreiben und Rechnen – ohne algorithmische „Pseudohilfe“ – bei gesunder, kostenloser Ernährung für alle.

5. Fächer wie „Was ist Geld? Und wie gehe ich damit um?“ Werden neben Wirtschaft, Politik und Geschichte zentral im neuen Lehrplan verankert.

6. Kreativität wird systematisch in den musischen Fächern flankierend verankert.

Die Schulden, die für solch einen Epochen-Neustart dringend zu machen sind, werden sich wahrlich finanzieren lassen, weil die neue Generation, die so geschult und begleitet aufwächst, Kräfte frei setzen wird, die einen ganz neuen Reichtum an geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Neustarts

ermöglichen wird. Der sogenannte Neo-Liberalismus erübrigt sich dabei als übler Heuchler und privilegierter Gesundbeter.

27 März

Europa – Meditation # 445

Individuelle Freiheit – ein trauriger Torso nur noch.

Der Bildungsbürger – ganz in der Humboldtschen Tradition des 19. Jahrhunderts – ging bisher durch ein langes, mühsames Tal des Lernens, bevor man bereit war, ihm zu attestieren: Du bist zu einem gebildeten Bürger gereift. Besonders die Institution SCHULE sollte dafür sorgen, dass dieses Ziel nachhaltig erreicht wurde.

Zwei Sinnnbrüche hätten genügen sollen – der Erste und der Zweite Weltkrieg – dieses langfristige Lernmodell des homo sapiens zu hinterfragen, zu überarbeiten. Doch die Beharrungskräfte des alten Modells erwiesen sich als beharrlicher. Kein bisschen weise!

„Nie wieder Krieg!“ lautete der mutige Nachkriegs-slogan. Man wollte dem Sieger gegenüber als radikal lernfähig erscheinen: Bildungsreformen wurden beschlossen und bürokratisch umgesetzt. Dabei galt der große Bruder aus Übersee über Nacht als unanfechtbares Vorbild, das im Vergleich zum ideologischen Feind einen Pyrrhus-Sieg nach dem anderen nach Hause fuhr: Bei der Umstellung von Kriegs- auf Friedensproduktion beschleunigten die Macher an den großen Seen die Produktionsprozesse in Richtung Automatisierung und beschleunigtem Konsum. Und der nibelungentreue Juniorpartner in Mitteleuropa hechelte kopierend hinterher und demontierte leichtfertig und blauäugig altbewährte Gewohnheiten in europäischer Tradition. Bis in die Sprache hinein gab man auf und ab.

Hätte man sich die High-Schools im Mittleren Westen genauer angesehen, hätte man dort schon die Folgen eines enthemmten Konsumdenkens besichtigen können: Randale, Müll, Gewalt und abgewirtschaftete Gebäude, von Toiletten gar nicht erst zu reden. Die jungen Leute, die dort Tag für Tag abhängen, langweilen sich zu Tode, hassen ihre Lehrer, bedrohen sie sogar mit heimlich mitgeschleppten Waffen. Alltag. 1974 gab es in der University of Michigan – nahe Detroit – einen Vortrag für die Studenten über solche Verhältnisse in Schulen. Die Gast-Studenten aus Europa konnten es nicht fassen: Unglaublich, nicht zu fassen! 50 Jahre später können diese alt gewordenen Studenten in Mitteleuropa ganz ähnlich Verhältnisse zu Hause konstatieren: Langeweile, Mobbing, Gewalt und desolate Gebäudezustände: Die Kleinen fürchten sich davor, vor Ort eine Toilette benutzen zu müssen, so ekelhaft sind die Verhältnisse. In diesen Tagen gibt es Schüler-Proteste und klare Forderungen: Kleinere Klassen, sanierte Schulhäuser und sanitäre Einrichtungen. Die verantwortlichen Erwachsenen haben allerdings andere Prioritäten, starren gierig auf die Börsenkurse und huldigen dem Gott des Neo-Liberalismus, als hätte der ein Interesse an nörgelnden Kindern, die keine Lust auf Lesen, Schreiben und Rechnen haben und auf soziale Kompetenz schon mal gar nicht. Anscheinend gibt es wichtigeres als stabile nachwachsende Generationen aufwachsen zu lassen.

Das offizielle Lernziel der Abiturienten bleibt aber nach wie vor „die eigenständige, kritische Persönlichkeit“, die dann als Reife definiert ist. Dass aber inzwischen dieselben jungen Leute in ihren eigenen Blasen unterwegs sind, wo es um Eitelkeiten, Follower, Emojis, Klicks und Zustimmungswerte geht, die bitte schön im Sekundentakt bedient sein wollen, und nicht um das traditionelle Bildungsideal vom unabhängigen Individuum, das sich selbst ein kritisches Urteil zu bilden gelernt hat, das entgeht den Großkopf-Typen in ihren großen Blasen – den sogenannten digitalen Medienverbünden – völlig. Die Nachricht von den streikenden Schülern ist längst im Papierkorb entsorgt.

Und das damit einher laufende zunehmende Tempo ermüdet natürlich alle ungemein. Man ist erschöpft, putscht sich auf und würgt jede Debatte mit dem Totschlagargument „Sehr komplex!“ einfach ab.

