13 Sep.

Europa – Meditation # 462

Erziehungsgeschichte(n) im wohlwollenden Blick Europas (Tautologie?) – in drei Teilen

Teil II

Ich könnte ja einfach dem mutwilligen Begriff „Internatssyndrom“ den des „Familiensyndroms“ entgegensetzen; wäre das simpel und leer. Also lassen wir das vorläufig zumindest, denn zum Thema „kleinbürgerliche Familie“ werden wir in Sachen „Internat“-Alternative wohl noch zurückkommen müssen.

Hier nun aber erst einmal der Exkurs in die Erziehungsgeschichte(n) des Mittelalters in Europa: Adlige Familien hatten mit ihren zweit- und drittgeborenen Söhnen oft ihre liebe Mühe. Da kam die Reformbewegung aus Burgund gerade recht: Denn das Mönchtum steckte in einer Selbstverständnis-Krise und schaltete wild entschlossen um auf ein neues Programm von Bescheidenheit, Bildung und Autarkie. So hatten bald nicht nur Bauleute, Steinmetze und Zimmerleute volle Auftragsbücher, nein, auch die besorgten adligen Eltern eine neue Perspektive für ihre vielen Söhne und überzähligen Töchter: Man gab sie den Zisterziensern in Obhut. Dort lernten sie nicht nur Lesen und Schreiben, nein, auch Latein, Kräuterkunde und Musik standen auf dem Lehrplan. Man lebte bescheiden – weit weg vom hysterischen Treiben der stinkenden Städte – in großen Schlafsälen, Speisesälen und säulenbewährten Hallen – alles ohne jeden Schnickschnack – und versorgte sich selbst mit allem Lebensnotwendigen. Diese Klosteranlagen – innerhalb von zwei Jahrhundert mehr als 600 über ganz Europa verteilt – waren die reinste Erfolgsgeschichte: viele der adligen Söhne machten dort Karriere als Äbte oder in der Selbstverwaltung und das Konzept der Konzentration auf das Spirituelle zog immer wieder begabte und unzufriedene junge Menschen an, jenseits der traditionellen Muster Kopf, Herz und Hand ganz dem Ziel einer ungestörten Selbstverwirklichung in Dienst zu stellen. Daneben war es natürlich auch das verlässliche Gemeinschaftserlebnis in vertrauten Ritualen, das viele anzog und ein Leben lang begeisterte. Auch das hohe Maß an Selbstversorgung vor Ort (eigene Mühle, eigene Schmiede, eigene Fischteiche, eigene Wasserversorgung und kluge Abwasserklärung) gab diesem Konzept nachhaltigen Erfolg. Nebenbei sicherten sie auch noch in ihren großen Schreibstuben die solide und ästhetisch anspruchsvolle Weitergabe wichtiger Texte aus der Antike und dem frühen Mittelalter. Und natürlich war ihnen der Glaube an den ewigen Lohn für ihre Mühen und Askese in einer anderen Welt ein Kraftspender sondergleichen zusätzlich. Vielerorts entstanden ähnliche Lebensräume auch für Frauen, die in Nonnenklöstern parallel zu den Mönchen ähnlich asketisch und gebildet ihren Lebenentwurf gestalten wollten. Von den Beginen ganz zu schweigen, die sich innerhalb der Städte vor allem in Flandern ihren eigenen klar ummauerten Bereich schufen – mit ihrem persönlichen Eigentum und ihren Rechten unabhängig ausgestattet – ebenfalls in verlässlichen Ritualen und Räumen sicher zu leben vermochten und wichtige soziale Arbeit für die Gemeinschaft leisteten in Form von Krankenpflege, Unterrichten und Textilbearbeitung. So blieben sie unabhängig – auch als Witwen – und frei. Niemand käme wohl auf den Gedanken, diese Lebensentwürfe mit dem Begriff „Beginensyndrom“ oder „Klostersyndrom“ zu desavouieren, nur weil sie sich dem sogenannten ‚main-stream‘ selbstbestimmt entzogen hatten – oder?

Natürlich sind auch diese Gemeinschaftskonzepte überwölbt von einem patriarchalischen Denken, das alle Gesellschaften kennzeichnet, die von abrahamitischen Religionen dominiert waren und sind. Und selbstverständlich damit auch von den gewaltsamen Übergriffen – als „Normalhabitus“ – der Männer gegenüber den eigenen Kindern und Frauen – damals wie heute. Denn die nach wie vor erschreckenden Zahlen in Sachen Femizide, Missbrauch – in Familien genauso wie in Erziehungsinstitutionen – und häuslicher Gewalt bleiben selbstredend der üble Untergrund für all das, was dann in die Begriffswelt der Syndrome abwandern muss und dort unbearbeitet weiter vor sich hin köchelt.

