19 Sep.

Europa – Meditation # 356

Wir – Kinder unserer Zeit – wie ehedem auch Karl May.

Natur – Krieg und Frieden – Völkerwanderungen – Zivilisationen – Utopien

„Mehr sein, weniger brauchen“

Während in London in Dauerschleife nostalgische Blüten sprießen, schön gesprenkelt mit weltweitem Streusel drauf, und man sich gerne ablenken lässt von den festgefahrenen Sehweisen alltäglicher Befindlichkeiten – was habe ich denn mit dem Krieg in der Ukraine oder in Nord-Ost-Syrien oder in Tygris oder im Kaschmir oder Berg-Karabach zu tun? Doch höchstens insofern, als ich beleidigt auf die steigende Inflationsrate und die Preissteigerungen schimpfe – versumpfen die ehemals aufgeregten Bilder vom Sturm aufs Kapitol, der überhasteten Abflugfolge in Kabul, den toten Bauarbeiten in Katar, den vielen Ertrunkenen im Ahrtal oder den letzten Wahlkampf in der BRD im bereit stehenden Bottich allen Flüchtigen: Schwamm drüber, schauen wir nach vorne.

Was früher die sogenannten Völkerwanderungen waren, sind heute die Flüchtlingswellen von Osten nach Westen, von Süden nach Norden. Mit einer ordentlichen Gewinnspanne für die Schlepper, auch von jungen Mädchen aus Osteuropa oder Asien. Kollateralschäden frei Haus. Man selbst hebt resigniert die Hände: Was soll ich denn da machen? Kann ja sowieso nichts ändern!

Oder 1888 – im sogenannten Dreikaiserjahr: Da wird Karl May ganz schön gestaunt haben über die Bilder aus Potsdam, wo reichlich uniformierte Männer mit bedeutungsschweren Mienen hinter einem Katafalk her marschierten, umrahmt mit blechschwerer Trauermusik und Fahnen über Fahnen der kaiserlichen Familie. Kaiser Wilhelm I stirbt, Kaiser Friedrich III folgt ihm nicht viel später und aus dem Ärmel wird der allzu junge und unerfahren Wilhelm II gezaubert. Was für ein Szenario unter dem deutsch-preußischen Himmel! Das Volk ergriffen, Trauerübungen zuhauf. Als gäbe es nicht genug Sorgen für die kleinen Leute im Zeitalter der galoppierenden Industrialisierung – damals wie heute! Und dass Karl May da gerne in die Ferne schweifen wollte, um Natur und Menschen, die in und mit ihr lebten, zu besingen, scheint problemlos nachvollziehbar.

Und wir, die wir als junge Leser gerne mitreisten in jene ferne naturnahe Welt der „Indianer“, staunten, was die Natur den Menschen dort alles zu bieten hatte, wie sehr sie auskamen, mit dem, was sie ihnen zur Verfügung stellte zum Anfertigen warmer Kleider, zum Essen und Wohnen und wie sehr sie alles behutsam, sorgsam und schonend benutzten, damit es lange hält. Und wie präsent sie mit ihren Sinnen waren – Tag und Nacht – um überleben zu können. Da kann heutzutage der Slogan: Mehr sein, weniger brauchen!“ wie ein Echo aus solcher Lektüre klingen.

Aber schon ist es vorüber. Der mediale Dauerton fordert wieder seinen scheinbar unwiderstehlichen Tribut: Umschalten! Wischen, Huschen, Hecheln! Und schon ist es vorüber, das Leben.

13 Sep.

Europa – Meditation # 355

„Träum weiter, Europa!“

Wachsendes Wachstum war bisher ein kühner Wechsel auf die Zukunft, der suggerierte, dass jeder Tag wie der vorhergehende sein würde, nur eben ein bisschen mehr von allem dazu. So konnten wir Europäer glauben, dass wir alles richtig machen, wenn man nur ehrgeizig und unverfroren genug war, dem Konkurrenten zuvorzukommen. Und bezahlen würde man den Wechsel natürlich ohne Probleme, später, weil ja weiteres Wachstum weitere Gewinne versprach.

Nun ist dieses Märchen unversehens auf den Prüfstand gestellt:

Finanzkrise, Bildungskrise, Klimakrise, Virenkrise, Kriegskrise; Energiekrise, Geldkrise – lauter Lego-Steine, die aufeinander gestapelt auf einmal bedenklich zu wackeln beginnen. Oder stürzen sie schon wie ein Kartenhaus in sich zusammen?

Haben die Europäer dank ihrer potenten Krakenarme nach Afrika, Asien und Amerika einfach nicht sehen wollen, was dieser radikale Raubbau mit dem Globus macht? Hatten sie nicht stattdessen frisch, fromm, fröhlich und frei Amerika und China für einen Absatzmarkt ohnegleichen gehalten und gleichzeitig große Teile der Produktion ausgelagert, um im kleinen Europa nur noch on demand die Endmontage zu gestalten? Kostengünstig und Gewinn bringend? Neo-Liberalismus lautete die Zauberformel.