Weil aber gleichzeitig die Schlagzahl der gesellschaftlichen Zwänge – Mieterhöhungen, Versicherungszahlungen, Status-Symbol-Spirale – beinhart erhöht wird, müssen selbst die kleinen Kinder zunehmend alleine – ohne ihre Eltern – klar kommen, weil sonst die laufenden Kosten aus dem Ruder laufen. „Willkommen in digitalen Nirwana“, hier kann jeder jederzeit alles haben, die immensen unsichtbaren Energiekosten dafür zahlen wiederum die Steuerzahler. Tsunami normal. Vereinsamung massenhaft.

24 März

Europa – Meditation # 444

Die Natur – das Auto-Diktat – die Kriege – die Patrix

Der unverwüstliche Zeitgeist hat das Wort:

Was schon Aristoteles meinte – der Mensch sei ein soziales Wesen – gilt auch heute noch: Im Mutterleib kommunizieren wir bereits mit der nächsten, der Mutter. Hören ihr zu, lieben den Klang ihrer Stimme, lassen uns wiegen, genießen das Lachen, die schwebende Ruhe und die warme Dunkelheit. Wenn das doch immer so bliebe. Herausgerissen schreie ich mir zuerst einmal die Seele aus dem Leib: „Nein!“ Aber es hilft nicht. Kalt, zu hell, und viel zu viel allein. Das ist kein guter Start. Und je länger es dauert, umso schlimmer wird es: Farben, Figuren, Stimmen – die Mutter verschwindet im Hintergrund, im Vordergrund ein Zauberkasten, der all meine Aufmerksamkeit bekommt und verbraucht. Immer für mich da, immer. Bald schon kann ich nicht mehr ohne ihn sein! Will ich auch gar nicht, denn die Leute um mich herum, haben eh keine Zeit für mich.

Der Roller ist der nächste Freund in meinem Leben, dann das Auto. Ich lebe auf den Führerschein hin, dann bin ich endlich frei. Kann hin, wohin ich will. Kann imponieren, erobern, überholen, der Schnellste will ich sein. Natürlich unterstütze ich nur die Partei, die dafür sorgt, dass breitere Schnellstraßen gebaut werden, ohne jede Tempobeschränkung, klar. Gegen Staus helfen eben nur breitere Straßen, möglichst kurvenfrei, damit ich möglichst schnell von A nach B komme. Während des Staus schaue ich mir Autorennen auf meinem Bildschirm an. Ich bin so frei wie noch nie. In meinem Auto unterliegt alles meiner Kontrolle und meinem Willen. Ich bin unabhängig.

Und in Kriegen feierte die Phantasie von Ingenieuren schon immer ungeahnte Feste: immer neue, bessere Techniken wurden erfunden, stärkere Motoren, schnellere Fortbewegungsmittel zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Das war schon immer so.

Deshalb werden auch die Auseinandersetzungen in der Ukraine und in Palästina wieder zu Fortschritten für die Nachkriegszivilgesellschaft führen. Da bin ich mir ganz sicher. Unsere Kinder und Enkelkinder werden davon profitieren, genau wir unsere Großeltern und Eltern davon profitierten.

So wie jetzt auch unsere Alten bald in selbst fahrenden, bequemen Elektrokutschen losziehen können, mobil so lange sie wollen und können. So werden sie aus ihren einsamen Zimmerchen in muffigen Altersheimen heraus gelockt werden, können mit Gleichgesinnten losziehen und die Welt noch einmal bereisen. Weltweit wird der Tourismus noch einmal so richtig einen Schub erhalten. Auch die Infrastruktur zwischen Ländern und Erdteilen kann so weiter ausgebaut werden. Brücken von nie dagewesener Länge und Breite, Tunnel desgleichen. Dazu wird es neue Schulen geben, in denen speziell die Alten unterrichtet werden im Gebrauch digitaler Instrumenten und Fahrzeuge. All das wird natürlich auch zu einem neuen Wirtschaftswunder führen, denn all die Instrumente und Maschinen, die nötig werden zum Bau und Betreiben solcher immensen Veränderungen, werden von KI-gesteuerten Systemen am Laufen gehalten und mehr und mehr benötigt, so dass Zuwachsraten in noch nie dagewesenem Ausmaß angesagt sein werden.

Einsamkeit wird ein Gefühl sein, das sich selbst erübrigt, weil alle endlich genügend Zeit haben mit anderen zu kommunizieren, zu verreisen, Welten zu erleben und von ihnen zu erzählen.

Was früher einmal mit dem Cruising in der Neuen Welt als Lebensstil junger Männer begann, wird nun in unvorstellbarer Vervielfältigung weltweit als normaler Alltag inszeniert werden können. Die Alten sitzen bequem in ihren großen Fahrzeugen, spielen gegeneinander Schach, frühstücken gemeinsam und skizzieren die an ihnen vorbei gleitende Welt, die nebenbei auch noch von Kameras aufgenommen wird, damit später in einem zweiten Zugriff die angefertigten Skizzen noch überarbeitet werden – als Gemeinschafts-Kunstwerk – und dann über die social media mit der community ausgetauscht und gefeiert werden können.

Was für wunderbare Aussichten! Den Pessimisten schwimmen längst die Felle weg!

Wer diesen Text für eine bitterböse, ironische Fingerübung hält, liegt wahrscheinlich gar nicht so daneben.