24 Apr.

Europa – Verraten und verkauft (Meditation # 38)

Wenn wir Europäer unsere Identität an der Garderobe abgeben…

Gut erzogen gibt man sich bei der Begrüßung die Hand, schaut sich in die Augen, lässt dem Gast den Vortritt und erkundet sich höflich nach dem Verlauf der Reise. Ob das nun in Portugal ist, in Dänemark, in Irland, Estland oder Luxemburg – solche kleinen Freundlichkeiten haben wir schon als kleine Kinder gelernt, den Erwachsenen abgeschaut, in den Filmen beobachten können; so verschieden es in den verschiedenen Sprachen auch klingen mag, die Botschaft ist doch immer die gleiche: Sei freundlich zum fremden Gast, sei hilfsbereit und zugewandt, dann wird das Treffen auch gut ablaufen können. Die Gespräche mögen schwierig sein, die Verständigung eines Dolmetschers bedürfen, dennoch werden beide Seiten immer das Gefühl haben können: Hier werde ich nicht über den Tisch gezogen, hier werde ich respektvoll behandelt, meine Andersartigkeit geachtet, meine Fremdheit sogar geschätzt. Und solche Gepflogenheit kursieren nun schon nicht nur Jahre und Jahrzehnte, nein, sie gibt es als alte Traditionen europäischer Zivilisiertheit schon so lange. Der Gast ist König. (Dass es einen ganz ähnlich lautenden Slogan mittlerweile gibt, den unsere guten Bekannten bei uns eingebürgert haben und geradezu Zwangscharakter anzunehmen beginnt, soll später kritisch eingeflochten werden)

Soweit das überkommene Modell landauf, landab in Europa.

In diesen Tagen nun treffen sich wieder so zwei Bekannte, diesmal mitten in Europa. Man begrüßt sich höflichst, kennt die Etikette, weiß um sensible Punkte, die man elegant umkurvt, spielt die Hymnen ab und gibt sich gastfreundlich wie noch nie. Auch der Gast zeigt sich von seiner besten Seite. Als ginge es um nichts als um einen Besuch unter guten Bekannten, ja fast Freunden. Dabei stehen handfeste Interessen auf dem Spiel. Die Stimmung ist vor allem eher sachlich. Bei Tisch tut man aber so, als meine man, was man sagt. Die Geschichte weiß allerdings eine andere Geschichte zu erzählen:

Der Übergang von der Kriegswirtschaft zur Friedenswirtschaft gelang dank einer rustikalen Doppelstrategie auf elegante Weise: Erneuter kleiner Krieg im Fernen Osten und Kredite, riesige im Westen. Die neue Devise, die man nachhaltig mitlieferte, lautete nun: Der Kunde ist König, beziehungsweise stetes Wachstum muss jedem gewissermaßen zur zweiten Natur werden. Und wenn man heutzutage durch die Filialen welcher Kette auch immer streunt, strahlen einem furchtbar hilfsbereite Menschen entgegen, die wie die Karotten, die auch nur als genormte in die erste Klasse Eingang finden, d.h. wenn sie glatt wie Kieselsteine, frisch im Aussehen wie abgeschminkte und geduschte Models und regelmäßig wie ein Algorithmus aussehen – alles andere wird ungesehen einfach eingestampft. So auch diese hilfsbereiten Menschen: Ihre Individualität, ihre Ecken und Kanten, ihre gute und schlechte Laune, ihre Stärken und ihre Schwächen sind systematisch so in Form von Selbstzensur zu verstecken oder sonst auszusortieren, dass sie der einen Norm entsprechen (um jeden Preis!): Der Kunde ist König. Dass hier allerdings ein grundlegendes Missverständnis in Sachen Individualität vorliegt, müsste im Grunde jedem halbwegs genauer hin Denkenden aufgefallen sein. Und Menschen zu Sortieren bloß nach ihrer Konformität widerspricht dem Leben und der Natur der Dinge vollkommen. Die damit einhergehende zunehmende Jugendarbeitslosigkeit und die nicht mehr wegzudiskutierende Drogenkonsumbereitschaft werden klein geredet oder als attraktive Zukunftsprojekte für Therapie-Strategien in akademischen Modulen durch dividiert, bis die Subventionen gestrichen werden müssen.

