Europa – Mythos # 85
Die drei Brüder als notgedrungene Gewaltverhinderer.
Europa weiß nicht, ob sie sich freuen soll. Hätte sie den Verdacht für sich behalten sollen? Jetzt ist es zu spät. Archaikos springt auf. „Ich danke dir, Europa“, dabei umarmt er sie leidenschaftlich, „endlich kommen die Dinge in Bewegung: Sardonios ist mir schon lange ein Dorn im Auge.“ Europa atmet tief durch: „Aber vielleicht ist mein Verdacht zu Unrecht in meinem Kopf!“ Der Minos von Kreta lacht gut gelaunt. „Lass mich nur machen! Ich werde den Rat der Alten hinzuziehen, damit ich Rückendeckung habe. Niemand soll sagen können, ich hätte aus Willkür einen verdienten Mann zu Fall gebracht.“ Und dabei bedeckt er ihr Gesicht mit sanften Küssen. Dann gibt er sie frei. „Geh gleich zum Tempel der großen Göttin und bitte auch die Hohepriesterin Chandaraissa zum Verhör in die hohe Halle zu kommen. Ich möchte nicht allein dastehen. Verstehst du? So wird es auch in wichtiger Schritt zu unserer Vermählung.“ Europa läuft es heiß und kalt den Rücken herunter. Was für ein Mann! Was für ein Glück und was für eine Gefahr! Archaikos schaut sie fragend an: „Oder glaubst du, dass Chandaraissa nicht auf unserer Seite steht?“ Und bevor sie überhaupt nachdenkt, ob es klug es, was sie sagt, hat sie es auch schon ausgesprochen: „Sie ist meine Freundin.“ „Deine Freundin? Europa, wie machst du das? Nicht nur mich hast du verzaubert, nein, auch die strenge Priesterin ist dir erlegen?“ Sie nickt nur. Um ihre Unsicherheit zu verbergen, wendet sie sich jetzt schnell zum Gehen.
Und schon bald summt wie im Bienenhaus der Palast des Minos: Ein Verhör in der hohen Halle, die Hohepriesterin wird da sein, der Rat der Alten ist mit dabei, die Wachen werden verstärkt. Was hat der Minos vor? Wer soll verhört werden? Die Fremde! Europa? Die Aufregung ist groß. Geflüster in den langen, schattigen Gängen. Einige wollen Europa gesehen haben, wie sie vorhin erst weglief. Hat sie Angst?
Der blaue Himmel über der hohen Halle wolkenlos. Nur drei Raben landen gerade an der Regenrinne, flattern und flattern, laufen tippelnd hin und her und machen Lärm. Die sich sammelnden Räte schauen verwirrt nach oben. Waren die nicht erst neulich schon einmal da? Schicken die Götter sie als Beobachter? Langsam kriecht die Angst den alten Männern unter die Gewänder. Will der Minos vielleicht sogar ihnen ans Leben? Archaikos sitzt schon mit finsterer Miene auf seinem erhöhten Platz.
Da öffnet sich das Tor zur Halle und eingerahmt von vier Wachen betritt Sardonios mit aschfahlen Gesicht den Raum. Heftiges Raunen geht durch die Reihen der Alten. Der Minos starrt wie abwesend vor sich hin.
Zeus, Poseidon und Hades – oben rabenschwarz hin und her tippelnd – wissen natürlich Bescheid. Ihrem wichtigsten Mann soll es an den Kragen gehen. „Das müssen wir unbedingt verhindern.“ Poseidon und Hades nicken. Ihr Bruder ist wirklich anstrengend in seinem Zorn, aber sie haben ihm ja ihre Hilfe geschworen. Dieser Europa muss einfach Einhalt geboten werden!