27 Juni

Europa – Meditation # 402

Der Sport als Spiegel der Gesellschaft – alles andere als ein Labyrinth.

Die Zuschauer verdrehen die Augen: „Das ist ja zum Pferde melken! Immer diese langweiligen Querpässe und nichts als Ballbesitzfußball. Das ist ja die reinste Schlaftablette!“

So oder so ähnlich klingen Kommentare des kompetenten Publikums nun schon länger. Was ist da los im deutschen Fußball? Kommentatoren reden sich um Kopf und Kragen, um doch noch irgendwo so etwas wie einen Anspruch der Spieler zu entdecken: Redliches Bemühen, hehre Absichtserklärungen vor dem Spiel, Zerknirschung hinterher und Besserung versprechend.

Auch hier passt Alexander Kluges Film-Titel von einst (Venedig, 30. August 1968): „Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos“. Nur sind die Ballartisten von heute inzwischen zu Ballverwaltern geschrumpft und ratlos scheinen sie sowie so durch und durch.

2014 ist wohl die Wende gewesen – so wird man später vielleicht einmal resümieren.

Seitdem werden Trainer und Trainerinnen gewechselt, wird fleißig experimentiert, aber es wollen sich einfach keine wirklich substantielle Verbesserungen einstellen. (Außer natürlich bei den Gehältern: da wachsen die Träume gerade fast in den Himmel) Woran könnte es liegen? An der Vergütung jedenfalls nicht. Ein Nörgler und Besserwisser könnte sich sogar zu dem Statement hinreißen lassen: „Denen geht es einfach zu gut.“

Von Defiziten ist die Rede: Es sei eine Mentalitätsfrage: fehlende Konsequenz, mangelnde Entschlossenheit, abwesender Wille. Ein schwerwiegender Dreierpack. Vom Sportdirektor persönlich und freundlich aus dem Hut gezaubert. Wenn man das als magisches Dreieck zugrunde legen möchte, dann ist es alles andere als ein Labyrinth. Dann ist es ein sehr überschaubares Muster, an dem man sich wahrlich leicht orientieren könnte. Aber warum tut „man“ es nicht?

Warum nicht einen großen Bogen zur Gesellschaft als Ganzes schlagen? Vielleicht kommt ja von daher eine Antwort, die plausibel und peinlich zugleich zu sein scheint – wie bei einem Blick in einen Spiegel.

Die Generation, die den Ist-Zustand erzeugt und zu verantworten hat, kommt in die Jahre. Mobilität und Digitalität haben rapide zugenommen. Gleichzeitig expandieren Versicherungen und Börsennotierungen. Man lässt das Geld für sich arbeiten, man wird zum Zuschauer einer scheinbar unaufhaltsamen Vermehrung von Mehrwert, von Kapital. Und gleichzeitig

will die Generation der Kinder Tag und Nacht pausenlos unterhalten werden, Spiele spielen, Fotos und Nachrichten senden und empfangen. Diszipliniertes Arbeiten und klare Strukturen für den Tag – Schule inbegriffen – werden zu absonderlichen Skurrilitäten von Nerds oder Langweilern, die keine Freunde haben.

Und natürlich will man keine Fehler machen. Also schieben wir den Ball hin und her, erfinden die Zauberformel vom Ballbesitzfußball, und warten auf die Fehler des Gegners, Verantwortung ist immer an jemand anderen delegiert. Ein sehr zähes, einseitiges Spiel. Auch für die Zuschauer. So verabschiedete sich nach und nach jede Dynamik aus dem Spiel, die Haben-Gesellschaft hatte nun also auch den Fußball in Besitz genommen – da waren einmal die neuen Eigentümer der Stadien und Vereine aus den Emiraten und zum anderen die Eigentümer des Fußballs, die Ballbesitzer auf dem Fußballfeld, die den Gegner nur noch sporadisch mitspielen lassen. Eine verlässliche Statik drinnen und draußen also, die ordentlich Geld generieren soll. Mit Spiel, Witz, Überraschung, Tempo, Kühnheit – von Steilpässen ganz zu schweigen – hat all das nur noch wenig zu tun. (Toni Kroos kann froh sein, dass er nach Madrid wechselte, dort liebt man seine genialen Pässe, die phantastische Spielzüge erst ermöglichen!)

Und diese Art von statischem Ball-Bild findet nicht nur in den A-Mannschaften statt, sondern auch bei der U 21 – U 19 und inzwischen scheint auch die Frauenfußball in Deutschland davon infiltriert zu sein. Die bescheidenen Ergebnisse spiegeln diese Entwicklung sehr deutlich – nur versuchen die Beteiligten, wie auch die Kommentatoren, nach dem Prinzip Hoffnung mit dem zerknirschten Argument Mut zu machen, dass man einsehe, dass es so nicht weiter gehen dürfe und Besserung unmittelbar bevorstünde.

Genau wie in einer Gesellschaft, in der nicht mehr Risikobereitschaft, Neugier und unbedingter Siegeswille die Parameter sind, die junge Menschen umtreiben sollten, so ist auch der Elan und der Esprit im Fußballsport abhanden gekommen, so dass nur biederste Kost geboten wird. Der Zuschauer ist bedient, pfeift und geht.

