17 Jan.

Europa – Meditation # 432

„Herrschaft des Volkes“?

Der Liebllings- und Strahlebegriff der westlichen Welt ist seit eh und je die

„D E M O K R A T I E“.

Geradezu eine Zauberformel, die jeden denkbaren Konkurrenten bei weitem hinter sich lässt. Und da dieser Zauberbegriff schon so viele Jahrhunderte vor sich hin strahlt, ist er im Gedächtnis der Nutzer absolut sakrosankt – jenseits jeden Zweifels. Und so machten ihn die Europäer bei ihrer globalen Landnahme zum Exportschlager – nach dem Christentum der zweite Hammer, der die Welt erlösen sollte.

Schon diese kleine Vorrede legt nahe, dass da wohl etwas nicht stimmen könnte – mit dem Strahlen und Beglücken.

So ist es auch.

Übersetzt wird das aus dem Griechischen stammende zusammengesetzte Hauptwort mit:

„H E R R S C H A F T D ES V O L K E S“

Als wenn das gesamte „Volk“ die Herrschaft ausübte! Dabei ist unterwegs längst vergessen worden, dass mit „D e m o s“ im Griechischen lediglich die kleinste Verwaltungseinheit innerhalb der Polis – der ganzen Stadtgemeinschaft – gemeint ist. Also eher ein Begriff, der auf eine kleine Region innerhalb des Ganzen bezogen ist. Demnach wäre also ein Staat mit mehreren Millionen Menschen damit gar nicht angemessen charakterisiert.

Aber selbst wenn man den Begriff nur auf die kleinste Verwaltungseinheit bezieht, meint Herrschaft des Volkes aber auch dann, dass dort eine Gruppe eine andere beherrscht – denn zu jeder Herrschaft gehören immer zwei: der Herrschende und der Beherrschte. So auch schon in der antiken Polis: Da waren es die wohlhabenden Männer mit reichlich Grundbesitz über 25 – die Beherrschten waren der Rest: Die Frauen, die Metöken und die Sklaven. Also eine ziemlich steile Pyramide, wo oben die Herrschenden saßen und auf den Rest, die Beherrschten herabschauten.

Dennoch gelang es der Tradition dieses Strahle-Begriffs „DEMOKRATIE“ bis heute, sich als ein erstrebenswertes Modell zu verkaufen – schließlich haben die da oben auch immer das meiste Geld, den größten Grundbesitz und mit dem Erbrecht in männlicher Folge auch die kontinuierliche Weitergabe des eigenen Besitzes, der sich so stetig vermehrt. Und bis heute wird auch in Werbekosten für diesen Begriff gerne ordentlich rein gebuttert, um nur ja nicht durchzublicken! (Da lassen sich die Reichen/Herrschenden wahrlich nicht lumpen!)

Es scheint, dass das Strahlen des Begriffs die Betrachter blind macht: denn er ist nicht weiter als das Geschäftsmodell des Patriarchats seit zehntausend Jahren. (Die Werbekosten haben sich also gelohnt!!!)

Wenn wir auch heute noch an diesem Begriff festhalten, tun wir nichts anderes als einen erbärmlichen Kotau vor einem verstaubten Herrschaftsmodell hinzulegen, der die überwältigende Mehrheit der Polis in kleinen Verhältnissen domestiziert, gekoppelt mit einer Sexualmoral, die auch auf dieser Ebene sicherstellen soll, dass die Herrschenden Männer die Frauen bis in ihre innere Natur hinein bevormunden dürfen.

Es wäre also wirklich an der Zeit – und die Zeichen sind erstmals günstig – dieses traditionelle „Herrschaft des Volkes“-Modell ad acta zu legen, und es durch ein ehrliches Modell der Teilhabe aller – auf regionalen Ebenen – zu ersetzen, und damit auch den Frauen endlich das zu geben, was ihnen sowie so zusteht: vollkommene Gleichberechtigung. Nicht in irgendwelchen Präambeln oder Festreden, sondern im wirklichen Leben, wo sie bis heute die entscheidende CARE-Arbeit kostenlos und zu ihrem eigenen beruflichen Nachteil abliefern. Die seelischen „Kosten“ dabei sind wahrlich furchterregend und jedem Gleichheitsgedanken ein Schlag ins Gesicht.

