05 Apr.

Europa – Meditation # 193

Am Anfang war der Gesang.

So könnte das Alte Testament auch angefangen haben. Hat es aber nicht. Denn es waren strenge, alte Priester, die dazumal Texte erfanden und aufschrieben – natürlich immer begeistert von ihrem Gott, der ihnen eingab, was aufzuschreiben sei. In Griechisch, später auch in Latein.

Dann nutzte ein römischer Kaiser den neuen „Sprech“ für sein eigenes Image und verhalf so der kleinen Sekte zu einigem Aufsehen. Die wurden unterdessen nicht müde, ihr eigenes Narrativ auf Vordermann zu bringen, verwarfen, verbannten uneinsichtige Abweichler und brachten schließlich mit knappen Mehrheiten die Endredaktion ihrer Bilder auf den Weg in mehreren Zusammenkünften in der heutigen Türkei: Körperfeindlich, aufs Jenseits bezogen und streng patriarchalisch. Ein verwandtes Schema erfand dann nicht viel später in Mekka und Medina ein zu unrecht unterschätzter Konkurrent, der inzwischen auf Augenhöhe mitmischt. Letztens meinte denn auch der Kölner Erzbbischof 1700 Jahre später sagen zu können, der Stifterwille Jesu gebe aber keine Vollmacht und Handhabe, Frauen zu weihen. Gut, dass er auf solch eine gesicherte Quellenlage zurück blicken kann – das Protokoll von damals lag ihm sicher vor Redaktionsschluss noch vor, das so kategorisch zu formulieren.. Wie schade aber auch. Aber da ist dann auch nichts zu machen!

Aus heutiger europäischer Sicht scheint es höchste Zeit, die Bevormundung durch diese alten Bilder aus dem Fokus zu nehmen, den Fetisch Sprache in seine Schranken zu weisen und sich selbst wieder zu öffnen für die Stimmen, die aus uns selber leise tönen: habe Mut dich deiner Gefühle zu bedienen, habe Mut den Gesang des Lebens neu anzustimmen, habe Mut das Tier in dir zu mögen und nicht länger im Zwinger unter Verschluss zu halten!

Denn die Sprache hat nach und nach das Bild der Wirklichkeit so eingetrübt, dass nur noch logisches Folgern zugelassen werden durfte, wenn man mitreden wollte. Politik, Wirtschaft und Religion: eine feste Burg. Nun steht Europa – von der restlichen Welt, die so nachhaltig von europäischer Bevormundung überformt wurde, ganz zu schweigen – vor einem Scherbenhaufen. Die Logik von Eigentum, Bereicherung und ununterbrochenem Produktions- und Konsumwachstum samt göttlicher Absegnung haben sich selbst ad absurdum und in die virale Krise geführt. Zwangsläufig und natürlich.

Was tun? Die Künste – und hier vor allem die Musik – haben den Erdlingen schon immer den Weg zu sich und der Welt geebnet. Halb träumend, halb schaffend waren sie die helfenden Kräfte, die Tag und Nacht dem ängstlichen Wesen Mensch zur Seite standen, ihn beflügelten, ihn zaubern ließen. Unvergleichliche Bilder von sich und dem Kosmos zu kreieren. Und die es sahen und hörten, stimmten ein in die Begeisterung im Loblied auf Welt, All und sich selbst.

Wenn so plötzlich und so leicht scheinbar natürliche Muster in sich zusammen fallen wie in diesen Tagen das kapitalistische Weltmodell, dann ist das ein unverhoffter Augenblick, den Selbstbetrug zu beenden und zu sich selbst zurück zu finden, anzuhalten und der Ungenauigkeit, dem ununterbrochenen Wandel von allem ein jubelndes Loblied anzustimmen. Es ist hohe Zeit.

04 Apr.

Europa – Meditation # 192

Endlich darf der homo sapiens zu sich selbst finden.

Warum ist in der kurzen Kulturgeschichte des Menschen die Musik immer die Königin geblieben? Warum gibt es keine Kultur ohne Musik? Warum ist die Musik bei jungen Menschen heutzutage so zentral, warum lassen sie sich da so gehen? Warum? Weil sie in ihrer Wirkung so wunderschön ungenau und wahr zugleich ist. Das wahre Fest des Lebens.

Könnte es sein, dass am Anfang der Geschichte die Verlockung einfach zu groß war, sich selbst größer zu machen, als man wirklich war, in dem man sich einfach zu göttlichen Erfindern der Logik, der Klarheit, der Eindeutigkeit erklärte? Weil in diesem Kunstprodukt – Sprache als Fluchtraum vor fehlenden Grenzen – die Verlässlichkeit hinein gedacht und gelebt werden konnte, die das eigentliche Leben nicht hergab? Man musste nur die Sprache lernen, allen beibringen, üben und nachbeten, und schon war zumindest in diesem Bereich eine Sicherheit, eine Klarheit, eine Stimmigkeit zu finden, nach denen man sich doch so sehr sehnte.

Dann ging in der Erinnerung an den Trick am Anfang nach und nach verloren, dass es ein Trick ist, bzw. die Hüter der Sprache – anfangs die Zauberer, Priester, Druiden und Auguren – umgaben diesen wunderbaren Fortschritt (man war von sich selbst fortgeschritten) mit heiligem Ernst und Wunderglauben. Und da die Sprache auch Macht verlieh über andere, wurde nach und nach wahr, was eigentlich nur eine kluge Erfindung war, um die Unsicherheit der eigenen Existenz, die einen Tag und Nacht umschlich, aus seinem Bewusstsein auszusperren.