Wie die deutsche Bahn mit einem Blick über den Zaun in die Schweiz einiges lernen könnte, so auch der DFB und seine Kader, wenn sie nach Kroatien oder Spanien schauten. Da treffen sie auf eine Leidenschaft, die die jungen Menschen zu Höchstleistungen beflügelt, während die Mannschaften in Deutschland wie gedopt, ausgebremst, apathisch und selbst gerecht vor sich hin dümpeln.

20 Juni

Europa – Meditation # 401

Das Märchen vom Märchen.

Es läuft einem eiskalt den Rücken herunter: Deutschland. Ein Wintermärchen. Aber in beiden Fällen – bei Heinrich Heine und 2006 – geht es um die Umschreibung einer Wirklichkeit, die beileibe keine märchenhaften Züge hat.

Denn zur Zeit – trotz der zunehmenden Hitze – ist Kälte angesagt: Da allen mehr und mehr die Mittel ausgehen (weil die Inflation blüht und gedeiht, weil die Preise auf hohem Niveau Polka tanzen, weil Energiepreise aus dem Ruder zu laufen beginnen), läuft es den Menschen eiskalt den Rücken herunter: Wie sollen wir denn eine Ferienwohnung buchen, wie sollen wir die Energiepreise für den Winter wuppen, wie den Kita-Platz, die Ausbildung, das Studium finanzieren, wie die Schulden tilgen?

Und das Sommermärchen? Natürlich muss das, was da – meist spontan und nicht groß geplant – 2006 viele erleben durften, ins Reich der Märchen exportiert werden. Denn sonst könnten die begeisterten Menschen ja meinen, dass die Risse, die durch die Eigentumsgesellschaft klaffen, gar keine natürlichen Verwerfungen sind, sondern bloß schlechte Gewohnheiten, die Menschen in künstliche Sektoren pfercht.

Da standen doch tatsächlich wildfremde Menschen aus unterschiedlichsten sozialen Welten zuprostend nebeneinander, fachsimpelten fleißig und hitzig, lachten frei von der Leber weg und duzten sich auch noch einfach so. Und kamen wieder. Knüpften an die Gespräche vom Vortag an, tranken Bier und lachten schon wieder um die Wette. Man hatte ein Thema, man nahm Stellung. Männer wie Frauen. Es war kein Märchen, es war lediglich märchenhaft angenehm, unterhaltsam und bis dahin unvorstellbar.

Was könnte man daraus lernen (wenn es nicht umgehend zu einem Märchen verniedlicht worden wäre?)?

Dass die materiellen Unterschiede nicht zu sozialen Ghettos mutieren müssen, dass der homo sapiens stets derselbe bleibt und viel Hass und Gewalt heraus genommen werden könnten, wenn nicht fleißig an mentalen Betonmauer gearbeitet würde. Und dass in kleinerem Rahmen – das Viertel, der Kiez – sozialer Austausch lebendig und respektvoll gelebt und gepflegt werden könnte. Der Sommer 2006 ist ein gutes Beispiel dafür. Und gerade deshalb wird es immer wieder zu einem Märchen verunglimpft, Weil inzwischen -die Eigentumsgesellschaft erzeugt über materielle Fakten soziale Gräben – immer weniger immer mehr von diesem Ghetto-Denken profitieren. „Erzähl mir doch keine Märchen!“

19 Juni

Europa – Meditation # 400

Litanei im Spiegelkabinett

Nicht nur die Medien in Europa scheinen einen Sprung in der Platte zu haben, nein, auch wir Konsumenten. Denn in einem fort speichern wir unser global bestens vernetztes Wissen auf unserer Festplatte – früher bezeichnete man es mit dem sperrigen Begriff „Gedächtnis“ – ordnen es alphabetisch ein und rufen es bei passender Gelegenheit ab, als wäre es eine Liste für den Einkauf auf dem Markt.

Wie in einer Litanei wiederholen wir das, was wir für richtig halten – ermüdend bis zum Überdruss:

Zunehmende Kriegshandlungen

Zunehmende häusliche Gewalt

Zunehmende Erderwärmung (Meere inklusive)

Zunehmende Beben und Eruptionen

Zunehmende Flüchtlingsströme

Zunehmende Drogentote

Zunehmende Preise und Inflationsraten

Wir wissen Bescheid. Wir wiederholen unser Wissen. Wir wissen sogar, dass dringender Änderungsbedarf ansteht. Und ob. Und was tun wir dafür?

Und schon springt der Arm zum nächsten Sprung auf der Platte:

Die liberale Demokratie sei in Gefahr

Die etablierten Parteien verlören rasant an Vertrauen

Die gewählten Vertreter in Legislative und Exekutive,

verstrickt in Seilschaften, hätten das Gemeinwohl längst

aus den Augen verloren

Solche und ähnliche „Narrative“ stehen uns gerne bei, um uns selbst aus der Schusslinie zu holen. Das klappt wunderbar.

Tempo und die anonyme Masse ersparen uns scheinbar die Eigenverantwortung, die jeder trotz alledem hat.

Und als Quintessenz dieser Litanei kommt dann in der Coda der „Angstzauber“ nach vorne: „Die Zukunft des Westens“ sei nicht nur düster, sondern vorbei, wenn nicht – und dann beginnt die Litanei wieder von vorne.

Das Eingemachte nämlich – das Privateigentum, das Patriarchat und das Wohlstandswachstum – bleibt von dieser Litanei selbstverständlich unberührt. So gruselt es schön weiter im apokalyptischen Chor der Besserwisser, die wir sind.

„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Klügste im ganzen Land?“