Europa – Mythos # 49
Wie Agenor, Europas Vater, seinen Albtraum deutet
Schweißgebadet wacht der König noch vor der Morgendämmerung auf. Er hatte einen schweren Traum gehabt. Die Dunkelheit lastet auf ihm wie sein Traum noch eben. Zu groß, zu schwer, zu stark. Und so wortlos und erdrückend, so quälend und gnadenlos überwältigend, niedermachend.
Herz klopfend versucht er sich zu erinnern. Telephassa, seine ermordete Frau, hatte ihm auf der Brust gesessen. Hämisch lachend schwebten ihre Brüste über seinem Kopf, er konnte kaum atmen, als sie ihn gewaltsam in die Kissen presste. Ihre Hände ruhten dabei auf seinen Armgelenken, so dass er sie nicht abschütteln konnte. Lass mich, lass mich, so hatte er gekeucht, du gehörst nicht mehr in mein Leben. Aber sie starrte ihn nur grinsend an; nackt und verführerisch hockte sie auf ihm, so dass er sich trotz seiner Todesangst heftig erregte, und zischte böse: Du nichtswürdiges kleines Kerlchen, dein Ende ist nah, ganz nah. Wie habe ich auf diesen Augenblick gewartet, du Hund. Dabei näherten sich ihre schwer auf ihm lastenden Hände immer mehr seiner Gurgel. Wie ein eiserner Schraubstock drückten sie ihm die Luft ab. Seine Augen starrten sie an, er vermochte nur noch schwach zu keuschen, zappelte mit seinen Beinen. Aber ihr Körper lastete wie ein Fels auf ihm, drückte seinen Brustkorb – schon meinte er seine eigenen Rippen zu brechen hören – fester und fester. Und als ihm in seiner Todesangst die Sinne zu schwinden begannen, meinte/ er ungeahnte Kräfte in sich hervorbrechen zu fühlen. Ja, er konnte auf einmal sogar laut schreien. Und mit diesem Schrei war er dann auch aufgewacht.
Seine Hände zittern. Sein Atem kurz und flach. Schweißtropfen rinnen ihm in die Augen. Das brennt. Als er sie weg reiben will, sticht er sich mit seinen zitternden Fingern fast die Augen aus. Da kippt seine Angst gleich um in Wut. In Wut auf seine Frau, die ihn gerade besucht hat, in Wut über sich selbst, dass er so schwitzt und zittert. Und mit der Wut findet er auch zurück zu klareren Gedanken, die ihm anraten, diesen schlimmen Traum nur nicht über zu bewerten, nur nicht vorschnell gegen sich selbst zu deuten. Gleich badet er sich in einem kühlenden Bad starker Bilder der letzten Tage und Wochen: Wie hat er lustvoll getobt, seine Wächter in Angst und Schrecken versetzt, ja, sein ganzes Volk in vorauseilendem Gehorsam zusammen gepfercht, wie haben sich alle vor ihm geduckt, vor ihm gebangt, als er nach dem plötzlichen Tod seiner Frau – was muss er jetzt lachen: Die denken doch wirklich, sie sei einfach so an Herzschmerz über den Verlust ihrer Tochter Europa weg gestorben, aus Gram. So lächerlich das – einen königlichen Erlass verkünden ließ: Binnen Jahresfrist will er die geflohene Tochter vor seinem Thron sehen. Auf Knien, um Gnade flehend, sonst würde er die Häscher, falls sie mit leeren Händen von ihrer Suche zurückkehren sollten, hinrichten lassen, samt ihrer gesamten Sippen. Klar, und sein Traum ist gar nicht sein Traum gewesen, sondern der seiner Untertanen. Die sind es doch, die jetzt Nacht für Nacht schweißgebadet aufwachen und seiner Frau, Telephassa, die Schuld geben, dass Europa geflohen ist. Denn er, Agenor, hatte Europa doch immer wie seinen eigenen Augapfel gehütet und verwöhnt. Was muss er für ein guter König sein, dass er bis in den Schweiß hinein die Gefühle seiner Untertanen nach erlebt.
Es dämmert unterdessen. Agenor, jetzt wieder regelmäßig und ruhig atmend, hat wie immer die richtige Lösung für seine Träume gefunden. Umständlich wälzt er sich aus seinen schweißnassen Kissen, ruft ungehalten nach seinem Leibwächter, dass er ihm ein warmes Bad bereite und die Gewänder für die Jagd vorlege. Ja, er will jagen gehen, er muss ausreiten, Wind auf den Wangen spüren, Beute machen. Dann werden auch die Bilder der letzten Nacht davonfliegen wie aufgeschreckte Fledermausschwärme.
Als er nun nackt dasteht und darauf wartet, dass endlich das Bad mit seinem schmeichelnden Wasser ihn verwöhnt und beruhigt, kann er sogar schon wieder lächeln. Aber sein Spiegelbild, das er auf der dampfenden Wasseroberfläche erkennt, zeigt ihm ein eher schmächtiges Männlein mit dünnen Beinchen und schütterem Haar. Schnell wischt er es mit einer Hand weg. Er weiß, in seinen königlichen Gewändern wirkt er viel größer und mächtiger. Alles gut also. Ein gönnerisches Lächeln gönnt er sich und seinem Leibwächter, als der in unterwürfiger Haltung vor ihm niederkniet und auf die weiteren Befehle wartet.
Ja, wenn er von der Jagd zurück ist, will er die junge Sklavin, die er neulich auf dem Markt im Hafen für sich hatte ersteigern lassen, geölt und duftend in seinem Schlafgemach sehen. Sie wird dafür sorgen müssen, dass kein neuer Albtraum unerlaubt über ihn herfällt. Über ihn, den König, der doch weiß, was er will und alles beherrscht, auch seine Träume.