Aber die Wahrheit ließ sich dennoch nicht beseitigen. Immer wieder gab es diese geistigen Störenfriede, die daran erinnern wollten, dass die Stimmigkeit der Welt, wie wir sie in die Sprache gelernt haben zu bannen, ein schöner Traum – das Leben ein Traum – sei und dass die Besinnung auf die eigentliche Fehlerhaftigkeit unserer Wahrnehmung gleichermaßen eine Rückbesinnung sei auf unsere zerbrechliche Natur. Sie ist nun einmal doch nur so, wie sie ist: zerbrechlich, vorläufig, hinfällig, fehlerreich. Schon immer.

So mussten solche Querdenker an den Rand gedrängt werden, als Spielverderber gebrandmarkt, als gefährliche Aufrührer aus dem Spiel genommen werden. Aber sie waren und sind einfach nicht stumm zu kriegen. Wer denn, bitte schön?

Nun, um nur ein paar Europäer zu nennen: Heraklit, Lukrez, Montaigne, Sterne, Herder, Hölderlin, Kleist, Nietzsche…Sie hatten es nicht leicht mit sich und ihrem jeweiligen „Umfeld“. Warum? Weil sie – nicht zuletzt über die Musikalität ihrer Texte – die alte Kränkung thematisieren, zulassen, und die Risse und Brüche der glättenden Sprachmuster offen legen. Das macht sie natürlich zu Unruhe-Stiftern, zu Abweichlern, die man bemitleiden muss, weil sie nicht klar kommen in ihrem Leben. Wie auch, werden sie erwidern, wenn Klarheit nur den Göttern gegönnt ist – dazu wollten sich die Menschen gerne auch machen – gerade jetzt wäre Zeit, Bescheidenheit zu lernen.

03 Apr.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 96

Europa weiß sich geschützt und gestützt von großer Kraft.

Die beiden Frauen müssen sich zuerst an den dämmrigen Ort gewöhnen, an den sie der Fremde so unwirsch geführt hat. Der Duft von Thymian liegt in der Luft. Chandaraissa und Europa atmen genüsslich ein. Die Hitze, der Nachmittag, die Stille – alles scheint in diesem Augenblick besonders stark auf sie zu wirken. Da ist keine Angst in ihnen. Wie kann das sein? Eben noch fühlten sie sich verfolgt, wüste Gestalten mit bösen Absichten auf ihren Fersen, von einer Sandwolke umtobt, und jetzt diese Stille in diesem Innenhof. Die beiden stehen eng umschlungen da im Halbdunkel und schauen voller Erwartung auf ihren unverhofften Retter. Jetzt haben sich die Augen an die neue Situation gewöhnt. Er ist jung, groß, hat lang gewelltes Haar, das ungeordnet um sein Gesicht wallt, seine großen blauen Augen schauen sie freundlich an, sein Mund, ein feines Lächeln andeutend, geschlossen. Sein Gewand verstaubt. Er wirkt auf die Priesterinnen eher wie ein Künstler, ein Sänger vielleicht, ein Tänzer. Schließlich wagt Europa zu fragen:

„Wer bist du und warum geschieht das gerade hier?“

Der gedrungene, alte Olivenbaum, hat sicher schon vieles erlebt in seinem langen Leben, aber was nun zu hören ist, scheint auch ihm nur wunderbar:

„Zur Zeit nenne ich mich Sosyniod (da erinnert sich Europa, dass sie ihn schon einmal gesehen hat) und bin unterwegs, den Unsinn von drei alten Männern zu verhindern, den die gerade aus Langeweile und Mutwillen ins Werk zu setzen versuchen. Denn eure Pläne scheinen mir viel schöner und wichtiger für die Menschen hier auf der Insel als der gewaltsame Unfrieden, den die da gerade über der Erde ausschütten.“

Dann ist es wieder still im Innenhof auf der Insel, auf der Zeus einst versteckt worden sein soll. So sagt man jedenfalls.

Aber der Klang seiner Stimme, seine kleinen Gesten beim Sprechen, sein freundlicher Blick, all das berührt Chandaraissa und Europa sehr.

„Wir danken dir, Fremder. Aber sag, kennst du auch die große Göttin, zu der wir beten und die uns Vorbild und Hoffnung ist?“

Europa hält den Atem an. Ob das jetzt die richtige Frage war, die da gerade Chandaraissa dem Fremden gestellt hatte? Der nickt nur. Und lächelt. Eine wohltuende Stille breitet sich aus. Die beiden Priesterinnen haben gerade das Gefühl, dass alles, was sie für richtig halten – ihre Geduld, ihre Lebensfreude, ihre Sanftmut, ihre Botschaft der Liebe und des Vertrauens – von diesem Fremden nur verstärkt wird in ihnen. Ein wunderbares Gefühl. Und beide träumen für einen kurzen Augenblick von dem Tanzfest, das sie gerade mit den jungen Priesterinnen vorbereiten: Da wird ihre Botschaft an alle, die es sehen und hören werden, weiter gereicht werden, wird Früchte tragen.

„Natürlich kenne ich sie. Wir sind sogar verwandt.“