27 Sep.

Europa – Verraten und verkauft? (Meditation # 49)

Wie in der Sanduhr lautlosem Gleiten scheinen wir unmerklich zu versinken – vergeblich uns klammernd am flüchtigen Jetzt.

Jeder haust in seinem vom eigenen Hauthaus begrenzten Organ und schaut neugierig aus den beiden Fenstern hinaus, wo aller Lärm, alle Bewegung vorbeirauschen wie die Ewigkeit des Immer Gleichen.

Konflikte überall. Schon lange schwelende – wie der in Palästina oder Korea – oder scheinbar erst neulich entstandene – wie die auf untergehenden Schiffen im Mittelmeer oder in einstürzenden Häusern im Jemen.

Neulich erst war täglich zu lesen und zu hören von den Werten Europas, derer man sich doch bitte erinnern solle. Dabei war gar nicht die Rede von diesen alt überlieferten Bildern und Geschichten in Europa, sondern von Geld und mehr Geld in einer Wirtschaftszone, die sich Europäische Union nennt. Oder eben von zu befürchtenden schrumpfenden Märkten und wachsenden Arbeitslosenzahlen, falls man die Zone mutwillig wieder in Einzelteile zerstückeln würde. Angstmache eben bloß.

So die Befürworter der EU. Aber ganz anders deren Kritiker: Die Begrenzung auf das Eigene sei nötig, um sich im eigenen Haus überhaupt noch zurechtzufinden. So redete und schimpfte man unentwegt und voller Gefühl und wenig bedacht weiter, bis sich die meisten daran gewöhnt hatten, dass man dem anderen gar nicht zuhören muss, sondern lediglich zu warten hatte, bis der mit seinem Text zu Ende war, um dann den eigenen umso emphatischer dagegen zu setzen. Rufer in der Wüste der medialen Dauerberieselung. Keiner hört den anderen mehr, keiner achtet den anderen mehr, nur sich selbst und die Gleichgesinnten – und alle auf einer riesigen Sand- und Wanderdüne, in der alle unmerklich zu versinken drohen, ohne es überhaupt wahrzunehmen. Das Gleiten auf unfestem Untergrund wird einfach als angenehmes Schwindelgefühl umgedeutet, das fast so etwas an sich habe wie freier Flug – nur eben noch so gerade mit Bodenhaftung.

Dabei rinnt das Leben – so greifbar nah und wunderschön – ungelebt und wie rieselnder Sand – durch die Hände. Das Vertraute bleibt überschaubar und verstehbar bei der Hand: Die Freunde, die Feinde, die eigene Sprache, die Musik, das Theater, der Fluss und das Tal, der Duft der Äpfel und die Gräber der Vorfahren, der unfähige Chef, die Arbeit im Garten, das Kartenspiel, reichlich zu essen und zu trinken und die nervenden Bälger drum herum.

Da sind sie alle eigentlich Verwandte, verwandte Europäer, die in ihrer je eigenen Sprache und Kultur in ähnlichen Gesten und vertrauten Räumen eifrig streiten über Gott und die Welt – in Bildern, die prall angereichert sind mit alten Geschichten, Mythen, langen Kriegen und kleinem Frieden. Die Nachbarländer kennt man. Man schätzt manches bei denen mehr, manches weniger, Grenzlinien dienen lediglich der groben Orientierung. Das alles ist im Laufe der Jahrhunderte gewachsen – neben einander. Europa ist der Sammelbegriff, weiter nichts – mit einer mythischen Erzählung am Anfang, die die meisten längst vergessen haben. Mit einer Union der Wirtschaft hat das wenig zu tun. Das ist eine ganz andere Geschichte. Da geht es um Geld, um Einfluss und um eine Schieflage vom Norden zum Süden auf diesem kleinen Kontinent. Um finanzielle Abhängigkeiten und Zwänge und um besserwisserische Bevormundung. Europa – als kostenloser und steuerfreier Selbstbedienungsladen für glänzende Abziehbildchen sogenannter europäischer Werte –  ist da der probate Mantel, um es schöner aussehen zu lassen als es ist.

