13 Juni

Europa – Verraten und verkauft? (Meditation # 43)

Wie sinnvoll Grenzen doch dem Menschen sind! (Teil I)

Zur Zeit hat das Warnen vor Grenzen Hochkonjunktur: Wenn Großbritannien austreten sollte, dann…und schon folgt die ziemlich lange Liste lauter Nachteile für die Briten – aus Sicht der Befürworter der EU. Und da die Menschen, was ihren Geldbeutel betrifft, sehr schnell sehr verunsichert reagieren, falls so etwas wie Verlust von Geld im Raume stehen könnte, wollen sie natürlich auch nichts von Grenzen für den Geldfluss hören. Lieber investieren sie dann sogar in Werbung für den weiteren Verbleib der Briten in der Freihandelszone, obwohl dieser Posten eigentlich im Jahresbudget bereits anderweitig verplant war. Das ist immer noch besser als Geld zu verlieren! Das Angst Schüren zeigt also schöne Wirkung für die Befürworter. Man sammelt so die verschreckten Gemüter leicht hinter sich und macht ordentlich Versprechungen für eine noch profitablere Zukunft (für wen eigentlich?) – wenn die Briten drin bleiben.

In leichter Abwandlung eines bekannten Sprichworts möchte ich hier aber ein vielleicht bedenkenswertes Argument für die Vorteile von Grenzen vortragen, die vor lauter Zuwachstaumel in den letzten Jahrzehnten etwas aus den Augen verloren gingen:

„Der Mensch lebt nicht vom Geld allein!“

Im Gegenteil, er lebt aus ganz anderen Quellen, die sich aus seinen Gefühlen und seinen Wahrnehmungen speisen. An zwei Beispielen sei das kurz verdeutlicht:

Erstes Beispiel

Spanien zur Zeit des Franko-Regimes – die Basken und die Katalanen wurden neben den üblichen Systemgegner massiv benachteiligt, stranguliert, misshandelt. Ihre eigenen kulturellen Grenzen werden einfach bürokratisch und autoritär ausradiert. Die Folge: Man steht noch dichter zusammen, pflegt noch leidenschaftlicher seine Besonderheit, identifiziert sich noch mehr mit der eigenen Geschichte der Region und macht eine Faust in der Tasche: Wir lassen uns nicht unterkriegen, wir halten zusammen, wir kennen uns und wir können uns auf einander verlassen!

Als 1975 endlich der Diktator von der Lebensbühne verschwand, entwickelt sich im freien Spiel der demokratischen Kräfte das regionale Selbstbewusstsein nun erst recht: Basken und Katalanen sind sehr stolz auf ihre Eigenart, auf ihren Widerstand, auf ihre gemeinsamen Opfer. Das macht sie nun stark, selbstbewusst und für die Grenzen zu den anderen nur noch sensibler und der Zentrale in Madrid gegenüber nur skeptisch oder immer wieder aufsässig, widerborstig und bremsend. Und sie fühlen sich gut dabei, weil sie sich kennen, ihre Lieder und Geschichten ihren Kindern emphatisch weitergeben und nicht fürchten müssen, im Sog der virtuellen und ökonomischen Globalisierung verloren zu gehen oder eingesackt zu werden – von Zentralen, die irgendwo auf der anderen Seite des Planeten Investitions- oder sogar Personalentscheidungen treffen, auf die man vor Ort keinerlei Einfluss mehr hat. Ganz gleich ob die nun Brüssel oder Hongkong heißen, diese Geld-Zentren.

Zweites Beispiel

Das sogenannte vereinigte Königreich – Erst nach großen kriegerischen Anstrengungen war es England gelungen, die Schotten und später auch ein Stück Insel der Iren an sich zu reißen. Das machte die Schotten und die Iren umso stolzer auf ihre eigene Geschichte, ihre eigene Sprache, Musik, Sagen und Gedichte. Der Widerstand ließ sie enger zusammen rücken, ließ sie gemeinsam Opfer bringen für ihre überlieferte Identität. Bis heute. Das schottische Hochland oder die Täler und Küsten Irlands lieferten Jahrhundert um Jahrhundert die Bilder der gemeinsamen Erfahrungen in Notzeiten, in gewaltigen Kriegen und in Naturkatastrophen und in großen Familiengeschichten. Da wuchs ein Wir weiter und weiter und speist bis heute das Selbstbewusstsein der Menschen. London als Zentrale der Bezwinger gilt ihnen bis heute als verdächtig, als wenig mit den regionalen Gegebenheiten vertraute bürokratische Maschinerie, der man nur knirschend oder ironisch begegnet. In all diesen Regionen – ähnliches ließe sich über die Bretonen, die Jurassen oder Bayern sagen – hört man sich die Beglückungsgesänge in Sachen EU, Welthandel, Globalisierung und Internationalität geduldig an, schweigt und denkt sich seinen Teil: „Gut, dass wir uns hier auskennen, dass wir unsere eigene Geschichte haben, dass wir uns hier zuhause fühlen können.“ Man kennt sich, Verwandtschaften, Freundschaften, Bekanntschaften bilden ein vertrautes Netz. Wir kennen unsere Grenzen gut.

