Europa – Fortsetzung der alten Geschichte (Mythos # 21)
Wie dem Mythos „Europa“ seine falsche Farbe verpasst wird.
„Was treibst du hier, Bruder?“
„Hey, hast du mich aber erschreckt!“
Der Obergott war nämlich eingenickt auf seinem Floß. Doch selbst in seinen Träumen hatte er sie nicht los bekommen. Keuschend hielt er sie umarmt. Lust hielt ihn gefangen. Ihr Leib – sie spüren, sehen, riechen – überwältigte ihn maßlos. Die Traumbilder mit ihr hatten ihn schwindlig getanzt. Selbst sein Floß beginnt zu schwanken. Nun sieht er plötzlich die triefenden Augen seines Bruders auf sich gerichtet. Mit Gepolter fällt der Dreizack auf das glatte Zedernholz. Dann legt der Gott des Meeres seine Arme auf das Floß, so dass es in Schieflage gerät.
„He, pass auf, ich habe keine Lust, ins Salzwasser zu plumpsen.“
Der Meeresgott grinst zufrieden. Sein Bruder in Not. Das bekommt er nicht oft zu sehen. Trotzdem möchte er wissen, weshalb er hier allein auf einem Floß unterwegs ist.
„Nun sag schon, was führst du im Schilde?“
Soll ich ihm sagen, was mir passiert ist? Wir Brüder müssen zusammenhalten. Unbedingt. Unsere Frauen sind beileibe mächtig genug – das darf bei den Menschen auf keinen Fall Schule machen.
„Kann ich auf deine Verschwiegenheit rechnen?“
„Hör mal, Bruder, ist doch klar. Also erzähl!“
Und dann erzählt er die Geschichte mit Europa. Hätte Sie zuhören können, hätte sie sich sicher gewundert, wie schlecht er sie vor seinem Bruder machte. Und als er zu Ende erzählt hat – beim Erfinden seiner Entführungsgeschichte hatte er sich immer weiter in Rage geredet – ist er sehr zufrieden mit seiner Erfindung – sie klingt so, als wäre sie wahr.
„Also, das dürfen wir der aber nicht durchgehen lassen, Bruder!“
Der Meeresgott spielt den Empörten gut. Der wütende Obergott knetet knurrend seine Lippen. So allein auf seinem Floß – nur um ein Alibi vor seiner misstrauischen Familie zu haben – wettert er auf Rache sinnend vor sich hin. Ein Glück, dass jetzt wenigstens sein Bruder zufällig vorbeikam. Und so tönt es dann in ihm:
„Das wirst du mir büßen, du falsche Prinzessin! Und nicht nur du. Nein, alle Frauen sollen deinetwegen mit einem niemals endenden Fluch beladen sein!“
Während die beiden Brüder sich weiter nach Westen treiben lassen, tobt am anderen Ende des Meeres Agenor, Europas Vater, ebenfalls voller Wut. Mit blutunterlaufenen Augen sitzt er auf einem Thron, den seine Leute vor die Stadt tragen mussten. Seine Tochter hat sich heimlich aus dem Staub gemacht. Keiner weiß, wo sie ist. Da passt es ihm gut, dass die Königin vor Gram gestorben sein soll. So wird niemand je erfahren, wer ihr Mörder ist. Gut so. Aber es kühlt kaum sein Zorn. Denn er ist blamiert. Die Abgesandten des Bräutigams haben ohne Braut den Libanon verlassen müssen. Das Pantherpaar, die große Ziegenherde und die jungen Stiere ist er los für nichts und wieder nichts! Alles wegen seiner ungehorsamen Tochter Europa. Jetzt wird er ein Strafgericht abhalten, hier vor der Stadt: Alle ihre Sachen, die sie noch – Gehorsam heuchelnd – in Kisten verpacken ließ, sollen stellvertretend vernichtet werden. Alle. Kleider. Schmuck. Tagebücher, Möbel, alles. Jetzt ist das Zeug zu einem großen Haufen vor ihm aufgerichtet. Das Volk steht schweigend und entsetzt drum herum. Agenor, der König, gibt das Zeichen. Feuer! Drei Sklaven halten Fackeln in den Berg all der Kostbarkeiten der Prinzessin Europa. Zufrieden schließt Agenor die Augen. Der wachsende Schimmer der gierigen Flammen scheint hell selbst durch die geschlossenen Augenlider. Rauch steigt auf. Ein Raunen geht durch die Menge, als sich nun der König erhebt und losschreit:
„Europa! Verflucht sollst du sein für immer. Du und alle Deine Nachkommen! Mögen die Götter mir beistehen, dass dieser Fluch dich verfolgt durch Zeit und Welt! Immerzu und überall!“
Die Seher, die verängstigt hinter des Königs Thron mit gebeugten Häuptern stehen, wissen, dass sie günstige Sprüche der Götter von nun an dem König werden aufsagen müssen. Ungünstige wären ihr Todesurteil. Das spüren sie genau. So nah dem Wutausbruch fühlen sie die Gefahr überdeutlich. Verstört zerstreut sich die gaffende Menge. Sie mochten die Prinzessin. Sie war so lebensfroh, so eigensinnig, so sinnlich schön. Sie werden sie einfach heimlich in guter Erinnerung behalten, mag der König auch noch so toben. Sie vermissen sie schon. Europa.