Und dass nun viele den etablierten Parteien den Rücken kehren und sich gerne und als lustvoller Protest alternativen Angeboten zuwenden (denen sie prinzipiell oft in den meisten Punkten gar nicht nahestehen), ist überhaupt nicht beängstigend, sondern lediglich Ausdruck einer Haltung, die sagen will: Wir lassen uns nicht länger Sand in die Augen streuen, wir sind zufrieden mit unserem überschaubaren Leben, hört auf,  auf uns einzureden, dass  die Dinge eben kompliziert seien, dass es keine Alternative zur Europäischen Union (vorne auf blauem Grund ein güldener Sternenkranz, hinten ein luftiges Geldscheine-Kartenhaus) gäbe und dass Wachstum, wirtschaftliches Wachstum – versteht sich –  eine Naturkategorie sei wie Tag und Nacht.

13 Aug.

Europa – Mythos # 41

Ein Bettler macht den verzagten Frauen Mut

Sarsa hält den Atem an. Was, wenn Nemetos den Rausch nicht überlebt? Ängstlich beugt sie sich über den reglos daliegenden Mann; sie versucht ihn atmen zu hören. Inzwischen ist es so dunkel in der übel riechenden Hütte ihres Zwangsgatten, dass sie ihn kaum noch erkennen kann. Sie meint, ihn atmen zu hören. Erleichtert richtet sie sich wieder auf. Da kommt ihr der rettende Gedanke: Ich muss zu Belarsi, muss wissen, wie es ihr mit Thortys gegangen ist, ob der auch wie tot da liegt. Tastend sucht sie den Ausgang zu finden, stößt mit der Hand heftig gegen die Brettertür. Ein Schmerz fährt ihr durch den Arm. Sie muss sich einen Splitter unter den Fingernagel gerammt haben. Tapfer unterdrückt sie einen Schmerzensschrei. Mit der Zunge sucht sie die Stelle, schmeckt ihr Blut, fühlt den Splitter. Schnell zieht sie ihn mit ihren Vorderzähnen heraus. Glück gehabt. Der eigenartige Geschmack des Blutes gefällt ihr. Vorsichtig späht sie auf die dunkle Gasse. Kein Mensch weit und breit. Schnell schlüpft sie ins Freie. Sie ist völlig verwirrt: Wie soll das weiter gehen? Chandaraissa kann doch nicht Nacht für Nacht dieses Getränk für sie bereit stellen. Sternenhimmel über ihr. Der Anblick beflügelt sie. Als sie aber auf die Hütte von Belursi und Thortys zu schleicht, bleibt sie wie vom Blitz getroffen stehen, hält vor Schreck den Atem an. Da ist eine Gestalt direkt vor ihr.

„Keine Angst, Sarsa, es wird alles gut werden. Ich habe hier ein kleines Geschenk für dich, über das sich deine Freundin Belursi sicher freuen wird. Hier, nimm nur!“

Wie Eisregen prasseln die Fragen auf sie ein, die in ihrem Kopf durcheinander purzeln. Gleichzeitig läuft ihre eine wohltuende Gänsehaut den Rücken herunter. Woher kennt der meinen Namen, wer ist das? Den habe ich noch nie gesehen. Warum habe ich keine Angst, jetzt? Ohne zu zögern, greift sie zu, als der Bettler ihr seine Hand entgegenstreckt. Wie ein warmer Schwindel fegt ein fremdes Gefühl durch ihren Körper, als sie den Stein in ihrer Hand spürt. Glatt, fast in der Form eines kleinen Vogeleis. Kühl fühlt er sich an. Kühl? Wie…? Sarsa ist völlig verwirrt, aber guter Dinge, eigenartigerweise.