In solch einem auf Nivellierung wegen anzustrebender Maximierung der DAX-Werte ausgelegten Wirtschaftssystem finden sich allerdings derzeit viele Europäer nicht mehr wieder. Sie fragen sich, ob das die Lehren aus der europäischen Kulturgeschichte sein können, wenn bloßer Konsumismus und epidemische Gleichgültigkeit in Sachen öffentlichem Leben als Quintessenz der zukünftigen Gestaltung Europas angesehen werden. (Der homo politicus als Ammenmärchen antiker Geschichtenerzähler)

Sie fragen sich, ob da nicht etwas gründlich missverstanden wird.

Sie fragen sich, ob da nicht eine überschaubare Gruppe von Bürokraten den Begriff Europa nicht einfach leichtfertig ausgeliehen haben, um sich selbst und die Interessen von wenigen großen Playern zu bedienen.

Sie fragen sich, ob es nicht an der Zeit sein könnte, Verschüttetes, Vergessenes wiederzubeleben.

20 Apr.

Europa – Mythos # 32

Agenors Plan und das gar nicht göttliche Gebaren der drei göttlichen Brüder

Agenor, Europas Vater und König im fernen Phönizien, sitzt zur selben Zeit dumpf brütend im leeren Thronsaal auf glattem kalten Stein und lässt sich wieder überwältigen von den eigenen Wutwellen, die ihn lüstern überrollen, wenn er an seine Frauen denkt. An die Königin. Tot. Er hatte es anordnen lassen. Kein Verdacht sickerte nach draußen. Gelungen also. Dass ihn nachts seitdem in seinen Träumen eine tote, verschleierte Frau besucht, ärgert ihn. Nie bekommt er sie zu fassen, kann sie nicht zur Rede stellen. Und an die Tochter denkt er jetzt. Europa, die ungehorsame Tochter. Einfach davonzulaufen. Seine Tochter, mit der er so große Pläne hatte! Seine Späher müssen sie längst aufgespürt haben. Da ist er sich ganz sicher. Er wird sie furchtbar strafen für ihren Ungehorsam. Wie, weiß er noch nicht, aber das Schwert seiner Strenge soll sie lebenslänglich vernichten. Mit mehr als dem Tod. Sein Grinsen jetzt gleicht eher einer üblen Fratze als einem erlösenden Lachen. Aber er hat das Gefühl, dass die Götter ihn dabei leiten. Sein Kampf gegen den Widerstand der Frauen ist bestimmt Teil eines großen Plans der Götter. Bestimmt. Es ist ein höherer Auftrag, eine Mission, göttlicher Wille eben, denkt Agenor trotzig. Die Stille im Saal, die Leere haben etwas Beklemmendes. Großes Tun erfordert einfach große Anspannung. Da kommt ihm der befreiende Gedanke: Wenn Europa den jungen Nachfolger im Zweiströmeland nicht heiratet und so nicht die große Königin des reichsten Landes wird, dann werde ich ihn eben bekriegen. Mir sein Land auf kriegerische Weise einverleiben. Und sie dann dort in einem hohen Turm auf einer Insel im Fluss ein Leben lang einsperren. Zur Strafe für den Ungehorsam dem Vater gegenüber. Was für ein großer Einfall! Agenor atmet tief durch, erhebt sich zufrieden, geht hinaus und genießt die Angst seiner Leute, die vor ihm zurückweichen und will sich noch heute hinter verschlossenen Türen mit seinen beiden Feldherren beraten.

Zeus sitzt währenddessen mit seinen zwei Brüdern schwitzend im blubbernden Schwefelwasser heißer Quellen; die drei erzählen sich schwüle Witze. Über Agenor. Dieser Dummkopf. Erfüllt wie ein hirnloses Schaf den Schwur, den sie gemeinsam geschworen haben: Für immer sollen die Frauen den Männern gehorchen. Für immer. Jetzt plant er auch noch einen Feldzug!

