07 Mai

Europa – Mythos # 49

Wie Agenor, Europas Vater, seinen Albtraum deutet

Schweißgebadet wacht der König noch vor der Morgendämmerung auf. Er hatte einen schweren Traum gehabt. Die Dunkelheit lastet auf ihm wie sein Traum noch eben. Zu groß, zu schwer, zu stark. Und so wortlos und erdrückend, so quälend und gnadenlos überwältigend, niedermachend.

Herz klopfend versucht er sich zu erinnern. Telephassa, seine ermordete Frau, hatte ihm auf der Brust gesessen. Hämisch lachend schwebten ihre Brüste über seinem Kopf, er konnte kaum atmen, als sie ihn gewaltsam in die Kissen presste. Ihre Hände ruhten dabei auf seinen Armgelenken, so dass er sie nicht abschütteln konnte. Lass mich, lass mich, so hatte er gekeucht, du gehörst nicht mehr in mein Leben. Aber sie starrte ihn nur grinsend an; nackt und verführerisch hockte sie auf ihm, so dass er sich trotz seiner Todesangst heftig erregte, und zischte böse: Du nichtswürdiges kleines Kerlchen, dein Ende ist nah, ganz nah. Wie habe ich auf diesen Augenblick gewartet, du Hund. Dabei näherten sich ihre schwer auf ihm lastenden Hände immer mehr seiner Gurgel. Wie ein eiserner Schraubstock drückten sie ihm die Luft ab. Seine Augen starrten sie an, er vermochte nur noch schwach zu keuschen, zappelte mit seinen Beinen. Aber ihr Körper lastete wie ein Fels auf ihm, drückte seinen Brustkorb – schon meinte er seine eigenen Rippen zu brechen hören – fester und fester. Und als ihm in seiner Todesangst die Sinne zu schwinden begannen, meinte/ er ungeahnte Kräfte in sich hervorbrechen zu fühlen. Ja, er konnte auf einmal sogar laut schreien. Und mit diesem Schrei war er dann auch aufgewacht.

Seine Hände zittern. Sein Atem kurz und flach. Schweißtropfen rinnen ihm in die Augen. Das brennt. Als er sie weg reiben will, sticht er sich mit seinen zitternden Fingern fast die Augen aus. Da kippt seine Angst gleich um in Wut. In Wut auf seine Frau, die ihn gerade besucht hat, in Wut über sich selbst, dass er so schwitzt und zittert. Und mit der Wut findet er auch zurück zu klareren Gedanken, die ihm anraten, diesen schlimmen Traum nur nicht über zu bewerten, nur nicht vorschnell gegen sich selbst zu deuten. Gleich badet er sich in einem kühlenden Bad starker Bilder der letzten Tage und Wochen: Wie hat er lustvoll getobt, seine Wächter in Angst und Schrecken versetzt, ja, sein ganzes Volk in vorauseilendem Gehorsam zusammen gepfercht, wie haben sich alle vor ihm geduckt, vor ihm gebangt, als er nach dem plötzlichen Tod seiner Frau – was muss er jetzt lachen: Die denken doch wirklich, sie sei einfach so an Herzschmerz über den Verlust ihrer Tochter Europa weg gestorben, aus Gram. So lächerlich das – einen königlichen Erlass verkünden ließ: Binnen Jahresfrist will er die geflohene Tochter vor seinem Thron sehen. Auf Knien, um Gnade flehend, sonst würde er die Häscher, falls sie mit leeren Händen von ihrer Suche zurückkehren sollten, hinrichten lassen, samt ihrer gesamten Sippen. Klar, und sein Traum ist gar nicht sein Traum gewesen, sondern der seiner Untertanen. Die sind es doch, die jetzt Nacht für Nacht schweißgebadet aufwachen und seiner Frau, Telephassa, die Schuld geben, dass Europa geflohen ist. Denn er, Agenor, hatte Europa doch immer wie seinen eigenen Augapfel gehütet und verwöhnt. Was muss er für ein guter König sein, dass er bis in den Schweiß hinein die Gefühle seiner Untertanen nach erlebt.

Es dämmert unterdessen. Agenor, jetzt wieder regelmäßig und ruhig atmend, hat wie immer die richtige Lösung für seine Träume gefunden. Umständlich wälzt er sich aus seinen schweißnassen Kissen, ruft ungehalten nach seinem Leibwächter, dass er ihm ein warmes Bad bereite und die Gewänder für die Jagd vorlege. Ja, er will jagen gehen, er muss ausreiten, Wind auf den Wangen spüren, Beute machen. Dann werden auch die Bilder der letzten Nacht davonfliegen wie aufgeschreckte Fledermausschwärme.

Als er nun nackt dasteht und darauf wartet, dass endlich das Bad mit seinem schmeichelnden Wasser ihn verwöhnt und beruhigt, kann er sogar schon wieder lächeln. Aber sein Spiegelbild, das er auf der dampfenden Wasseroberfläche erkennt, zeigt ihm ein eher schmächtiges Männlein mit dünnen Beinchen und schütterem Haar. Schnell wischt er es mit einer Hand weg. Er weiß, in seinen königlichen Gewändern wirkt er viel größer und mächtiger. Alles gut also. Ein gönnerisches Lächeln gönnt er sich und seinem Leibwächter, als der in unterwürfiger Haltung vor ihm niederkniet und auf die weiteren Befehle wartet.

