02 Aug.

Europa – Meditation # 107 Heimat-Text Nr. 24

Auf der Suche nach der verlorenen Heimat

Auf fast allen Kanälen der schier zahllosen Medien in unserer jungen Republik wabert zur Zeit die schwankende Hieroglyphe Heimat vor sich hin. Liegt es am Sommerloch? Oder an der unerbittlichen Hitze, die nun auch Nordeuropa brennend heimsucht? Oder an dem Moment der Stille, der um sich greift, wenn plötzlich der Alltag nicht mehr vom Rhythmus der Arbeit diktiert wird? Oder an der rasanten Zerfallszeit von Themen, Begriffen und politischem Leerlauf? Oder am Überdruss wegen der nervenden Bilderfluten, Tag und Nacht?

Von den mehr als achtzig Millionen Mitteleuropäern sind mehr als neunzehn Millionen solche, die ihre Wurzeln jenseits von Rhein, Mosel, Weser, Elbe, Oder, Donau oder Dreisam haben, um die geographischen Gegebenheiten schön im Ungenauen zu belassen.

Aber was auch immer an Herkünften beschworen werden kann, alle haben sie doch eines gemeinsam: ein schwer fassbares Gefühl nach ehemals vertrauten Gewissheiten, wo auch immer sie gleichsam mit der Muttermilch eingesogen wurden, jahraus jahrein…in all den verflossenen Jahren.

Da gab es eben keine Zerfallszeit, da schien die Zeit die Magd der träumenden Menschlein zu sein;

da gab es eben keine Bilderfluten, da schien jeder Schmetterling ein Wunderwesen, bei dem man gerne lang verweilte;

da gab es eben keine Kakophonie von allen Seiten, da schien der Amsel Stimme oder der Nachtigall Gesang oder – noch besser – die Stimme der Mutter wie Samt und Seide, schöne Begleiter auf atemberaubenden Tagträumen…

Auf jeden Fall spielt es dabei absolut keine Rolle, wo es war. Es war einfach nur wahr. Jetzt muss die Erinnerung zu Hilfe eilen. Da kommt es zu waghalsigen Ungenauigkeiten. Aber wir schwärmen dennoch gerne und immer wieder in solche ehemaligen Gefilde zurück. Wohl – weil sie etwas von Kraft und Sicherheit zu bieten hatten, was derzeit eher als Mangelware, als billiger Ausverkauf – um nicht zu sagen: Betrug – erlebt wird. Und die Ortlosigkeit dieser Billigangebote ekelt nur noch an.

So wird die Heimat zum unbedingten Sehnsuchtsort, der aus der Erinnerung sich speist, aber in die Gegenwart und Zukunft weisen soll, die mehr und mehr an Glaubwürdigkeit zu verlieren drohen.

Die schöne Nebenwirkung dieser Heimat-Tag-Träume ist dabei auch noch: Sie macht uns alle so was von verwandt – jenseits aller geographischen und sonstigen Besonderheiten und bedrohlichem Befremden – dass Streit, Hass oder gar Krieg eher lächerlich und überflüssig erscheinen müssten.

Warum aber tun sie es nicht?

09 Juli

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 64

 

Das Geständnis des Trasopas

Ein Dämon auf dem Meer?“ fragt Chandaraissa und hilft dem Fischer Trasopas wieder auf die Beine.

Ja, er hat sogar mit mir gesprochen: Ich sollte vom Fang etwas zum Tempel bringen, als Opfergabe sozusagen, hat er gesagt.“ Thiala, seine Frau nickt.

Hier im Korb hatten wir die Fische gehabt, aber die Katzen haben sie uns gerade eben erst gestohlen.“

So, so, die Katzen.“ Chandaraissa ist sprachlos. In Europa steigt eine unbändige Wut hoch, als sie das hört. Der Fremde in der Höhle, ER, er muss es gewesen sein. ER will ihr ans Leben. Alle starren auf die toten Katzen, Fliegen surren über dem Erbrochenen.

Todesangst in den Augen des Fischers und seiner Frau. Aber die Hohepriesterin schickt sie gnädig heim. Auch die Tänzerinnen, denen das Lachen gründlich vergangen ist und die nicht verstehen, was da gerade geschehen ist, schickt Chandaraissa mit einer Geste weg. Zurück bleiben nur Europa und die beiden toten Katzen. Und die Fliegen. Es werden immer mehr. Die Katzenaugen scheinen milchig leer und blind in den Fliegenfreudentanz zu stieren.