27 Dez.

Europa – Meditation # 431

Hochwasser, Kriege, Flüchtlinge, Besserwisser en masse.

Wer kennt die vierzehn jungen Menschen, die in der Prager Universität, der altehrwürdigen, einfach so willkürlich erschossen wurden? Wer die in der Ukraine, die in Palästina, die in Nigeria?

Wir Europäer, die bisher doch immer so voller Stolz auf ihre Geschichte und ihre Geschichten waren, können kaum mehr die pausenlosen Info-Duschen bewusst aufnehmen. Vielleicht noch als Rauschen, als überwältigender Wasserfall, aber nicht mehr als unsere eigenen Gedanken über das, was war, was ist und was wohl sein könnte.

Bis gestern lebten wir noch in einer Medien-Demokratie: Tag für Tag lieferten die Medien neue kritische Kommentare zu den Entscheidungen unserer politischen Entscheider. „Natürlich“ wusste man es besser, hielt die sogenannten Kompromisse für faul und die eigenen massiven Einwände für cool. Für 82 Millionen Menschen konsensfähige Entscheidungen zu treffen, ist ja wohl mindestens die Quadratur des Kreises, mindestens. Die Zaungäste allerdings gebärden sich so, als hielten sie den Joker im Ärmel. Souverän. Scheinbar.

Heute – aber ganz sicher morgen – wird die Medien-Demokratie links und rechts überholt von den Pixel-Zwergen, Schuhgröße o und Brustumfang 1…das kann sich ja wohl jeder merken – oder?

Dass wir allerdings beim Nach-Denken nicht nur ein und ausatmen müssen, sondern auch im Gehirnkasten die Eingänge sortieren und bewerten sollten, bevor wir sie mit selbstbewusstem Kommentar wieder in die Welt entlassen können, das verschweigen wir lieber sibyllinisch, damit wir weiter gut dastehen. Klar.

Doch der Konkurrent – nicht nur was die Geldbörse betrifft, sondern auch die scheinbar zutreffende Antwort auf das Pixel-Angebot – nutzt unser Zögern (schon schleicht sich das unangenehme Gefühl von Schwäche ein und sorgt für ordentlichen Pseudo-Alarm) und gebärdet sich stolz als Gewinner im Gesellschaftsspiel.

Flüchtlinge, die gab es doch schon immer, Hochwasser, passt irgendwie zur Jahreszeit, Kriege lassen die Gewinne – volkswirtschaftlich gesehen – geradezu durch die Decke gehen.

Europa – geographisch zwar ein Winzling – windet sich wie immer elegant durch die Welt-Probleme und hofft wie immer auf der Gewinnerseite zu landen, schließlich sprechen die Erfolge der Vergangenheit eindeutig dafür, dass Europa auch weiter Gigantisches hervorbringen wird. Es sind also nicht nur die Pixeltsunamis, die den Europäern den Blick auf die eigene Natur und auf die um sie herum verstellen, sondern auch die eigenen Hirngespinste, die trotzig, eitel und bieder für wirklich genommen werden.

21 Dez.

Europa – Meditation # 430

Der Unwetter-Kreisel dreht sich weiter und weiter.

Zur Zeit ist er wieder mehr auf der andere Hälfte der Erdkugel unterwegs, der Unwetter-Kreisel, sorgt für Überschwemmungen und Wirbelstürme. Und die Statistiker schauen in ihren langen Tabellen nach, ob es vorher schon einmal solch heftige Ausschläge gegeben habe. Meistens ist die Antwort: nein.

Wir aber auf der nördlichen Halbkugel finden das Wetter zwar ungemütlich, weil zu nass und zu kalt und zu windig, aber so waren doch die letzten Winter alle. Jedenfalls laufen die Talsperren endlich wieder voll, berappelt sich der Grundwasserspiegel Richtung Normallage – was soll also das ganze Gejammere überhaupt?