„Danke. Wo kommst du her, ich habe dich hier noch nie gesehen? Bist du gerade am Palast angekommen, bist du nicht von der Insel? Was machst du hier in dieser Gasse? Und wie heißt du überhaupt?“

Sarsa wundert sich selbst über ihre Fragen. Aber ihre Neugierde hat ihr Lust gemacht, den Bettler mit Fragen zu überhäufen. Fast hätte sie vergessen, dass sie doch zu Belursi eilen wollte, um zu sehen, ob es der Freundin genauso mit Thortys gegangen ist, wie ihr mit Nemetos. Der Fremde lacht:

„Sysoniod. Geh nur zu Belursi. Sie wartet schon auf dich. Sie sehnt sich sogar nach dir.“

Jetzt wird ihr aber wirklich unheimlich. Sysoniod? Nie gehört. Er kennt auch Belursi? Ist es vielleicht ein Spion von Sardonios, der sie ans Messer liefern soll? Sarsa wirft die Fragen lachend in den Wind. Sie spürt, wie sehr sie sich nach ihrer Freundin sehnt. Im Davonlaufen ruft sie noch leise ein „Danke!“ zu dem eigenartigen Fremden und hastet weiter zur Hütte des Nemetos. Ohne zu zögern öffnet sie das, was wohl die Tür sein soll, erkennt schemenhaft einen Mann, der am Boden liegt und neben ihm Belursi. Kichernd. Da muss sie auch kichern und wirft sich jauchzend auf die Freundin. In der einen Hand hält sie das Geschenk, mit dem sie jetzt Belursi über den Bauch fährt. Da löst sich ein leises Stöhnen aus dem Mund der Freundin.

„Komm!“ flüstert Belursi, „ich habe schon so auf dich gewartet.“

Und bevor Sarsa überhaupt noch etwas lachend erwidern kann, spürt sie die feuchten, weichen Lippen von Belursi auf den eigenen. Inbrünstig erwidert sie diesen lüsternen Kuss und wundert sich, dass ihr dieser Augenblick irgendwie bekannt vorkommt. Hatte sie diese leidenschaftliche Umarmung, in die sie sich nun fallen lassen, schon geträumt oder sogar phantasiert? Und warum ist da auch nicht ein Sandkorn von Angst mit dabei? Warum kann ich das jetzt so genießen? Der Stein, so rund und glatt geformt in ihrer Hand, wandert – als wäre er solcher geheimer Wege längst schon kundig – zwischen ihnen hin und her. Selbst das Bild des Fremden stört sie nicht in ihrem Genuss. Er ist mit dabei. Die beiden können lange nicht mehr von sich lassen, küssen, streicheln und verwöhnen sich mit unsagbaren Zärtlichkeiten. Neben den Liebenden liegt im Dunkeln der betäubte Thortys sabbernd da und weiß nichts von ihrem Glück.

10 Aug.

Europa – Mythos # 40

Zeus freut sich zu früh

Wie vom Donner gerührt starren alle im großen Innenhof auf den Minos von Kreta, der gerade seinen Richterspruch gefällt hat. Vor allem die betroffenen Frauen sind sprachlos. Mit so einem Urteil hatten sie nicht gerechnet. Auch die Grummelnden vom Ältestenrat sind überrascht: Einerseits freut es sie, dass die Macht der Männer Wirkung zeigt – schließlich werden zwei jungen Frauen ohne deren Einwilligung zwei gehorsamen Dienern zugesprochen – andererseits hätten sie sich natürlich gewünscht, dass die beiden Verdächtigen – die Hohepriesterin Chandaraissa und diese undurchsichtige Fremde, Europa – dem Stier zum Fraß vorgeführt würden. Schade. Dabei hatte das prächtige Tier eben noch so wohltuend furchterregend gebrüllt. Auch der Herr der Hofhaltung, Sardonios, weiß überhaupt nicht, was er von dieser Entscheidung halten soll: Hat ihn Archaikos durchschaut oder nicht? Er wird sich hüten müssen, jeder weitere Fehler könnte vielleicht sein Ende bedeuten. Denn die Sache mit seinen beiden Spionen ist doch wohl völlig daneben gegangen. Der Hass auf Chandaraissa und Europa aber wächst und wächst weiter.

Überlaut schallt da das plötzliche Flattern der drei Elstern vom Dachgesims herunter: Die drei Brüder sind zufrieden. Der Minos hat es den Frauen so richtig gezeigt. Zeus‘ Rachefeldzug gegen die selbstgefällige Europa und ihre Freundinnen zeigt erste Wirkung; zwar hat es Europa noch nicht direkt selbst erwischt, aber auch so wird sie mit gedemütigt. Im Davonfliegen senden sie den erschrocken nach oben Blickenden noch schrille, gellende Laute hinterher. Es klingt wie ätzende Schadenfreude. Als wollten sie sagen: Seht ihr allzu stolzen Frauen – Hochmut kommt vor dem Fall, schon immer!