Wir werden den Platz mit geweihtem Wasser reinigen müssen, damit der Fluch des Dämons nicht weiter wirken kann“, flüstert Chandaraissa.

Komm, gehen wir hinein und beten zu unserer großen Göttin. Sie hat uns beschützt, gerettet“, fügt Europa leise hinzu.

Chandaraissa legt behutsam ihren Arm um die Schulter ihrer Freundin und so gehen sie langsam ins Tempelinnere.

Drinnen beten sie lange. Dazu hatten sie sich flach auf die kühlen Steine gelegt. Oben in den kleinen runden Fenstern flattern leise wie immer die vergnügten Elstern.

Ob sie beobachtet werden von dem todbringenden Dämon? Sie wissen es nicht. Aber sie sind beide fest entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen und weiter im Dienste der Göttin zu leben und zu wirken. Komme, was wolle.

29 Juni

Europa – Meditation # 103 Heimat-Text Nr. 20

Europa: Meine Heimat, deine Heimat, wessen Heimat?

Als wenn das die Frage wäre! Denn Europa kann gar keine Heimat sein, Europa war schon immer ein Mythos, ein geographischer Begriff, eine Erzählung – oder wie man heute sagen würde: ein Narrativ, aber keine Heimat. Aber es ist ein Reizwort, das wie von selbst Gefühle freisetzt, die unseren Blick auf Themen, Menschen, Länder, Religionen und Systeme nachhaltig einfärbt.

Und natürlich setzen manche gerne diesen Begriff gleich mit Europa, um sich abzugrenzen gegen die Nicht-Europäer, woher auch immer sie kommen mögen. Und um Wasser auf die Mühlen ihrer Ängste – oder auf die von denen, denen sie Angst machen möchten – zu gießen. Denn dann müssen sie nicht über die Probleme reden, von denen sie unbedingt ablenken möchten: Armut, Ungerechtigkeit, Wohnungsnot, vergiftete Böden, Bildungsbenachteiligung, Versorgung der Alten, die Renten, die maroden Schulen, die fehlenden Lehrer und und und…

Früher umschrieb man solche politische Manöver mit dem griffigen Fremdwort: Sozialimperialismus – i.e.: Ablenken von den inneren Probleme, in dem man nach außen Stärke mimt und vortäuscht; natürlich alles nur zum Wohle des verstörten Wählers, der von zu schwachen und zögerlichen Politikern um eine sichere Zukunft gebracht werde!

Dabei ist die sogenannte Flüchtlingsfrage ja längst ein globales Thema – wie so viele andere Themen auch – sie wird aber hier mutwillig eingeengt auf ein Kräftemessen zwischen dem wild entschlossenen Innenminister, der ja auch das Thema Heimat unter seine Fittiche meint nehmen zu müssen, und der „zaudernden“ Kanzlerin – eine billige Attacke. Als ginge es um das Gender-Problem, um den vermeintlich starken Mann und die vermeintlich schwache Frau!

Angesichts steigender Mietpreise, entwerteter Dieselfahrzeuge und schmilzender Altersvorsorge – von den nach wie vor still vor sich hin wabernden Kränkungen, die die Treuhandgesellschaft eiskalt und blitzschnell erzwungen hat, mal ganz zu schweigen – ist es wohl ein Erfolg versprechendes Ablenkungsmanöver, Heimat zu beschwören und den Regierenden völliges Versagen in Sachen „Überfremdungsfolgen“ vorzuwerfen. Aus wahltaktischen Gründen kein übler Schachzug, wohl wahr!

Aber bleiben wir auf dem Teppich! Die EU – und das ist nicht Europa, sondern das sind lediglich 27 (wenn England gegangen sein wird) von 47 Staaten – hat nach wie vor finanztechnische Probleme, die Flüchtlingsfrage ist ebenfalls auf der Agenda – aber Heimat, Heimat kommt darin nur immer als regionales, kommunales Erlebnis vor – etwa so oft, wie Menschen mit Menschen in derselben Sprache am vertrauten Tisch über Gott und die Welt quatschen.