20 März

Europa – Meditation Nr. 494

Friedrich Merz ist nicht Heinrich Brüning.

Klar. Geschichte wiederholt sich nicht. Aber die Akteure darin sind und bleiben sich nachhaltig verwandt. Und das jeweilige Momentum – der Zipfel des glücklichen Zufalls sozusagen – wird immer wieder erst in Nachhinein erkannt, wenn es ungenutzt vorbei getändelt ist.

Schwere See unterdessen, denn von rechts rollen die Brecher immer höher und höher an, von weitem kommen immer mehr Flüchtende – die späten Opfer einer Unterdrückungs- und Ausbeutungsepoche, die seinesgleichen sucht und die den Europäern etwas aus dem Blick geraten scheint. Allerdings sprechen die prächtigen Paläste überall in Europa eine allzu deutliche Sprache, dass dieser Reichtum auf Untaten basiert, die unter die üppigen Teppiche gekehrt wurden. Unterdessen wird höchstens noch von Sachherrschaft gesprochen: Herrschaft der Märkte, Herrschaft der Börsen, Herrschaft der Kartelle und Syndikate. Als wenn nicht hinter all diesen abstrakten wirtschaftlichen Verkehrs- und Rechtsformen konkrete Menschen stünden, die alle auf die eine oder andere Art vom Anhäufen der unglaublichen Gewinne und zahllosen Toten – Kolateralschäden ist das bequeme Totschlagabstraktum dabei – profitierten und weiter profitieren. Pontius Pilatus ist dagegen ein Stümper in seiner Unschuldspose.

Die beiden Milliarden-Pakete, die in dieser Frühlingswoche geschnürt werden, könnten allerdings nicht nur im Innern, sondern auch im globalen Gefälle für markante Schadensbegrenzungs-Aktionen weit mehr sein als bloße Kosmetik: Denn ein lebendiges und quirrliges Mitteleuropa (gute Nacht, schlechte Laune und Nörgelei!), das aus seinem bequemen Dornröschen-Schlaf unsanft von einem Trampel wach geschubst wird, wäre dann erstmals nicht die zu spät kommende Nation, sondern ein Vorreiter flankierender Wirtschaftskraft, die nicht nur den europäischen Nachbarn keine Angst mehr einjagt, sondern sogar darüber hinaus mithilft, global solidarisch mit Hilfe KI-gestützter Verteilungsmuster Hunger und Armut wirkungsvoll zu bekämpfen und Klimaneutralität dynamisch voran zu bringen.

Dass ausgerechnet ein politischer Laie wie Friedrich Merz in diesem Mammut-Projekt federführend sein wird, ist vielleicht nicht nur die Ironie an der Geschichte, sondern auch die sachlich begründbare Notwendigkeit, sich mit wirklichen Kennern der Materie und den internationalen Netzwerken zu umgeben, die nicht machtbesessen sich, den Kanzler und Europa als politische Ego-Spielwiese verstehen, auf der sie unkontrolliert die Fäden ziehen, sondern die für sich und die Völker Europas das Momentum kühn ergreifen wollen, um aus dem Stadium der Utopien in die mühsamen Ebenen der Team-Arbeit und kleinen Schritte zu wechseln.

Heinrich Brüning – genauso wie nicht viel später Roosevelt – hatten diese Visionen auch: der eine scheiterte am parteipolitischen Geschacher und dem Terror der Straße, der andere konnte seinen NEW DEAL durchsetzen und Amerika aus der Unwucht des Börsen-Crashs heraus führen und so auch das Fundament bauen, später die Achse des Bösens niederzuringen.

Auch die zweite Hälfte der zwanziger Jahres des 21. Jahrhundert sollten von Friedrich Merz und seinem Koalitionspartner entschieden genutzt werden, innere und äußere Feinde eines freiheitlichen Europas in die Schranken zu weisen und den Bürgern wieder Zukunftsoptimismus zu ermöglichen.

