05 Juli

Europa – Mythos # 39

Zeus scheint die Rache an Europa zu gelingen

Die jungen Priesterinnen, Sarsa und Belursi, hatten die Oberpriesterin erfolglos in den vielen Treppenhäusern und langen Gängen des Palastes gesucht. Niemand wollte ihnen weiter helfen. Dann hatten sie sich von den wunderbaren Wandbemalungen ablenken lassen und vergaßen, was sie eigentlich zu finden hofften.

„Schau, dieser Stier. Ist er nicht prächtig und mächtig, ist er nicht….?“

Belursi lacht los. Auch sie ist völlig hingerissen. Die großen Augen des kraftvollen Stiers scheinen sie zu verfolgen, als sie staunend an ihm vorbei gehen. Ganz dicht bewegen sie sich an der bunten Wand entlang. Auch sie durchfluten Lustgefühle. Sie tut aber so, als wäre es nur Sarsa, die an so etwas denkt, als habe sie die Freundin ertappt bei ihren lüsternen Phantasien.

„Sarsa! Bist du wahnsinnig? Wenn dich die Hohepriesterin jetzt gehört hätte!“

Sarsa aber schwärmt einfach weiter. Die Muskeln unter der Haut des wilden Tieres sind so deutlich zu erkennen, dass sie meint, sie bewegten sich gerade. Ihr wird fast schwindlig vor Hingabe an dieses Bild. Genüsslich streicht sie mit der Hand über die kühle Wand. Ihr ist heiß und kalt zugleich dabei. Da öffnet sich am Ende des Flurs, dicht vor ihnen, die Doppeltür. Sardonios, der Herr der Hofhaltung tritt heraus, hinter ihm erscheint auch gleich Chandaraissa und Europa. Die beiden jungen Priesterinnen halten den Atem an. Sie fühlen sich ertappt, werden rot, verneigen sich schnell, um ihre Gesichter zu verbergen.

„Folgt uns bitte in den Innenhof. Der Minos wird gleich das Urteil verkünden!“

Schnell atmend und sich verstohlene Blicke schickend kommen Sarsa und Belursi wieder hoch. Chandaraissa hatte im Vorbeigehen beide leicht an der Schulter berührt, ohne etwas zu sagen. Erleichtert folgen sie den dreien vor ihnen. Wenn sie wüssten, was sie im Innenhof des Palastes erwartet, wären sie sicher jetzt nicht so kichernd und prustend los gelaufen, hätten sich eher versteckt, wären geflohen vielleicht sogar. Flüsternd kommt Sarsa noch einmal auf den Stier zu sprechen:

Belursi, schau mich bitte gleich nicht an, wenn wir auf das Urteil warten. Ich muss sonst wieder los lachen. Du bist aber auch immer so direkt und unverblümt, ehrlich!“

Belursi würde gerne erwidern, sie hat auch schon eine witzige Antwort parat. Aber sie hält sie zurück. Später, denkt sie und stellt sich voller Vorfreude schon das Gelächter vor, das dann über sie beide herein brechen wird.

Dann geht alles so schnell, dass es ihnen vorkommt, als wären sie in einen schlimmen Traum geraten. Alle hatten sich erhoben, als der Minos herein schreitet. Er lächelt. Ein gutes Zeichen? Und die drei Elstern oben sind auch wieder da, als gäbe es auch etwas für sie zu gewinnen. Die alten Ratgeber wieder in Lauerstellung. Sie warten auf den nächsten Fehler des Minos. Die Schadenfreude ist ihnen schon ins Gesicht geschrieben. Nemetos und Thortys ängstlich, mit großen Augen und hechelnd wie geschlagene Hunde, so stehen sie da, als würde gleich die Doppelaxt auf sie nieder fahren, sie eiskalt enthaupten. Dabei sind sie doch nur zwei Zeugen. Sardonios spielt weiter den scheinbar Unangefochtenen. Chandaraissa und Europa, die beiden Angeklagten, fühlen sich bereits als entschuldigt. Die Elstern oben am Rand des Dachgartens legen die Köpfe schief, sie wollen nichts verpassen, auf keinen Fall. Dann holt Archaikos tief Luft, die er sehr vernehmlich durch die Nasenflügel einsaugt, und spricht dann so:

„Ich habe, wie angekündigt, im Tempel die Szene durch probiert. Die Zeugen müssen sehr gute Ohren haben, fürwahr. Dafür sollen sie belohnt werden. Wahrscheinlich haben sie sich aber verhört. Wir werden es nie heraus bekommen, nachträglich. Deshalb halte ich folgenden Spruch für gerecht und richtig – die Göttin hat mir im Tempel diesen klugen Ratschlag gegeben – und wir werden ihr in aller Ehrfurcht Folge leisten:

Die beiden Zeugen – Nemetos und Thortys – werden die beiden jungen Priesterinnen Sarsa und Belursi als Gattinnen nehmen, um so den Unfrieden, der zwischen mir und den beiden Angeklagten durch die schlimme Anschuldigung entstanden ist, für immer aus der Welt zu schaffen. “