20 Apr.

Europa – Mythos # 32

Agenors Plan und das gar nicht göttliche Gebaren der drei göttlichen Brüder

Agenor, Europas Vater und König im fernen Phönizien, sitzt zur selben Zeit dumpf brütend im leeren Thronsaal auf glattem kalten Stein und lässt sich wieder überwältigen von den eigenen Wutwellen, die ihn lüstern überrollen, wenn er an seine Frauen denkt. An die Königin. Tot. Er hatte es anordnen lassen. Kein Verdacht sickerte nach draußen. Gelungen also. Dass ihn nachts seitdem in seinen Träumen eine tote, verschleierte Frau besucht, ärgert ihn. Nie bekommt er sie zu fassen, kann sie nicht zur Rede stellen. Und an die Tochter denkt er jetzt. Europa, die ungehorsame Tochter. Einfach davonzulaufen. Seine Tochter, mit der er so große Pläne hatte! Seine Späher müssen sie längst aufgespürt haben. Da ist er sich ganz sicher. Er wird sie furchtbar strafen für ihren Ungehorsam. Wie, weiß er noch nicht, aber das Schwert seiner Strenge soll sie lebenslänglich vernichten. Mit mehr als dem Tod. Sein Grinsen jetzt gleicht eher einer üblen Fratze als einem erlösenden Lachen. Aber er hat das Gefühl, dass die Götter ihn dabei leiten. Sein Kampf gegen den Widerstand der Frauen ist bestimmt Teil eines großen Plans der Götter. Bestimmt. Es ist ein höherer Auftrag, eine Mission, göttlicher Wille eben, denkt Agenor trotzig. Die Stille im Saal, die Leere haben etwas Beklemmendes. Großes Tun erfordert einfach große Anspannung. Da kommt ihm der befreiende Gedanke: Wenn Europa den jungen Nachfolger im Zweiströmeland nicht heiratet und so nicht die große Königin des reichsten Landes wird, dann werde ich ihn eben bekriegen. Mir sein Land auf kriegerische Weise einverleiben. Und sie dann dort in einem hohen Turm auf einer Insel im Fluss ein Leben lang einsperren. Zur Strafe für den Ungehorsam dem Vater gegenüber. Was für ein großer Einfall! Agenor atmet tief durch, erhebt sich zufrieden, geht hinaus und genießt die Angst seiner Leute, die vor ihm zurückweichen und will sich noch heute hinter verschlossenen Türen mit seinen beiden Feldherren beraten.

Zeus sitzt währenddessen mit seinen zwei Brüdern schwitzend im blubbernden Schwefelwasser heißer Quellen; die drei erzählen sich schwüle Witze. Über Agenor. Dieser Dummkopf. Erfüllt wie ein hirnloses Schaf den Schwur, den sie gemeinsam geschworen haben: Für immer sollen die Frauen den Männern gehorchen. Für immer. Jetzt plant er auch noch einen Feldzug!

„Kommt, Brüder, lasst uns würfeln, ob er gewinnen oder unterliegen wird!“ Ihr hämisches Gelächter hallt durch die nebelverdüsterte Grotte wie misslungenes Donnergrollen. Poseidon schüttelt die glatten Steine in seiner Hand.

„Mach schon!“ feuert ihn Hades an, der insgeheim nicht von seiner Gier nach der göttlichen Persophone loskommt, was ihn ärgert. Wenn sie ihn in seiner Unterwelt Nacht für Nacht verführt, ist er geradezu von allen Sinnen. So überwältigend göttlich lüstern ist sie jedes Mal. Er hat keine Chance, ihr zu widerstehen. Sie beherrscht ihn völlig. Das macht ihn wahnsinnig. Er kann nicht genug von ihr bekommen, will ihr aber nicht unterlegen sein. Und deshalb ist ihm der Schwur auch so leicht gefallen. Die Frauen sollen ruhig dafür büßen, dass er ihr unterlegen ist. Das ist zwar nur eine kleine Rache, aber doch besser als gar keine, denkt er bitter und erregt zugleich.

„Ha! Lauter schwarze Felder oben!“ ruft jetzt Poseidon.

„Der arme Agenor, er weiß noch nichts von seinem Glück!“ prustet Zeus zufrieden bei dem Anblick des gelungenen Wurfs seines Bruders. Was er in der schwülen und dampfenden Luft allerdings nicht bemerkt hatte, war, dass Poseidon präparierte Würfel benutzte.

„Und wie sieht es auf Kreta aus, lieber Bruder? Wird Archaikos seine heiße Nebenfrau in den Griff bekommen oder nicht?“ Hades liebt es, seinen Bruder zu ärgern. Poseidon entgeht die kleine Spitze nicht, die da unterschwellig zu hören war. Auch er grinst nun genüsslich in den Schwefeldampf und kratzt sich bräsig am schrumpligen Gemächte dabei.

