11 Apr.

Europa – Meditation # 389

Leserbrief an die SZ – zu dem Artikel von Hubert Wetzel – „Realität verkannt“ / Nr. 83, Dienstag, 11. April 2023

Zwischen Dogmen und anderen nützlichen Sehweisen

Da habe also ein Europäer ein umfassendes Desaster angerichtet, sagt Herr Wetzel. Große Worte, große Vorwürfe. Aber natürlich von sicherem, logischen Boden aus, versteht sich.

Denn die lautere Interessen-Verbindung der USA und Europas wird selbstverständlich als gegeben – als Dogma sozusagen – hingestellt. Und natürlich werden große Bilder in den Raum gehängt: da habe jemand einen Keil zwischen die Beziehung der USA und Europa getrieben, ja, er habe sogar einen Graben quer durch Europa aufgerissen, es sei also ein immenser Schaden angerichtet worden. Jenseits der Superlative läuft ja sowie so nichts.

Und wie entsteht solch ein Überwältigungsgemälde? Ganz einfach: Man nehme einfach die Wirklichkeitsform (den sogenannten „Indicativ Praesens“) und reihe mit ihm Satz an Satz. Das Sprachgebilde gebärdet sich so im Handumdrehen zu einem wasserdichten Schutzdamm, einem Dogma, gegen etwaige Fragen, Zweifel, Einwände, Alternativen. Oder das immer für Sicherheit im Denken garantierende Schwarz-Weiß-Sprachmodell: Hier die Freunde, die treu zu einander stehen und dort die Ungetreuen, die Zwietracht säen – aus reinem Mutwillen oder kurzschlüssigen Schnellschüssen. So einfach scheint das beim ersten Lesen. Nimmt man sich aber die Zeit zum Nach-Denken und erneutem Lesen, dann beginnt die biedere Wirklichkeitsform der Sätze ins Wanken zu geraten: Könnte es nicht sein, dass es bloß gewohnte Denkmuster sind, die wie eiserne Gleise, die politische Wahrnehmung auf Linie halten – Europa, die NATO und die USA als Bollwerk wider die Gefahren aus dem Osten? Muss man nicht einfach groß denken angesichts so großer Bösewichter im globalen Maßstab? Und werden dann biedere nationale Interessen nicht allzu gern klein geredet? Oder das Lehrstück vor der UNO, als Bilder vorgeführt wurden, die einen Präventivschlag für unabänderlich – oder im Merkel-Jargon für „alternativlos“ – erscheinen ließen? Schon vergessen? Damals war nichts mit Nibelungentreue – jetzt möchte man sich gerne damit schmücken. Die scheinbar logischen Klickklacks internationaler Verwicklungen können so schön glatt gebügelt werden. Scheinen doch selbst jedem Kind einzuleuchten.

Wäre es nicht zumindest erwägenswert, die amerikanischen Interessen im asiatischen Raum nicht zu unterschätzen und auch uns Europäern zu gestatten, solche Interessen nicht als auch europäische darzustellen, nur um der Nibelungentreue nicht gegen das Schienbein zu treten? Sollten wir Europäer nicht eher – angesichts einer langen Geschichte der Domestizierung unter europäischer Dominanz weltweit – in den Windschatten des Zeitgeistes treten und Ansätze in diese Richtung nicht gleich als Defätismus diffamieren? Könnte in der Zukunft nicht vielleicht sogar das kleinere Format das erfolgreichere werden – jenseits hegemonialer Spiegelfechtereien? Und da wären die USA sicher nicht das geeignete Vorbild für Europa, haben die uns doch nach dem Zweiten Weltkrieg zu braven Konsumenten und Wachstumsaposteln geduldig bekehrt und konditioniert. Vielleicht hat Macron gar nicht „außenpolitisch seinen Bankrott erklärt“, sondern – wie einst der alte Cato unermüdlich nur wiederholt – Europa solle lernen, zu einer eigenen europäischen Politik zu stehen, jenseits amerikanischer Interessen.