05 Juli

Europa – Mythos # 38

Die Stunden vor dem folgenschweren Urteil des Minos von Kreta

Archaikos wendet sich zum Gehen. Sardonios starrt weiter vor sich hin. Seine beiden Zeugen – Nemetos und Thortys – wissen nicht, was sie tun sollen. Gehen? Bleiben? Den Herrn der Hofhaltung, Abgaben und Sicherheit halten sie für sehr launisch und unberechenbar. Nie weiß man, was zu tun ist. Alles kann todbringend sein. Hinterher weiß man es, dann ist es aber zu spät. Jetzt steht Archaikos neben seinem Stellvertreter. Der fährt hoch, verbeugt sich erschrocken. Sie flüstern. Sardonios nickt, wendet sich den beiden Angeklagten zu. Der Minos zieht sich zurück.

„Folgt mir bitte!“

Chandaraissa traut ihren Ohren nicht. Was hat das zu bedeuten? Auch Europa staunt. Kam diese Bitte wirklich von Sardonios? Wie in einen Traum verirrt wenden sich die beiden Frauen der Tür zu, die der Herr der Hofhaltung ihnen öffnet. Das ist nicht der Gang zu den Zellen der Gefangenen. Das ist der Weg in die Gemächer des obersten Herrn der Kreter. Ein Falle? Ihre Hände streifen sich kurz. Als tauschten sie gegenseitige innere Kräfte aus. Ihre Verwirrung nimmt zu, auch die innere Anspannung. Ob das ihre letzten Stunden sind, die sie noch zu leben haben? Ein bloßer Aufschub, um sie in falscher Sicherheit zu wiegen? Beide nehmen sie betend Zuflucht zur großen Göttin. Nur sie wird Rettung bringen können, nur sie.

Oben, an der Kante des Daches zum nun leeren Innenhof hin palavern die drei Elstern, als gäbe es das Urteil schon. Zeus, Hades und Poseidon finden die Pause völlig überflüssig. Kurzes Flügelflattern und Schwanzwedeln, dann fliegen sie hintereinander davon.

Unten – in den schattigen Gängen des Palastes – ist es auch still geworden. Der Minos hatte angeordnet, dass den beiden Frauen, Chandaraissa und Europa, kühles Quellwasser gereicht werden soll, dass sie sich auf bequemen Kissen im kleinen Gästesaal ausruhen können und nicht gestört werden dürfen. Die beiden verstehen diese Wende nicht. Aber sie genießen die Stille, das erfrischende Getränk und sich selbst.

„Das ist sicher die Folge des Eingreifens der Göttin. Oder was meinst du, Europa?“

Chandaraissa lacht endlich wieder, zärtlich streichelt sie Europas Hand, der Traum der letzten Tage scheint sie weiter verwöhnen zu wollen. Europa sieht es genauso wie ihre neue herrliche Freundin.

„Wer sonst? Übrigens, hast du auch die drei Elstern gesehen? Ich hatte das Gefühl, die schauen uns zu, als könnten sie verstehen, was da gerade vor sich geht. Komische Vögel. Ob sie Boten unserer Göttin sind? Oder waren sie nur zufällig da oben?“

„Ja, auch ich habe mir so meine Gedanken dazu gemacht.“

„Ich hatte solch eine große Angst um uns.“

„Kaum dass wir uns kennen, kann es doch einfach nicht schon zu Ende sein.“

„Zusammen werden wir bestimmt noch Wunderbares hier auf der Insel erreichen.“

„Bei so vielen Lauschern müssen wir nur sehr vorsichtig sein mit unseren Plänen.“

„Ich fühle mich so, als wäre ich endlich angekommen in meinem Leben, als wären die schlimmen Geschehnisse der Vergangenheit in meiner Heimat, mit meinem Vater und mit dem verlogenen Fremden nötig gewesen, um in deiner Nähe und mit dir neu geboren zu werden.“

Chandaraissa hat Tränen des Glücks in den Augen. Ihr Herz quillt über in leidenschaftlicher Zuneigung zu ihrer neuen Freundin, zu Europa, der jungen schwangeren Frau. Die drohende Gefahr dieses Morgens wendet sich gerade für beide in eine Glück versprechende Zukunft. Starke Gefühle bestärken sie jetzt wohlig und warm. Voller Zuversicht wollen sie nun das Urteil erwarten. Während dessen steht der Minos von Kreta im Tempel der Göttin an der Stelle, wo die beiden Zeugen durch einen Spalt zwischen Tempelraum und Vorbereitungskammer die Angeklagten belauscht haben wollen. Der hohe hehre Raum ist völlig leer, außer den Schwalben, die unter der Decke von Fenster zu Fenster fliegen und dabei ihre schrillen Stimmen hören lassen. Schmunzelnd wirft Archaikos einen Blick zu ihnen hinauf, dann begibt er sich in die kleine düstere Kammer, um von dort das Sprechen der beiden Wächter, die der mitgebracht hat, zu belauschen. Durch den Spalt kann er sie sehen, wie sie sprechen. Aber hören kann er kaum etwas. Das genügt ihm. Er atmet tief durch und weiß auch schon, was er für ein Urteil fällen wird. Zornig und schnell verlässt er den Tempel der Göttin.