„Kommt, Brüder, lasst uns würfeln, ob er gewinnen oder unterliegen wird!“ Ihr hämisches Gelächter hallt durch die nebelverdüsterte Grotte wie misslungenes Donnergrollen. Poseidon schüttelt die glatten Steine in seiner Hand.

„Mach schon!“ feuert ihn Hades an, der insgeheim nicht von seiner Gier nach der göttlichen Persophone loskommt, was ihn ärgert. Wenn sie ihn in seiner Unterwelt Nacht für Nacht verführt, ist er geradezu von allen Sinnen. So überwältigend göttlich lüstern ist sie jedes Mal. Er hat keine Chance, ihr zu widerstehen. Sie beherrscht ihn völlig. Das macht ihn wahnsinnig. Er kann nicht genug von ihr bekommen, will ihr aber nicht unterlegen sein. Und deshalb ist ihm der Schwur auch so leicht gefallen. Die Frauen sollen ruhig dafür büßen, dass er ihr unterlegen ist. Das ist zwar nur eine kleine Rache, aber doch besser als gar keine, denkt er bitter und erregt zugleich.

„Ha! Lauter schwarze Felder oben!“ ruft jetzt Poseidon.

„Der arme Agenor, er weiß noch nichts von seinem Glück!“ prustet Zeus zufrieden bei dem Anblick des gelungenen Wurfs seines Bruders. Was er in der schwülen und dampfenden Luft allerdings nicht bemerkt hatte, war, dass Poseidon präparierte Würfel benutzte.

„Und wie sieht es auf Kreta aus, lieber Bruder? Wird Archaikos seine heiße Nebenfrau in den Griff bekommen oder nicht?“ Hades liebt es, seinen Bruder zu ärgern. Poseidon entgeht die kleine Spitze nicht, die da unterschwellig zu hören war. Auch er grinst nun genüsslich in den Schwefeldampf und kratzt sich bräsig am schrumpligen Gemächte dabei.

„Ihr braucht gar nicht so zu grinsen, ihr beiden. Ich habe dort einen sehr verlässlichen Verbündeten: Sardonius, den Herr der Hofhaltung, der Sicherheit und der Abgaben.“

„Hört, hört!“ kichert Hades hinterher. „Und was bekommt der denn zustande diesem dreimal klugen Weib gegenüber?“

„Das wüsstest du jetzt gern, stimmt`s? Lass dich einfach überraschen, mein Lieber!“

18 Apr.

Europa – Verraten und verkauft? (Meditation # 36)

Europa auf dem besten Weg ins eigene Vergessen?

Wie stolz waren die Europäer doch als Entdecker, als Kolonisatoren, als Entwicklungshelfer gewesen! Dann die beiden Weltkriege, die jedem humanen Gedanken Hohn spotteten. Es ging um Rohstoffe, um Absatzmärkte, um Handelsvorteile – mit nationalistischen und rassistischen Parolen ließen sich die Völker jahrelang vereinnahmen für Opfer und Tod. Im Schauder vor der eigenen Bereitschaft den anderen völlig zu vernichten, stimmte man nach 1945 gleich in den großen Chor „Nie wieder Krieg!“ ein. Aber die Gewalt kleidete sich bald einfach in neue, schillerndere Gewänder. Und nun? Verunsicherung, Wut, Schuldzuweisungskampagnen en masse…als ginge die Welt unter:

Jugendarbeitslosigkeit, Kriminalität, Korruption, Drogenkartelle,

Zerstörung der Umwelt, Vergiftung der Luft, Armut noch und noch.