05 Apr.

Europa – Meditation # 388

Die Demütigungs- und Kränkungserzählung blüht weiter.

2023

Gerade zu Ostern, wo Friedenstexte ordentlich Konjunktur haben, passt es doch ausgezeichnet, wenn auch ein paar Brosamen für unsere Brüder und Schwestern drüben mit abfallen.

1919

Im Deutschen gibt es den Begriff D i k t a t f r i e d e n .

Schon im Begriff schlummert der Unfrieden weiter.

Beladen mit heftigen Gefühlen. Von gekränktem Stolz, von Erniedrigung, von schlimmen Lügen. Im historischen Gedächtnis bis heute sehr unterschiedlich aufbewahrt.

1990

33 Jahre ist es her – so alt war doch auch der Wanderprediger damals am Jordan, als er von Versöhnung, Frieden und Eintracht fleißig predigte – seit die getrennte Großfamilie Deutschland friedlich wieder vereint ist (dank der müden Großmächte, die für einen Moment keine Lust mehr zu haben schienen auf Vorherrschaft, alte Rechnungen und Konflikte).

Es gibt auch immer einen dritten Weg – das war 1953 so, als die Mitte Europas für einen Moment auch als neutrale Brücke zwischen dem Osten und dem Westen denkbar schien und das war auch 1989 so, als dieselbe Mitte zu einem dritten Weg hätte aufbrechen können; mit einer gemeinsam geschriebenen neuen Verfassung, in dem die besten Ideen aus zwei völlig verschiedenen Denkansätzen verschmolzen wären – jenseits der ehemaligen ideologischen Blöcke. Aber diese Wege wurden nicht beschritten. Stattdessen „trat die DDR der BRD bei“. Das Volk wurde nicht gefragt. Damit verschwanden auch die Ideen des sogenannten „Runden Tisches“ sang- und klanglos in der Versenkung.

Die Folgen dieses hastigen „Beitritts“ erleben wir bis heute. Demontage – erinnert irgendwie an die Zeit nach dem ersten und dem zweiten Weltkrieg. Die Sieger ließen demontieren. Nur sind es diesmal die Deutschen selbst, die die Deutschen demontierten. Im wahrsten Sinn des Wortes:

„Erst haben wir euch euer Land weggenommen, dann die Arbeit, schließlich die Frauen“ – klingt das nicht, als sabbere ein alter Kolonialherr über seine Erinnerungen, die ihn zwar manchmal auch plagen, die er aber auch genießt wie ein Aphrodisiakum?

So fühlten sich die anfangs euphorisierten Schwestern und Brüder wie wirkliche Schwestern und Brüder – wenigstens für ein paar Wochen – bis ihnen nach und nach dämmerte, dass sie nicht nur über den runden Tisch gezogen worden waren, sondern dass man sie – die sich 40 Jahre als klassenlose Gesellschaft versucht hatten zu fühlen – zu Menschen zweiter, dritter Klasse degradierte. Gnadenlos, gesichtslos. Die Rechtssprechung „Rückgabe vor Entschädigung“ und die neue Währung erledigten das automatisiert. Den jungen Frauen blieb nur die Abwanderung, die jungen Männer fuhren entweder unerfahren gegen Alleebäume oder flüchteten unter Mutters Rock oder unter die Flagge derer, die für massiven Gegenwind Stimmung machten und machen. Oder wurden Drogenfans. Großflächig wurde so gesellschaftliche Teilhabe oder gar Mitgestaltung verunmöglicht.

Die angekündigten „blühenden Landschaften“ sind inzwischen menschenarme Liegenschaften fremder Eigner, die nichts anderes im Sinn haben als Profitmaximierung. Ironie des Schicksals? Der ehemals als Klassenfeind nieder gesungene Bruder spielt nun selber die erste Geige, gnadenlos.

Arbeitslosigkeit und Altersarmut gehen Hand in Hand durchs alte Land, das sich nun nur noch als touristische Attraktion gewinnbringend für betuchte Fremde anbiedern darf, wenn überhaupt.