Die Börsenkurse gaben ihnen scheinbar recht, denn die gingen höher und höher. Dabei war es doch nichts anderes als die Spekulation auf eine Traumfassung von Wachstum – also eine virtuelle Blase in einem virtuellen Traum der sowieso schon Wohlhabenden; die Abgehängten dürfen währenddessen in opulenten Serien Traumbilder konsumieren, damit sie glauben können, sie gehörten dazu.

Aufgeschreckt sollen nun die Politiker von heute auf morgen die Rezepte liefern – aber dalli, dalli! – die ein unangenehmes Erwachen aus dem Wachstumstraum verhindern sollen. Um jeden Preis. Als ließe sich das Chaos, das das Marktgeschehen unter kapitalistischen Rahmenbedingungen in Wirklichkeit schon immer war, plötzlich als berechenbares Szenario in Häppchen schneiden, die man als Herr im Haus der Krisen einfach weiter Gewinn bringend verschlingen könnte, ohne Verdauungsprobleme zu bekommen.

„Träum weiter, Europa!“ ruft uns die weitsichtige Frau (denn das ist die Übersetzung des Namens Europa aus dem Griechischen) ironisch zu: „träum weiter!“

03 Sep.

Europa – Meditation # 354

Gorbi – Knete

Ist es unsere Vergesslichkeit oder ist es doch eher reiner Mutwille, wenn wir immer wieder unsere eigene Wahrnehmung überarbeiten, überzeichnen und schön färben?

Da in der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so einiges schief gelaufen war – moderat formuliert – hatten wir Deutsche uns im schweigsamen Büßerhemd den Siegern willfährig unterworfen: Im Westen den Amerikanern, im Osten den Russen. Die ideologische Marschrichtung schlürften wir süffig mit – entweder Wachstum um jeden Preis weltweit oder eben Überwindung dieses Wachstums-Mantras im endgültigen Sieg der Arbeiterschaft weltweit. Wir Deutsche waren brave Claqueure des jeweiligen Herrn, dem wir reumütig dienen wollten. Der Böse war selbstverständlich immer der andere. Wie mit der Muttermilch wurde der Antikommunismus eingesogen, jeder Lehrplan lieferte die Lehrbücher für die richtige Einstellung im Westen, genauso wie der Klassenfeind im Osten für jeden jungen Sozialisten der Kapitalismus war.

Als aber der neue Generalsekretär Gorbatschow im März 1985 neue Töne anschlug, die schließlich zum unblutigen Fall der Berliner Mauer führten, drehten sich die Fähnchen im Winde gerne um. Plötzlich war Russland denkbar, auch im gemeinsamen Haus Europa dazu zu gehören. Wie bitte?

Gorbi und Raissa wurden so nach und nach geradezu zu Lichtgestalten, und unser Kohl kochte sein Süppchen mit Gorbi, als wären sie alte Klassenkameraden.

Dann wurden die Deutschen – gerade holter-die -polter wiedervereinigt – auch noch von Gorbi links überholt: der wollte doch tatsächlich der Opfer des politischen Terrors der Stalinzeit öffentlich gedenken, mit Andrej Sacharow als Vorsitzender der Organisation „Memorial“ .

Schon da gingen viele der ehemaligen erfolgreichen NS-Mitläufer in ihre Unterstände. Und die von der Treuhand wollten auch alles nur zum Wohle aller zerschlagen haben.

Nach sechs Jahren waren Gorbis Siebenmeilenstiefel dann zum Glück passé. Schwamm drüber.

Und dass er damals das Reaktorunglück von Tschernobyl verschweigen ließ und dass sowohl in Vilnius als auch in Tiflis die Schritte hin zurUnabhängigkeit gewaltsam nieder gemacht wurden, ist natürlich beim abschließenden Elogen-Gesang doch nur eine eher peinliche Fußnote.

Wir kneten uns unseren Gorbi schon so, wie er in unsere derzeitigen Wahrnehmungen passt.

Ähnlich wie mit unserem atlantischen Freund: eben noch trumpisch angeekelt und bereit, die alten Abhängigkeiten, die uns doch schon so weit von unserer eigenen kulturellen Identität haben abdriften lassen, empört abzuschütteln und Europa in den Mittelpunkt deutscher Außenpolitik zu stellen – also ein Art splendid isolation à la Europe – oder dann plötzlich doch wieder eine geradezu stahlharte Nibelungentreue zu beschwören (100 Milliarden Euro mal schnell aus der Portokasse) zu unserem großen Freund in Übersee. Was für ein Wankelmut, was für ein bigottes Lamentieren! Und falls Trump doch noch der nächste Präsident werden sollte? Was dann? Kneten wir uns dann ein trumpsches Maskottchen, um den bösen Russen und den unheimlichen Chinesen mit einer selbstlosen Nato widerstehen zu können?