Ja, wenn er von der Jagd zurück ist, will er die junge Sklavin, die er neulich auf dem Markt im Hafen für sich hatte ersteigern lassen, geölt und duftend in seinem Schlafgemach sehen. Sie wird dafür sorgen müssen, dass kein neuer Albtraum unerlaubt über ihn herfällt. Über ihn, den König, der doch weiß, was er will und alles beherrscht, auch seine Träume.

14 Mai

Europa – Mythos # 36

Wie Worte wahre Wunder wirken

Scheinbar ohne Mitgefühl steht groß und heiß die Göttin am Himmel, der Innenhof in gleißendem Licht.

„Holt die Zeugen herbei!“

ruft Archaikos, wir wollen hören, was sie zu sagen haben in dieser Sache. Alle schauen erwartungsvoll zum Eingangstor in den Innenhof, wo jetzt Nemetos und Thortys hereingeführt werden. Chandaraissa blinzelt in ihre Richtung. Mit gesenkten Köpfen und unsicherem Gang treten sie vor den Minos von Kreta.

„Machen wir es kurz: Sardonius hat mir von euren Anschuldigungen gegen diese beiden Frauen berichtet. Was wollt ihr gehört haben?“

Die Stimme von Archaikos klingt hart und scharf. Sardonius macht sich Sorgen, wenn er seine beiden Kronzeugen betrachtet. Sie wirken verängstigt und verunsichert. Das könnte Archaikos misstrauisch machen. Aber er kann jetzt nichts mehr tun. Die beiden Zeugen wechseln kurz ein paar Blicke mit einander, dann beginnt Nemetos. So hatten sie sich abgesprochen:

„Wir waren gestern abkommandiert zum Tempel der Hohenpriesterin. Da haben wir beide die Frauen belauschen können.“

„Belauschen?“

Die Stimme des Minos wird schneidender.

Wo habt ihr denn gestanden dabei?“

Nemetos sucht Hilfe bei seinem Kameraden. Thortys schaut aber weiter zu Boden. Chandaraissa, die nur zu deutlich sieht, was für ein Schwächling dieser Zeuge ist, lässt jetzt, als der mit seinen fragenden Blicken auch bei ihr vorbeistreift, scheinbar zufällig den Träger ihres weiten Gewandes von ihrer Schulter gleiten, was den armen Nemetos nur noch mehr verwirrt.

„Im Nebenraum zur großen Tempelzelle. Da gibt es in der Wand einen Spalt, dadurch konnten wir sehen und hören, was gesprochen wurde nebenan.“

Archaikos bekommt einen Lachanfall. Zugleich wirft er einen Blick zu Europa, dann zu Sardonius und dann noch zu Chandaraissa. Was für ein erbärmliches Spiel hat sich da der Herr der Hofhaltung, der Abgaben und der Sicherheit ausgedacht, geht es Archaikos dabei durch den Kopf. Die Hohenpriesterin lächelt sogar. Sie hat bestimmt genauso wie ich längst durchschaut, was für eine böse Absicht dem Ganzen zugrunde liegt. Dann wandert sein Blick weiter zu seinen alten Beratern, die wie unterernährte Krähen auf ihren Plätzen hocken. Ihre Augen zu Schlitzen verengt lauern sie auf ihre Stunde. Den Gefallen werde ich ihnen aber nicht tun. Ich muss das Gerichtsverfahren durchziehen, als wäre alles in Ordnung so.

Mit schrillen Schreien und großem Geflatter landen jetzt drei große Elstern an der Dachkante. Alle blicken überrascht zu ihnen hoch. Die wollen wohl auch meinen Triumpf miterleben, sagt Sardonius genüsslich zu sich selbst. Wenn er allerdings wüsste, wer sich hinter den dreien verbirgt, wäre er sicher etwas vorsichtiger gewesen. Aber keinem hier in diesem großen aufgeheizten Innenhof ist klar, dass es die drei göttlichen Brüder sind, die sich mal wieder einen Scherz erlauben, um sich über die dummen Menschenkinder lustig machen zu können. Sie wollen möglichst nahe dabei sein, nichts verpassen und die Folgen ihres Fluches über die Frauen genießen. So ein Verfahren ist einfach Nektar und Ambrosia gegen die Langeweile und olympische Einöde da oben.

Archaikos nimmt sein Lachen schnell zurück, setzt wieder eine Miene voller Interesse und Zugewandtheit auf und fragt den zitternden Nemetos wohlwollend lächelnd:

„Nun, was haben denn die beiden Frauen da mit einander getuschelt, Nemetos?“

Der schluckt, schaut völlig verunsichert zu seinem Befehlshaber, Sardonius. Der wirft ihm einen strengen und angsterregenden Blick zu. Schließlich erinnert er sich wieder daran, was sie sagen sollen und legt auch gleich los, bevor er es wieder vergessen könnte:

„Die Hohenpriesterin hat der Fremden“,

dabei zeigt er mit seinem Zeigefinger zaghaft auf Europa, die ihn auch noch freundlich anlächelt, was ihn erst recht durcheinander bringt,

„hat der Fremden gesagt, sie sollten bei nächster Gelegenheit euren Becher vergiften, um selbst Herrscherinnen zu werden über Kreta. Das hat sie gesagt, genau das.“