Und darunter köchelt weiter – sprachlos, wie nach Ende des Zweiten Weltkriegs schon einmal – die Demütigungs- und Kränkungssuppe: Die einen, die trotz ihrer menschenverachtenden Machenschaften mit weiß gewaschenen Westen einfach in ein neues – vorzugsweise verbeamtetes – Leben übersiedelten und nun die Rentenpolster genüsslich absitzen, die anderen, die schwer traumatisiert nicht nur nicht ihr eigenes Leben in den Griff bekommen können, sondern sich darüber hinaus auch randständig noch als Versager verständnisvoll anlächeln lassen müssen.

In der Ukraine ist Krieg.

In Deutschland nicht. Es sei denn, man bezeichnet das, was hinter den Kulissen ausgetragen wird, ebenfalls als Krieg.

Dafür gibt es bloß einen neuen D i k t a t f r i e d e n.

Hier werden die Sieger und Verlierer viel wirkungsvoller voneinander geschieden: An der Oberfläche sollen sie wie eine Einheit wirken (das ununterbrochene Unterhaltungsprogramm samt social media ist die Zauberdroge dabei), aber alles, was da drunter vor unglaublicher Zerrissenheit so lange schon lautlos schreit und schreit – da können die klerikalen Profis von den Kanzeln zu Ostern säuseln wie sie wollen – bleibt individualisiert als individuelle Abweichung von der nicht befragbaren Norm der hyperventilierenden Verbraucher. Frohe Ostern!

30 März

Europa – Meditation # 387

Muss erst ein fremder König kommen?

Das geschichtsträchtige, hohe Haus in Berlin hat hohen Besuch: ein alter König hält eine Rede in zwei Sprachen, die jeder verstehen kann – so klar, so schnörkellos, so konkret.

Und wenn man bei dieser Rede in die Gesichter der deutschen Zuhörer schaut, dann spürt man bei vielen, wie schwer es ihnen fällt, freundliche Worte, Komplimente und Humor gut finden zu wollen.

Denn der Alltag in diesem reichen, erfolgreichen und stolzen Land ist viel mehr gekennzeichnet von schlechter Laune, von kränkelnder Anspruchshaltung und Besserwissertum.

Und da stellt sich doch tatsächlich ein König aus England ans Rednerpult, lobt das Gastland über die Maßen, erinnert an gemeinsame Anstrengungen, Freiheit und Wohlstand auf einen Nenner zu bringen, solidarisch jedem Gegner gegenüber zu sein, der sich solchen Werten kriegerisch entgegen wirft.

Und mit Humor den biederen Alltag zu bereichern, aber vor allem auch gemeinsame Anstrengungen anmahnt, um diesem Planeten, dem mehr und mehr die Puste auszugehen droht, noch eine lebenswerte Chance zu geben.

Der Regenbogenpresse wird diese Rede sicher gar nicht schmecken: Familienranküne oder Neid und Missgunst kommen einfach nicht vor, lösen sich angesichts der großen gemeinsamen europäischen Aufgaben in nichts auf.

Mit Ernst und unmissverständlich wird der Kraftanstrengung gedacht, die nötig war, um Europa von den Deutschen zu befreien, die jenseits europäischer Werte sich breit zu machen versuchten.

Und der nun da steht und sich nicht lange an alten Rechnungen abarbeitet, sondern optimistisch eine gemeinsame europäische Zukunft im Auge hat, die nur als gemeinsamer Kraftakt in Sachen erneuerbare Energien zu bewältigen ist.

Wie einfach und klar doch die wichtigen Themen besprochen werden können! Wie peinlich doch demgegenüber das laute Gehabe der aufgeregten Nörgler und Besserwisser wirkt, das Tag für Tag die Medien abends den Deutschen ins Wohnzimmer spielen!

Und kaum haben sie das Hohe Haus palavernd verlassen, fallen sie wieder in ihre alten Muster von schlecht gelaunten Scharfdenkern, denen es um nichts als die Sache geht!