Für das Seelenleben der Europäer dazu hier der euphorische Aufruf Friedrich Hölderlins aus seiner Ode „Brot und Wein“, dem schon vor mehr als 200 Jahren ebenfalls eine Vision von einem friedlichen Europa vorschwebte: „Siehe! wir sind es, wir; Frucht von Hesperien ists!“

14 März

Europa – Meditation Nr. 493

Auf dem Floss der Medusa?

Europa in schwerer See. Auf jeden Fall. Die Staatsschulden in Frankreich, Italien und Portugal haben bereits eine Größenordnung erreicht, die zwar nicht mit der der USA zu vergleichen ist – astronomisch – die aber zurecht Besorgnis erregend zu bezeichnen ist. Nun hechelt Deutschland hinterher: mit zwei riesigen „Sondervermögen“ will die sogenannte politische Mitte aus der beängstigenden Sogwirkung einer sich ausbreitenden Rezession heraus rudern.

Vor 80 Jahren sah es verheerend in ganz Europa aus, Deutschland durchweg eine einzige Trümmerlandschaft und so viele Opfer, so viele! In Gaza oder im Südosten der Ukraine sieht es jetzt ähnlich schlimm aus, von den Flüchtlingslagern in Afrika ganz zu schweigen. Hasardeure haben Konjunktur – wie in den 30er Jahren schon einmal – Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber die ewig Gestrigen holen sich dennoch dort ihre ikonischen Vorbilder, auf Teufel komm raus.

Da muss unter den Menschen der Angst unbedingt etwas Kraftvolles, Positives entgegen gesetzt werden. Aber was könnte das sein? Ironischerweise scheint mutig „Schulden machen“ der Anfang eines Abwenden Könnens in dieser Situation zu sein. Auch Brüning hatte Anfang der 30er Jahre riesige Investitionspläne in der Schublade (u.a. jede Menge Infra-Struktur-Großprojekte wie Autobahnen etc.), doch die Straßenschlachten der Rechten gegen die Linken gepaart mit einem schlichten Sündenbock, den Juden, machten es dem schreienden Dritten leicht, die Verängstigten in s e i n Boot zu holen, bei den letzten freien Wahlen damals!

Diesmal scheint es so, als gelänge es der Mitte, solidarisch das Schulden Machen als Ausweg aus der Krise zu installieren: Keynes in ganz großem Stil also: der Staat macht Schulden, um über die Steuereinnahmen, die aus diesen großen Infra-Struktur-Projekten generiert werden, später die Schulden ordentlich wieder tilgen zu können. Vor allem aber hat es immaterielle Folgen: Die Menschen glauben wieder an eine Zukunft, für die es sich lohnt, sich anzustrengen, sich zu engagieren, geduldig mitzuhelfen, den Karren wieder aus dem Sumpf der Verdrossenheit, des Zynismus, des Kleinmuts und mangelnder Lebensfreude gemeinsam herauszuziehen. Denn nur so kann die derzeitige Generation Eckpfeiler in eine stabilere Ökonomie einrammen, damit die nachwachsende Generation nicht resigniert oder bockig irgendwelchen Rattenfängern auf den Leim geht, die lautstark heraus posaunen, die „wahre Alternative“ anzubieten.

Und natürlich ist es auch immer höchste Zeit: der Krieg in der Ukraine muss in einem gerechten Frieden beendet werden. Dazu muss Europa aber selbstbewusst und mit klarer Stimme dem Aggressor Paroli bieten. Auch das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser gilt es zu unterstützen, genau wie das der Israeli. Das kann aber Europa eben nur, wenn ein Gefühl von innerer Selbstsicherheit und Glaubwürdigkeit in den eigenen Ländern überwiegt und nicht Pessimismus oder gar Weltuntergangsstimmung vorherrschen.