Archaikos blickt stolz in die schweigende Runde, dann wendet er sich abrupt zum Gehen und lässt die Zuhörer und Betroffenen ratlos zurück. Er will Europa jetzt nicht in die Augen schauen. Und was sollte dieses Vogelgeschrei da oben? Nichts wie weg! Sarsa und Belursi, die beiden jungen Priesterinnen, die eben noch kichernd durch die Gänge tanzten und sich lüsterne Phantasien gönnten, sind fassungslos. Voller Verzweiflung wenden sie ihre Blicke zu Chandaraissa. Sie ist die einzige, die schon weiter denkt und auch schon einen Plan hat. So lächelt sie ihren beiden Priesterinnen freundlich zu, was sie aber überhaupt nicht verstehen können. Was gibt es denn in so einer Situation zu lächeln? Denn Nemetos und Thortys, denen zentnerweise die Steine vom Herzen gefallen sind, kommen schon mit stolz geschwellter Brust auf sie zu und spielen gleich die kleinen Herren vor ihnen: „Folgt uns zu unseren Häusern, wo ihr zukünftig leben werdet!“ Und in ihren Augen blitzt tierische Lüsternheit auf.

Dummerweise erlauben die zwei Helden ihren neuen Frauen am späten Nachmittag doch tatsächlich noch ein letztes Mal zum Tempel zu gehen, um ihre Kleider und sonstigen Habseligkeiten zu holen. Chandaraissa empfängt sie gleich in ihrer hellen Zelle und eröffnet den beiden auch ohne Umschweife ihren Plan:

„Wir müssen klug sein, dürfen auf keinen Fall erneut den Argwohn des Minos erregen. Deshalb wollen wir sie in Sicherheit wiegen. Lächeln, gehorchen. Das wird sie blind machen für unsere geheimen eigenen Pläne und Entscheidungen.“

Aber, hohe Frau und Herrin, wir werden in dieser Nacht auf ihrem Lager liegen müssen und…“

„Auch daran habe ich gedacht!“

Chandaraissa schmunzelt, und im Flüsterton erfahren Sarsa und Belursi, was sie tun sollen. Unter ihren Kleidern verstecken sie die kleinen Gefäße, die ihnen die Hohepriesterin zusteckt. Die jungen Frauen umarmen sich noch einmal, bevor sie hinter den klappernden Türen der Häuser ihrer Männer verschwinden. Wobei Häuser eher übertrieben ist: Es sind dünnwandige Hütten, fensterlos und mit einem Lüftungsloch im spitz zu laufenden Dach. Es riecht gar nicht gut da drinnen und statt eines Bettes gibt es nur eine alte Strohmatte, auf der sie ihr neuer Herr – Nemetos Sarsi und Thortys Belursi – erwartet. Die Dunkelheit im Raum kommt dem Plan der Frauen sehr entgegen.

Mein Gebieter“, säuselt die eine wie die andere zur gleichen Zeit, „um die Lust zu erhöhen, habe ich mir von der Alten – du weißt, wen ich meine – einen Liebestrank mischen lassen, den sollten wir gleich trinken. Dann wird das Stöhnen gar kein Ende nehmen.“

Die beiden Männer haben noch nie so eine Frau zu sich reden hören. Ihre Erregung erstickt gleich jeden Gedanken an Falschheit oder Verrat. Zitternd und geil führen sie hastig das kleine eigenartig duftende Gefäß an ihre Lippen und stürzen den Zaubertrank der Alten – wie sie gerne glauben –  gierig hinunter. Wie Feuer läuft das Getränk in ihrem Körper bergab. Um etwas Zeit zu gewinnen flüstern die neuen Gattinnen ihren Herren noch etwas ins Ohr: „Warte nur kurz, auch ich will davon trinken, umso größer wird die Lust für uns beide sein!“ Bald liegen die Männer lallend auf ihrem Lager. Tasten ins Leere. Wahnsinnsträume. Dumpfes Vergessen.