„Ihr braucht gar nicht so zu grinsen, ihr beiden. Ich habe dort einen sehr verlässlichen Verbündeten: Sardonius, den Herr der Hofhaltung, der Sicherheit und der Abgaben.“

„Hört, hört!“ kichert Hades hinterher. „Und was bekommt der denn zustande diesem dreimal klugen Weib gegenüber?“

„Das wüsstest du jetzt gern, stimmt`s? Lass dich einfach überraschen, mein Lieber!“

19 Apr.

Europa – Verraten und verkauft (Meditation # 37)

Geht es auch ein bisschen konkreter?

Nach den eher allgemeinen Gedanken zu Geschichte und zum Selbstverständnis der Europäer in der letzten Meditation (# 36) ist der Ruf nach konkreten Beispielen nur zu verständlich. Und damit die Beispiele auch nicht zu groß und allgemein geraten, soll statt Angst Machen (denn das und nichts anderes hat ja die EU-Seite als Dauerbrenner auf der Platte) nun eine überschaubare Gruppe von Menschen vorgestellt werden, die sich sehr wohl als veritable Europäer verstanden wissen wollen, nicht aber als Befürworter des EU-Bürokratie-Monsters.

Sie haben keine Angst vor der Zukunft, sie haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen.

Sie wohnen mehr oder weniger mitten in Europa.

Sie sind etwas weniger als fünfzig Haushalte mit einer Agrargenossenschaft und zwei Gewerbegebieten.

Also schön überschaubar, man kennt sich, man hält zusammen und schaut sich auf die Finger.

Um Geld zu sparen, investiert jeder Haushalt 1500 Euro in eine autarke Energieversorgung, eine Investition, die spätestens in sieben Jahren amortisiert sein wird.

Also hat man auch ein eigenes Interesse an schwarzen Zahlen, nicht an Korruption.

Sie setzen auf regenerative Energien (Wind, Sonne und Biomasse) und Synergieeffekte, man schafft so neue Arbeitsplätze vor Ort und Aufträge für die ortsansässigen Handwerksbetriebe.

Man will sich nämlich unabhängig machen von den großen Energieanbietern.

Und es gelingt.

Man redet abends in den Kneipen über den Stand der Dinge, streitet engagiert über alternative Konzepte, einigt sich auf Kompromisse. Die positiven Veränderungen sind für jeden sichtbar, jeder hat seine Karten mit im Spiel, ja, auch sein Geld.

Längst hat man das Gefühl, sein Geld gut angelegt zu haben – vor Ort eben und nicht in Panama.

Und mit den Jahren wächst der Stolz, das Wir-Gefühl, die Gewissheit, dass es geht – ohne Angst Machen und ohne Bevormundung von irgendwelchen Gremien irgendwo.

So weit ein kleines Beispiel für einen großen Plan. Denn so oder so ähnlich können sich Haushalte zwischen hundert und fünfhundert überall in Europa gut koordinieren, kontrollieren und solidarisieren. (So etwas funktioniert auf dem Land genauso gut wie in der Stadt; da sind es dann eben selbständige Stadtteile) So bedarf es keiner langen Wege, denn Selbstverwaltung und Selbstversorgung funktionieren auf dem kleinen Dienstweg wie geschmiert. Für die verbleibenden überregionalen Themen sind immer noch genügend Raum und Koordinierungsnotwendigkeiten übrig, aber das Herzstück wäre eben die kleine überschaubare Lebenswelt von Familien und Nachbarn, die mit Hilfe direkter Demokratie ihre hausgemachten Probleme eben selber lösen. Sie pflegen so ein vielleicht positiveres Politikverständnis, weil sie sich nicht verraten und verkauft vorkommen müssen. Die Arbeitsteilung zwischen vielen kleinen Selbstverwaltungssystemen und wenigen großen Politikfeldern, die weiter über streng kontrollierte Vertreter erledigt werden müssen, könnte sicherstellen, dass sich die Ränder nicht verselbständigen, korrumpieren lassen und so größeren Schaden anrichten als Nutzen zu erzeugen.

Wer weiß, wer gemeint ist und wo diese Gemeinschaft von Menschen so erfolgreich ihren Lebensraum zu kontrollieren und zu gestalten versuchen? (Denn dieses Konzept gibt es wirklich, ist keine reine Kopfgeburt!)

Und könnten aus solchen oder ähnlichen Modellen nicht europaweit zahllose Netze von erfolgreichen Gemeinden entstehen, die übers Netz ihre Themen, Fragen, Erfolge und Probleme miteinander bereden? Und könnten sie nicht gerade aus den jeweiligen Besonderheiten – den geographischen, historischen und kulturellen – interessante Varianten entstehen lassen, die viel mehr Kreativität freisetzen würden als jede Vereinheitlichung mit ihren planierenden Nivellierungskonzepten?