Europa – Verraten und verkauft? (Meditation # 60)
Gedächtnislücken der Europäer schließen
Das Tempo des Alltags lässt uns immer wieder vergessen, was gut wäre vor Augen zu behalten: Der neu gewählte amerikanische Präsident will an der Grenze zu Mexiko eine Grenze bauen lassen, um illegale Einwanderung zu unterbinden; er will mit einem neuen Dekret die Einwanderung aus sechs muslimischen Ländern behindern; in Ungarn werden Lager an der südlichen Grenze errichtet, um dort Flüchtlinge zu internieren; in Libyen und Tunesien sollen ebenfalls Flüchtlingslager gebaut werden – mit Mitteln der EU – um dort die Asylprozedur abzuwickeln und nicht erst in Europa selbst; auf griechischen Inseln warten apathisch tausende und abertausende von Flüchtlingen vor allem aus Syrien und Afrika, um die Erlaubnis zu erhalten, weiter nach Nordeuropa zu wandern.
Und die Politiker in den Staaten Europas versuchen gerade – reichlich nervös geworden – ihre jeweilige Wählerschaft zu beschwichtigen: Man werde des Migrationsproblem schon in den Griff bekommen. Die Angst, die Wähler könnten zu rechten Parteien aus Protest oder Überzeugung abdriften, diktiert landauf, landab die Reden verunsicherter Polit-Profis – als wäre das Thema ein Thema wie Erbschaftssteuer, Benzinpreise und Sterbehilfe.
Währenddessen machen sich weiter junge Männer in Afrika auf die riskante Reise Richtung Norden, sie haben meistens einen großen Auftrag ihrer Großfamilie im kleinen Gepäck, möglichst bald Euros zu schicken, um zu Hause das Verhungern zu verhindern. Sie lassen sich von Schleppern ausbeuten und werden von denen auch weiter oft erschossen, wenn sie sich weigern, in seeuntüchtige Boote zu steigen, wenn stürmige See angesagt ist. Nichts hält sie auf. Nichts. Solches ist täglich in den Medien zu erfahren.
Ein kleiner historischer Exkurs zur Einordnung des Themas in größere Zusammenhänge:
Schon immer wanderte der homo sapiens – wie man ihn später zu bezeichnen begann – auf der Flucht vor klimatischen oder sonstigen Bedrohungen weiter, immer auf der Suche nach sichereren Lebensräume. Und immer kam es dann zu Konflikten, wo sie sich später neu niederlassen wollten. Schon immer.
In den Schulbüchern lernen Kinder dann das Wort „Völkerwanderung“ in der Spätantike, worunter sie sich meistens nichts vorstellen können. Namen vielleicht wie Attila oder Katalaunische Felder tauchen da für einen kurzen Moment auf und versinken wieder im überbordenden Bilderwald der Gegenwart.
Später hören die Kinder in den Schulen der europäischen Länder etwas von Kreuzzügen, Religionskriegen, Hugenotten, Emigranten, Quäkern, die unter erbärmlichsten Bedingungen den Mut aufbringen, über ein schier endloses Meer zu segeln, dabei elend unterzugehen oder elend in der neuen Umgebung vielleicht Fuß zu fassen.
Schon immer.
Dann ist von Industrialisierung und Pauperismus die Rede – reichlich abstrakte Wortungetüme – die an den Kindern vorbei driften wie abstürzende Papierflieger. Und wieder von tausenden von Flüchtlingen, die nicht verhungern wollen und deshalb ans Meer fliehen, in der Hoffnung von dort kostenlos nach Übersee verschifft zu werden. Zahllose tragische Schicksale, nie erzählt, nirgends dokumentiert. Ertrunkene Hoffnungen.
Schon immer.
Von den mehr als sieben Millionen Flüchtlingen ganz zu schweigen, die vor gerade mal siebzig Jahren aus dem Osten in den Westen flohen mitten in Europa, zu einer Zeit, wo das meiste zerstört war, Hunger allenthalben Alltag und Misstrauen, Wut und Ablehnung Normalität.
Aber die gemeinsame Not half dann doch, daraus so etwas wie einen Neuanfang zu gestalten, der zeigt, dass es geht, wenn die Menschen sich arrangieren. Da knirscht es natürlich ziemlich, aber das massenhafte Sterben hatte ein Ende. Teilen war angesagt.
Was also in diesen Tagen, Wochen und Monaten geschieht in Europa ist ein altbekanntes Thema, das Europa zu lösen wusste – nicht durch Zäune, sondern durch Integration.
Schon immer.
Angst machen ist also nur bei dem möglich, der nicht Bescheid weiß, dem die neue Situation fremd erscheint und unlösbar, weil ihm die vergangenen Flucht-Zeiten unbekannt oder unverstanden sind.