Da zeigt sich das Kurzzeitgedächtnis des homo sapiens von seiner Schokoladenseite: Nächstes Jahr wird bestimmt alles besser. Alternative Energie wird weiter wachsen, das Brutto-Sozial-Produkt ebenfalls, der Anteil an Elektrofahrzeugen wird so richtig durch die Decke gehen (wir Europäer müssen jetzt endlich mal hier produzierte E-Autos nach vorne bringen) – also wird doch alles besser werden – oder?

Außerdem werden sicher auch noch in anderen Staaten Europas endlich Ministerien für Einsamkeit geschaffen werden (die neuesten Beschlüsse in Sachen illegaler Zuwanderung in ganz Europa werden endlich dieses Fass ohne Boden gründlich reparieren), schließlich ist das andauernde, stumme Starren auf Bildschirme ein echter Schlauch für die nach Kommunikation gierende Seele. Und das monotone Hämmern auf der Tastatur tut dem Bewegungsapparat auch nicht gut.

Wie wäre es denn da mit dem analogen Lesen eines wirklichen Buches und dem anschließenden Debattieren über das Gelesene mit Freunden, die tatsächlich einem direkt analog gegenüber sitzen?

Um nicht zu übertreiben bei dem Neustart, schlage ich ein dünnes Büchlein – nicht einmal 100 Seiten – von Peter Sloterdijk vor – mit dem dramatischen Titel: Die Reue des Prometheus. Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung.

Da werden wir nämlich ganz fest an die Hand genommen, auf Sauf- und Sextourismus samt All-inclusiv-Kreuzfahrten zu pfeifen und stattdessen – jetzt zum Beispiel: in der Tag-und Nachtgleiche mit Glühwein und herzhaftem Bissgut versorgt – mit den ebenfalls frustrierten Nachbarn auf bessere Zeiten anzustoßen. Nebenan auf der Wiese am besten. Denn da wird – ähnlich wie im Sommermärchen, dem völlig unterschätzten – ein wärmendes Wir-Gefühl bedient, das wir mehr brauchen als alles andere. Das kostet nicht viel, bringt aber so einiges an Wohlbefinden, unerwarteter Nähe, aus der dann auch Solidarität wachsen kann. Kann man üben. Auch auf der Straße. In allen großen Krisen war Helfen in großem Stil einfach angesagt. Da kam Optimismus richtig in Fahrt. Kriegen wir zusammen hin.

Wenn Mütter genervt auf dem Kinderspielplatz die Wohlerzogenheit des eigenen Kindes vergeblich vorzuführen versuchen, kann es vorkommen, dass drei oder vier seufzende, alleinerziehende junge Frauen jovial zuzuhören scheinen, wenn eine besonders kluge sagt: „Zur Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf“.

Das Witzige an diesem Satz ist allerdings, dass er – leicht abgewandelt – auch für uns, die mit dem Glühwein in der Hand und der Pokerface-Maske auf dem Weihnachtsmarkt, gilt:

„Zum Wohlfühlen braucht es eben ein ganzes Dorf – aber auf gar keinen Fall die unterkühlte Anonymität der großen Städte oder Metropolen!“

Kiez, Veddel oder so und ohne diese Blechkisten-Anmache auf und unter der Erde. Überschaubar eben, vertraute Gesichter. Das wäre echt ein qualitativer Sprung nach vorn – wer da von Verzicht reden will, hat einfach nicht verstanden, was die Uhr geschlagen hat, um den Unwetter-Kreisel wieder zu beruhigen.

Sonst werden bald schon die Bilder aus dem Ahrtal – schon vergessen? – getoppt werden von solchen in Alpentälern, von Bergrutschen verschüttet, von trocken gelegten Auenlandschaften, in denen das Vieh ersäuft, und von überlaufenden Staudämmen und noch übleren Bränden in Brandenburg.