12 Sep.

Europa – Meditation # 461

Erziehungsgeschichte(n) im wohlwollenden Blick Europas (Tautologie?) – in drei Teilen.

Teil I

Am Wochenende (7./8. Sptember 2024) konnte man in der SZ einen Seiten füllenden Artikel lesen zum Thema „Internatssyndrom“ von Friederike Zoe Grasshoff (S. 43). Darin geht es – wie nicht anders zu erwarten – um die Langzeitschäden von Internatserziehung, die mit dem probaten Begriff „Internatssyndrom“ eingefangen werden sollen.

Da ich selber nicht nur Internatsschüler, sondern auch später als Lehrer und Erzieher in Internate tätig war, liegt es nahe, mit Hilfe der eigenen Erfahrungen und deren geistiger Bearbeitung nicht ganz unparteiisch darauf zu reagieren.

Lassen wir aber vorab eine kompetente Psychoanalytikerin zu Wort kommen, die in einer Langzeitstudie (2015) die These aufstellt, die Probanden legten sich nach der frühen Trennung von den Eltern eine „Überlebenspersönlichkeit“ zu, die gekennzeichnet sei von seelischer Abschottung, Depressionen, Verlustangst und Alkoholismus. Also ein ziemlich defizitäres Ergebnis einer meist ziemlich teuren Erziehungsgeschichte in meist nicht ganz unbekannten Internatsschulen. Man erspare mir, Namen zu nennen (nicht zuletzt um indirekte Werbung zu vermeiden!) – gibt es doch illustre Beispiele in Neu England, Kalifornien, Great Britain, Frankreich, BRD und der Schweiz zuhauf – also europaweit und in Übersee, was im Folgenden (Teil II und Teil III) noch eine wichtige Rolle spielen wird, wenn es um die Reformbewegung der Zisterzienser in eben diesem Europa gehen wird, sowie um die Beginenhöfe und Ignatius von Loyola, als Beispiele für Erziehungsgeschichten in patriarchalisch-christlichen Bevormundungsgestus.

Mit dem Totschlag-Begriff „Syndrom“ – gekoppelt mit dem Reizwort „Internat“ und der Folie einer Idealisierung der bürgerlichen Kleinfamilie – sind die argumentativen Fronten schnell geklärt: Hier das traditionelle Bild der anheimelnde Wärme daheim, dort die allein gelassene Kreatur in liebloser Dressurumgebung und Kälte. So entsteht ein recht bescheidenes Schwarz-Weiß-Bild, das allerdings in vorauseilendem Gehorsam gut gepflegte Vorurteile bedient; auch eine klammheimliche Schadenfreude könnte sicher bei genauerem Hinsehen ausgemacht werden: Siehste, das haben sie nun davon, die reichen Leute: kaputte Kinder, die zum Abi durchgefüttert werden, mit lauter gefakten Noten, klar. Dazu korrupte Lehrer, korrupte Bezirksregierungen.

Allein schon diese geballte Ladung an missgünstigen Zuweisungen sollte stutzig machen: Werden da nicht eigene Versagensgeschichten und Leichen im Keller der abzuzahlenden Doppelhaushälfte und die erkaltete Zweisamkeit, samt Überforderung in Sachen Kindererziehung wild entschlossen ausgeblendet? Liegt da vielleicht sogar das virtuell in Dauerschleife vorgeführte Mann-Bild hinter zugezogenen Vorhängen längst in Scherben?

Also – wie stets und überall – eine schwer zu durchschauende Gemengelage, die jeweils nach Vorverständnis und Interessenlage so oder so zu Buche schlägt. Im SZ – Artikel jedenfalls dominieren bei weitem die negativen Konnotationen, die nur das zu bestätigen scheinen, was man ja sowie so schon längst wusste: Internate sind untaugliche Reparaturwerkstätten vor dem Hintergrund erzieherischer Ratlosigkeit in Kreisen der Besser Verdienenden.

Dem soll im Folgenden in weit ausholendem Diskurs behutsam widersprochen werden: Denn das Modell eines kleinen Gemeinwesens, das sich von dem städtischen Trubel des geschäftigen Bürgertums – sozialisiert in kleinbürgerlicher, privater Familienstruktur – in die Wildnis zurückzieht, um dort ungestört Zeit zu haben für Wissen und Selbstfindung, und möglichst autark das zum Überleben Notwendige selbstständig erzeugt und gleichmäßig verteilt, hat ebenfalls eine lange Tradition und sehr erfolgreiche Ergebnisse erzeugen können.

