03 Mai

Europa – Meditation # 335

Der Angela-Merkel-Erinnerungs-Wert.

Wo sind sie geblieben, die sechzehn Jahre Kanzlerschaft? Oder war es vielleicht doch nur eine nachhaltige Einbildungsgeschichte, die da in unseren Gehirnwindungen Klimmzüge vollführte – schön ruhig gestellt, alternativlos und nachhaltig. Und die Lock-downs? Etwa auch nur ein böser Traum, in dem ein übles Hauen und Stechen mit Zahlen, Tabellen und Masken als schräges Ballett aufgeführt wurden? Dann endlich mal wieder ein spannender Wahlkampf mit überraschendem Ausgang. Und jetzt dieser spezielle Action-thriller-Gewalt-Film (als bunte Standbilder mit dräuenden Rauchsäulen im Hintergrund), den wir jeden Abend – nach wie vor übergewichtig und Zucker-versaut lümmelig vor der Glotze – über uns herabrieseln lassen, aber gleichzeitig endlich wieder das wirkliche Leben Seite an Seite im ausverkauften Stadion feiern können? Auch das nur eine virtuelle Variante des brandneuen M e t a v e r s e ? Oder war das nur das Intro dazu?

Die Antworten auf diese Fragen können wir gerne schön gefiltert in unseren eigenen Blasen – mit Daumen nach oben – abrufen und an unsere Freunde weiterleiten. Da sind wir – wie im Stadion – unter uns, unter Freunden, die schon wissen, was Sache ist. Wer da stänkert, wird einfach gelöscht. Punkt. Gehört nicht in unsere Gruppe. Die bestimmt nämlich auch, was unsere Wahrheiten sein sollen. In Dauerschleife bestätigen wir uns das, was wir schon längst als richtig und wahr erkannt haben. Und prägt sich so ordentlich ins Langzeitgedächtnis ein. Und wird so wahrer und wahrer.

Und immer wieder sind es Fotos von markanten Gesichtern, die wir uns einprägen: Angela Merkel, Donald Trump, Boris Johnson, Wladimir Putler, Wolodymyr Selenksyj oder das alte Gesicht von Anna-Lena Baerbock vor der Wahl und das neue von ihr von heute. Fast könnte man meinen, wir wechselten die Sympathien für die jeweiligen Physiognomien wie unsere Socken. Heute die, morgen die. Aber es muss sich gut anfühlen. Unser Gefühl will Angenehmes schmecken. So sorgen wir dafür, dass es angenehm schmeckt.

Und mit Konrad Adenauer – der nun auch noch in die Schlagzeilen und unter die Räder der Rechercheure geriet (den politischen Gegner ausspionieren lassen!) – lässt sich gut munkeln:

„Meine Herren, es kann mich doch niemand daran hindern, über Nacht klüger zu werden.“

Das Medium Film hat uns alle in den letzten Jahren ordentlich konditioniert:

1. Die Story muss kurz, brutal und spannend sein.

2. Die Schnitte schnell und atemberaubend.

3. Die Musik mitreißend und überwältigend.

Die Ereignisse der letzten Zeit waren kurz und spannend, die Wechsel der Figuren und Themen schnell und atemberaubend und der Sound einfach nur umwerfend. Was denn noch?

23 Apr.

Europa – Meditation # 334

Ein visionäres Statement der Simone Weil aus dem Jahre 1943

Vor knapp achtzig Jahren fasste Simone Weil die Situation in Europa folgendermaßen zusammen:

„Europa bleibt im Zentrum des Dramas…Wenn wir nur durch Amerikas Gelder und Fabriken befreit werden, fallen wir auf die eine oder andere Weise in eine Form der Knechtschaft zurück, die der heutigen gleicht.“ (Simone Weil 1943)

Ähnelte nicht tatsächlich nach 1945 die Befreiung Deutschlands von Diktatur und Terror durch die Amerikaner einem New Deal, in dem die Europäer ihre Seele verkauften, um einen sogenannten Neuanfang angeboten zu bekommen?

Und schien es nicht so, dass Jahr für Jahr dieser „DEAL“ sich als d e r Joker herausstellte: wachsender Wohlstand, wachsender Konsum, wachsende Mobilität, wachsende Einkommen, wachsende Konten, wachsende Börsenkurse…die politische Gestaltung abgegeben an eine Parteiendemokratie, deren Verfassung natürlich auch maßgeblich von den Siegermächten mitgestaltet worden war.

So konnten die Bürger mit ihren blitzenden Statussymbolen stolz durch die Gegend düsen, überließen die Politik – nun ja, alle vier Jahre mal das Bestehende abnicken, war ja zumutbar – den „Profis“ und assistierten den USA bei ihrer Containment-Policy.