05 Juli

Europa – Mythos # 37

Der Minos von Kreta erweist sich als kluger Richter

Archaikos schaut nach dieser Zeugenaussage zuerst zu Chandaraissa, dann zu Europa, dann zu Sardonios. Das ist kein guter Zeuge, denkt er. Sardonios, wenn du mir schaden willst, musst du schon bessere Fallen stellen. So habe ich leichtes Spiel, aber ich werde es niemanden spüren lassen. Ich bin gewarnt und ich werde mich zu wehren wissen, werter Herr der Hofhaltung, der Sicherheit und der Abgaben. Deine Tage im Dienste des Minos von Kreta sind gezählt. Er nickt mehrmals, so, als wolle er sagen, dass damit der Fall klar sei. Dann bittet er die Angeklagte nach vorne. Die alten Ratsherren murren. Sie halten es nicht für nötig, diese böse Frau noch zu hören. Oben, an der Kante des Daches zum Innenhof tippeln die drei Krähen aufgeregt von einem Beinchen auf das andere, hüpfen flatternd hin und her, was unten die Teilnehmer des Gerichtsverfahrens unversehens ablenkt. Während alle verwirrt nach oben schauen, verständigen sich Chandaraissa und Europa kurz mit Blicken. Sie haben das willkürliche Tun des Hofes auch durchschaut, sie fühlen sich stark und zuversichtlich. Chandaraissa, die Hohepriesterin, erhebt sich, legt sich einen leichten blauen Schal um die nackten Schultern und tritt stolz vor den Richter.

Nun“, beginnt Archaikos mit leiser Stimme, „was sagt ihr zu dem schwerwiegenden Vorwurf des Zeugen Nemetos?

Sie muss nicht lange überlegen, denn sie fühlt sich warm umhüllt von den schützenden Händen der Göttin. Und die Blicke, die sie eben mit Europa wechseln konnte, machen sie nur noch ruhiger und zuversichtlicher.

Als Hohepriesterin der großen Göttin ist mein oberstes Gebot, Menschen zu helfen und nicht, ihnen ein Leid zuzufügen. Darum könnte ich solch einen mörderischen Vorsatz auch gar nicht denken, geschweige denn ausführen!

Chandaraissa neigt ihren Kopf, als wolle sie sich demütig vor Archaikos zeigen. Sie will aber nur Zeit gewinnen, sie muss sich nun eine Gegenrede zum Vorwurf ausdenken, die die Lüge der Zeugen offensichtlich machen kann. Da hört sie sich auch schon selber sprechen, sie findet die Lösung beim Sprechen:

Hoher Herr, Minos von Kreta, bestellt als Schutzherr der Göttin und ihres großen Tempels, wie soll ein Mensch denn ein Gespräch auf diese Weise überhaupt mithören können. Macht die Probe und ihr werdet sehen, dass der Zeuge nicht die Wahrheit sagt, weil er das, was er vorgibt gehört zu haben, gar nicht hören konnte.

Archaikos hatte genau den gleichen Gedanken auch schon erwogen. Sie baut ihm eine Brücke, über die er ohne Gesichtsverlust gehen kann. Das gefällt ihm. Auch ist er beeindruckt, wie stolz sie da vor ihm steht, ohne Angst, in ihrer ganzen Schönheit und mit strahlenden Augen und weichen Gesten beim Sprechen. Er wird auf ihren Vorschlag eingehen.

Da es hier um Leben und Tod geht, muss ich Gewissheit haben. Deshalb werde ich mir selbst ein Bild von der Situation im Tempel machen. Wenn die Sonnengöttin ihr abendliches Bad nehmen wird, sehen wir uns alle erneut hier wieder.

Sardonius spürt, dass seine Sache nicht gut läuft. Seine Späher sind Dummköpfe und Lügner. Er muss sehen, dass er ohne Schaden aus der Sache heraus kommt. Nemetos und Thortys sind für ihn in diesem Augenblick bereits gestorben. Aber sein Gesicht verrät nichts von seiner Wut, die jetzt in ihm tobt. Wie versteinert sitzt er da und schaut ins Leere. Die Ratsherren empfinden den Gang des Prozesses als sehr unbefriedigend. Natürlich sind die beiden Frauen schuldig, der Minos lässt sich von der Hohepriesterin verunsichern. Er ist kein guter Minos, schon sein Vater war ein schwacher Minos gewesen. Sie wittern ihre Stunde. Murmelnd und Kopf schüttelnd verlassen sie den Innenhof. Die Angeklagten werden abgeführt, die Zeugen fühlen sich in die Enge getrieben, spüren, dass es eng wird für sie; denn Sardonius würdigt sie keines Blickes. Das ist ein ganz schlechtes Zeichen. Die Belohnung, sie wollen die Belohnung unbedingt!

Längst ist die Mittagsglut auch in den Innenhof gefallen, schwitzend suchen alle Zuflucht in der Kühle der Palastgänge. Nur die Krähen sitzen weiter da oben und blinzeln auf den leeren Hof.