Dazu in Teil II und Teil III die entsprechenden Exkurse in die Erziehungsgeschichte(n) Europas in der Neuzeit. So viel lässt sich aber schon an dieser Stelle sagen: Die in dem Artikel in SZ dominierende Thesen zum sogenannten „Internatssyndrom“ werden bei genauerer Betrachtung in sich zusammenfallen.

23 Aug.

Europa – Meditation # 460

„Nur wer hoch steht, kann auch tief fallen.“

Es beginnt mit einem großen Fest einer illustren Gesellschaft. Man feiert einen großen Sieg in einem großen Prozess – dabei ging es um sehr viel Geld. Nun soll dem Gott Pluto gehuldigt werden, denn der stand wohl auf ihrer Seite – mit Wein, Weib und Gesang. So machen das die scheinbar Großen dieses kleinen Planeten schon eh und je. Möglichst ohne Zaungäste – also am besten dann wohl vor der Küste auf See vor Anker, in einem Juwel von Segelschiff.

Und dann sinken alle in den weichen Armen von Morpheus, dem Gott der Träume, in einen erlösenden Schlaf. Kopf und Bauch arbeiten währenddessen weiter an den Altlasten des ausschweifenden Gastmahls an Bord. Drumherum zunehmend schwere See vor Morgengrauen. Als wäre es ein mythisches Bild zeitloser Hybris der Sterblichen, die sich bei solchen Gelegenheit schier unsterblich wähnen.

Aber die Natur, die Herrin im Haus der Menschen, ist eine strenge Lehrmeisterin. Während die schlecht Schlafenden auf ihrer Prachtyacht auch noch schlecht träumen und sich in ihren Kojen hin und her wälzen, sind auch die Wachposten oben an Deck nicht auf dem Laufenden. Sie haben keine Lust auf Dienst – zumal die Bezahlung äußerst mäßig ist – sollen die doch ihren Mist selber machen. Und schon hat auch sie der schmunzelnden Morpheus in seinen Armen.

Poseidon aber, der zornige Meeresgott, der nicht nur den listenreichen Odysseus zehn Jahre vor sich her trieb, hat es längst satt, die Verschmutzung seiner heiligen Gewässer länger tatenlos mitansehen zu müssen – Öl, Plastik, riesige Netze, Wracks mit gefährlicher Ladung an Bord, die Abfälle dieser grotesk großen Vergnügungsluxusliner, die Liste könnte er noch lange verlängern – er hat sich mit längst mit Vulcanus verabredet: beide wollen dafür sorgen, dass die Menschen wieder in ihre Grenzen gewiesen werden: Tsunamis, Überschwemmungen, Wirbelstürme, Erdbeben und Vulkanausbrüche wollen sie als Mittel einsetzen, die übermütigen Naturzerstörer in ihre Schranken zu weisen.

So könnten sie, wenn sie ihren Verstand sinnvoll einsetzten, an diesem Unglück, das sich da vor der Küste von Palermo nachts ereignete, ablesen, wer sie sind und was sie dürfen und eben auch, was sie alles nicht können, diese dummen alles besser Wisser, die sie sind!

Erschrocken könnten sie an diesem Beispiel nicht nur sehen, dass der, der hoch steht, auch tief fallen kann, sondern dass jeder zu jedem Zeitpunkt vor der Natur ein hilfloser Zwerg ist, der nur im Bewusstsein seiner eigenen Hinfälligkeit achtsam und vorsichtig mit sich und seiner Umgebung umgehen sollte, damit er den achtlosen Zufällen mit Würde und Einverständnis begegnen kann.

Also keine Häme, kein Hohn, keine Schadenfreude – wo auch immer wir stehen, wir sind und bleiben uns so unendlich ähnlich in unseren Ängsten, Sehnsüchten und Träumen. Und jeder Augenblick kann für jeden der letzte sein – oben, unten oder in der Mitte; das spielt absolut keine Rolle. Sind es doch alles nichts anderes als Rollen in einem Theaterstück, dessen Skript nicht in unseren Hand liegt und dessen Ausgang ebenso nicht. Solch ein Unglück sollte jeden von uns daran erinnern, dass es immer eine Katastrophe ist, wem auch immer es geschieht. Und auch sollten wir keine Gaffer sein, die ihre Sensationsgier an solch einem Ereignis kühlen wollen. Vielmehr sollten wir immer glücklich sein, wenn uns andere spontan in unserer Not zu Hilfe eilen