Dass sie dabei immer mehr historisch gewachsenes Selbstbewusstsein als Europäer an den großen Bruder abgaben, dem es nur um Absatzmärkte und Einflusszonen ging, war auch kein Problem, da man ja gelernt hatte, den Mund zu halten – vor 1945 wegen der Geheimen Staatspolizei, nach 1945 wegen der Persilscheine und der Re-education – und das Private so ins Zentrum rückte. Gelder und Fabriken expandierten, wir kopierten fleißig auch international das Spiel der Amerikaner und wurden so Weltmeister im Exportieren von Waren – an wen auch immer – Hauptsache man konnte zuhause die Kredite der Banken weiter bedienen. Wenn autoritäre Regime pünktlich zahlten, redete man sich hierzulande die Weste weiter weiß. Und natürlich wird niemand solch einen Habitus als eine Form von Knechtschaft bezeichnen, klar! Denn jeder hatte ja die Freiheit, aus sich und seinem Geld das zu machen, was er wollte. Geradezu paradiesische Verhältnisse.

Und jetzt ein neues Drama: Die liebgewonnenen Muster scheinen plötzlich in Gefahr geraten zu sein. Krieg vor der NATO-Haustüre! So werden über Nacht aus Tauben lauter sportliche Falken, die jetzt ganz schön steil gehen. Was aber sind die grundlegenden Werte? So lange blieb jedem Euro-Freak erspart, über die Frage nachdenken zu müssen: Woher kommen wir Europäer eigentlich, wer sind wir aber inzwischen geworden und wohin wollen wir denn überhaupt? Und wer sind diese WIRS eigentlich? Knechte?

22 Apr.

Europa – Meditation # 333

Der Begriff der Moderne – bloßes Blendwerk.

Was für ein strahlender Begriff! Moderne!

These: Wie auf einem steil nach oben weisenden Vektor jubelten sich die Erdlinge in eine euphorische Fortschrittsideologie, deren Atemlosigkeit und Blindheit wahrlich ohnegleichen war. Und sie hält unvermindert an.

Nach einer Phase der eitlen und selbstsicheren Selbstbespiegelung – der sogenannte friedlichen globalen Vernetzung und „Einen-Welt-Gewissheit“ – folgt nun ohne jeden Übergang – wie Phönix aus der Asche – das schrille Kriegsgeschrei:Verteidigen wir endlich streitbar unsere hehren Werte, jetzt!

Dabei vernebelte von Anfang an der Begriff der Moderne den beginnenden Absturz in eine auf materielle Verfügbarkeit setzende Arbeitswut. Die zunehmende Versklavung der Species – das brutale Zeitalter der Kolonialisten – brachte Sieger wie Besiegte in eine sich immer schneller drehende Spirale von materiellen Zwängen, die auch vor der Ausbeutung der Natur nicht halt machen wollte und konnte. Dabei wurden alle Veränderungen als zukunftsweisende Zuwächse an Verfügbarkeit der Welt verkauft. Und in der endlosen Wiederholungsschleife solcher Jubel-Gesänge wird längst dieses Hauen und Stechen als Friedenszeit verkauft, weil die zu beklagenden Opfer als solche nicht mehr erkenn- und erklärbar scheinen (höchstens als Kollateralschäden unterwegs zum Zenit der Menschheitsgeschichte): Die Demontage der Innensichten der zahllosen Protagonisten und der äußeren Natur gehen inzwischen Hand in Hand als Peak der Moderne.

Demzufolge ist die Wende von der sogenannten friedlichen Epoche zur neuen Epoche kriegerischen Gebarens nur wieder die andere Seite derselben Medaille: Die Moderne schillert eben – und blendet so – mal so und mal so, sie ist als solche aber einfach unschlagbar, denken die Erdlinge und berauschen sich wie Süchtige am eigenen Denkmodell Moderne. Alternativlos. Schon so oft das Totschlagargument der jeweils maßgeblichen Akteure und Aktionäre.

Dass auf den Monitoren zwei Jahre lang die Pandemie-Tabellen das Sagen hatten und wir konsterniert das Auf und Ab auf unserer Couch ertragen mussten – von den nachhaltigen, psychischen Schäden wollen wir hier gar nicht erst reden – , ist nun endlich ersetzt worden durch Karten, auf denen bunt gekennzeichnete Aufmarsch- und Einschlag-Szenarien in aller Ruhe vom Betrachter bewertet werden können, fast so wie der Wetterbericht.

Die Einsamkeit und Ängste der Menschen allerdings wabern unterdessen weiter wie unverdaute Rohkost und führen zu Blähungen, Krämpfen und Schmerzen, vor denen sie nicht weglaufen können.