Dabei geht es vielleicht aber nur um ein Erwachen aus einem falschen Traum: Europa sei – wie das Licht der Aufklärung – die Fackel des Fortschritts, Wohlstands und des individuellen Glücks all überall. Als Echo überholten sie dabei bald die Freunde jenseits des Atlantiks mit ihrem Motto von dem manifest destiny, dem festen Glauben,

der christliche Gott habe den weißen Mann dazu auserwählt, die gesamte Welt

mit seinem Wirklichkeitsentwurf zu missionieren und zu beglücken.

Die Globalisierung möchte nun noch einmal mit diesem Glauben Erfolge feiern. Aber die Ernüchterung nach so viel falschem Optimismus bei so vielen, die heute ärmer sind als vor 60 Jahren, ist größer denn je. Wie ein letzter Rettungsanker kommt da die Zauberformel TIPP daher – sie schaffe neue Arbeitsplätze, neuen Wohlstand, mehr Reichtum: „Wenn erst die USA und die EU ein solches Abkommen geschlossen haben, werde es ganz sicher wieder aufwärts gehen – hüben wie drüben!“ lautet die Botschaft, (schließlich geht die Schere zwischen arm und reich dort genauso rasant weiter auseinander wie hier) die wie ein Mantra unters Volk gespült wird. Es gäbe keine Alternative dazu – es sei denn, Niedergang, noch mehr Armut, letztlich vielleicht sogar wieder Krieg.

So sind die Angst-Texter dieser Tage höchst agil unterwegs, um die wütenden Menschen, die sich betrogen sehen, wieder einzusammeln.

Die Angst vor dem sozialen Abstieg wird da geschürt genauso wie die Angst vor Radikalisierung und Terror.

Was, wenn aber solcher Wachstums-Wirtschafts-Glaube solche Radikalisierung und solchen Terror erst begünstigt und schürt?

Und lassen sich die Europäer mit diesem Angst-Machen tatsächlich einsammeln?

Die nimmermüden Promoter könnten sich sehr geirrt haben. Denn die digitale Wolke mag viele Gefahren und Nachteile haben, einen Vorteil bringt sie jedenfalls unübersehbar: Die Menschen machen sich schlau, lachen über die Schlaumeier von Banken, Versicherungen, Börse, Meinungsumfrageinstituten und großen Parteien, denn die Skandale, Betrügereien und Korruptionsszenarien in Politik, Banken und Wirtschaft sprechen einfach eine zu deutliche Sprache.

Den Menschen in den verschiedenen europäischen Ländern wird auf einmal klar, dass sie der Litanei von mehr Wohlstand durch mehr Konsum auf den Leim gegangen sind, dass sie ihre eigenen historischen Besonderheiten leichtfertig über Bord geworfen haben zugunsten nivellierender Marken-Uniformität. Dass sie alle mitgeholfen haben, die eigenen Betriebe zu ruinieren, weil sie mehr und billiger haben wollten. Die Treuhand – was für ein schäbiger Euphemismus – lässt grüßen, um nur ein besonders markantes Beispiel aus Mitteleuropa zu nennen. Die Europäer lernen sich plötzlich ganz neu als Verwandte kennen: Als betrogene, verführte, getäuschte Völker. Und sie beginnen sich zu besinnen. Auf ihre je eigenen Kräfte und Besonderheiten. Das macht sie ganz anders solidarisch als bisher. Das Logo EU kommt darin gar nicht mehr vor. Die Fähigkeit sich zu erinnern, ist noch da, bezieht sich auf die gemeinsamen Wurzeln in Antike und Mittelalter. Allein schon die Erinnerung macht wieder Mut, denn aus diesen Quellen wuchs je Eigenes, Regionales, Überschaubares, Vertrautes. Etwas, das gar nicht in Zahlen oder Münzen angehäuft werden kann, etwas, das nur im gemeinsamen Vergewissern des Eigenen erlebt wird. Unverfälscht, aus der eigenen Geschichte gewachsen – es muss nur wieder neu erzählt werden, wieder neu gefühlt werden, als etwas, das unbezahlbar ist: Die eigene Identität aus der eigenen Geschichte der Familie, der Nachbarn, der Verwandten. Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft gehören da schon immer sowieso dazu.