Nach dem eher lähmenden Spektakel, das die Ampel-Regierung drei Jahre lang masochistisch und medial als linkischen Striptease hartnäckig zu inszenieren wusste, scheint in diesen Tagen den gewählten Akteuren allzu klar geworden zu sein, dass nur gemeinsam das Momentum der Geschichte an seinem Zipfel zu fassen sein wird, dass der Bürger angesichts der vielen Wellenberge, die auf ihn los donnern, aufgemuntert werden muss. Denn nur so lassen sich die wertvollen Potenziale europaweit aktivieren, in Stellung bringen und kraftvoll entfalten. Allein schon das Gefühl, die Exekutive geht gestärkt voran, lässt die Albträume eines untergehenden Floßes in schwerer See im Seelenkino der Bürger verschwinden, als hätte es sie nie gegeben.

10 März

Europa – Meditation Nr. 492

Scherben – Kaleidoskop

„Nun zerbricht der Westen, Europa und Deutschland stehen vor den Trümmern einer Weltordnung, Demokratiefeinde, Gewaltherrscher und Kriegsherren glauben an ihre Stunde.“ (SZ Nr. 52, Dienstag, den 4. März 2025 M e d i e n , Seite 9 „Sehnsucht nach den alten Sorgen.“ )

Was für ein apokalyptisches Vokabular wird da herbei bemüht! Geht es vielleicht auch eine Nummer kleiner? Zappelnd hangeln sich die Europäer von einer scheinbaren Zäsur zur nächsten: Jede Dekade ein irrlichterndes Event hält uns mit hehren Narrativen halbwegs wach: Der eiserne Vorhang fällt.rums! Der overkill steht vor der Tür, wow! Agent Orange regnet flächendeckend vom Himmel, Ohje! Ölkrise ist angesagt, teuer, teuer! Wir stehen zum Doppelbeschluss, treu zur Seite, klar! Plötzlich fällt die Mauer um, juchhu! Bankenbluff reißt Erspartes mit ins Nichts, Mist! Die Eine Welt, ein Kartenhaus, huch! Und jetzt auch das noch: Hofnarren huldigen ihrem Trampeltier, als wäre es von Gott gesandt, aua!

Dabei scheint es doch in all den Jahrzehnten nur darum gegangen zu sein, Bodenschätze zu verheizen, Reichtümer und Armut zu vermehren, Versiegelungen zu feiern wie unschuldige Gartenfeste und der Zauberformel vom Wachstum zu huldigen, als wäre auf der Skala nach oben kein Ende abzusehen.

Und der Lehrmeister in diesem makabren Totentanz war kein anderer als der „Befreier vom Bösen“, der den irregeleiteten Europäern großherzig verzieh und sie nachhaltig umerzog in seinem Sinne: Investieren, Schulden machen, mehr verbrauchen als man braucht und gnadenlos expandieren und den Zurückgebliebenen Entwicklungshilfe verordnen als Therapie hin zu Wohlstand für alle. So die Botschaft, die in allen Farben des Spektrums glitzerte und funkelte, als wären es harmlose Lichtspiele. In Wirklichkeit aber ist es der systematische Raubbau am Planeten Erde, auf dem die derzeitige dominante Species homo sapiens sapiens fleißig bis hysterisch an der eigenen Demontage werkelt.

Ist vielleicht ein Moment des Innehaltens möglich? Ein kritisches Betrachten dieser verflossenen Dekaden? Ein Einsehen, dass es mit Nebelkerzen und Stereo-Anlagen verstärkt ein wirklich unnatürlicher, dummer Weg war, der da unter der Flagge von „Freiheit, Demokratie, Individualismus“ immer mehr Zwänge, Fremdbestimmung und Einsamkeit als Eckpfeiler in unser Bewusstsein rammte?

Brauchen wir Europäer geradezu diesen Trampelmann in Übersee, damit wir endlich zur Besinnung kommen und uns angewidert von unserem eigenen Zerrbild abwenden können? Wollen? Müssen?

Dann könnte endlich eine Dekade beginnen, die eine Rückkehr zu den Lebensmustern der Natur und unserer eigenen Natur darin führen wird, die vor allem dadurch gekennzeichnet sein muss, dass der homo sapiens in moderater Echtzeit den Rhythmus des Kosmos anerkennt und nutzt, seine Lebensbasis wieder zu festigen statt zu ruinieren.