10 Nov.

Europa – Eine gewaltige Botschaft (Meditation # 19)

Europa, Mythos

Erschrockener Blick zurück in die eigene Vergangenheit

Hatte da nicht eine Frau um Hilfe gerufen? Der Meereswind verwischte die Spuren mühelos und gern.

Durch eine List war sie entführt worden, gewaltsam. Der Täter fand es großartig. Europa, so hieß die Frau, die weitblickende wurde sie genannt. Doch diesmal hatte es ihr nichts genützt. Also hatte damals alles schon mit einer Untat begonnen, mit Tarnen, Täuschen und Betrügen? Es scheint so.

Ganze Völkerschaften wanderten in langen Trecks vom Norden in den Süden, verdrängten die dort wohnenden kurzerhand. Nichts ist uns von denen, die da überrannt wurden, überliefert. Alles, was wir zu wissen meinen, haben uns die Sieger erzählt und überliefert. Die Besiegten waren gewaltsam zum Schweigen gebracht worden. Geblieben davon ist uns nur das trojanische Pferd.

Angesichts der Erdgeschichte erweist sich die Geschichte der Menschen als kaum wahrnehmbarer Augenblick.

Dann kamen Eroberer von Westen her und machten aus den Ländern, in denen man sich Europas Geschichte erzählte, steuerzahlende Provinzen. Bis neue Völkerschaften anbrandeten, sich über gepflasterte Straßen von Osten nach Westen ergossen und der lateinischen Kultur im Westen den Garaus machten – später auch im Osten.

Sprachen gab es viele, die meisten hatten sich vermischt mit der Sprache Senecas und Lukrez‘ De rerum natura.

Aber der Gewalt blieb man auch weiterhin verhaftet – wenn auch nun mit scheinbar göttlichem Auftrag. Jerusalem nannte man damals: Mittelpunkt der Welt. Drei eifersüchtige Götter gruben sich arglistig gegenseitig das Wasser ab – die Wasserträger waren gutgläubige Menschen, Europäer eben und deren Nachbarn.

Allmählich lernten sie in Gegensätze zu denken, stellten der Unterwerfung die Befreiung entgegen, entwarfen ein neues Bild vom Menschen, dessen Würde nicht anzutasten war. Gestalteten dieses neue Denken in prächtigen Gemälden, beeindruckenden Plastiken, großen Erzählungen und herrlichen Klängen.

Doch die wütenden Götter schufen sich neue Gehilfen, fanden noch listenreichere Finten, um auch diesen Befreiungsversuch zu unterlaufen, als Teufelswerk zu verspotten. Kein Land in Europa vermochte sich diesem Würgegriff zu entziehen. So wurden wieder viele zu Flüchtlingen, flohen übers Meer in eine neue Welt, wo sie ein neues Jerusalem errichten wollten – jenseits von Gewalt und Bevormundung.

Das alternde Europa verlor das Interesse an göttlichen Sendungen und baute sich eine eigene, praktische Welt, die auf dem Marktplatz verhandelt und versteigert wurde: Wer mehr bot, erhielt den Zuschlag. Und bald wuchsen Waren und Goldbarren in schier göttliche Größen – der neue Gott war geboren: der homo oeconomicus europae.

Und unaufhaltsam – wie ein Krebsgeschwür – nahm er alles in Besitz, immer im Namen europäischer Weltbeglückungsangebote, die niemand ablehnen durfte.

Bis heute so.

Eine kurze, kleine Geschichte von Gewalt, Unterdrückung und Pseudobeglückung – immer im Namen jener weitblickenden Frau, die selber einst gewaltsam entführt und gefügig gemacht wurde.

Wäre es nicht an der Zeit, sich eine Geschichte auszumalen, in der dieser Europa kein Leid mehr angetan wird und in der alle die Völker, die sich ihr verpflichtet fühlen, endlich gegen Gewalt eine friedliche Welt verwandter Völker und guter Nachbarn gestalten könnten, die jedem Flüchtling bereitwillig Asyl gewährt?

03 Nov.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte (Mythos # 19)

Wie schnell alles gegangen war! Endlich war er von seinem Pferd gesprungen und hatte Halt gemacht, direkt vor einer langen Mauer mit vielen Toren – ich, mehr stolpernd als laufend und völlig außer Atem, wollte ihn gerade zur Rede stellen, da hatte mir dieser miese Mann blitzschnell einen Sack über den Kopf gestülpt, hatte ziemlich unsanft meinen Arm gepackt und mich ohne auch nur ein Wort zu sagen mit sich fort gezogen. Schließlich – nach den hallenden Tönen unterwegs waren wir wohl durch lange Gänge geeilt – hatte der grobe Klotz mich einfach stehen gelassen. Ich hörte, wie eine schwere Tür zugeschlagen, ein Riegel betätigt wurde, dann Stille. Hastig zog ich den Sack von meinem Kopf herunter – ich hatte kaum Luft bekommen und arg geschwitzt.

Dämmerlicht. Flirrende Staubkörner in einem feinen Sonnenstrahl. Ja, weit oben in der Decke ist eine Öffnung, da kommt das wenige, aber freundliche Licht her. Langsam gewöhnen sich meine Augen an den wenig hellen Raum. Es ist ein kleiner Saal. Völlig leer. Keine Stühle, kein Tisch, kein Mensch. Ich stehe etwa in der Mitte. Während meine Augen alles abtasten, stürzen wilde Gedanken, Ängste, Hoffnungen durch meinen Kopf: Was steht mir jetzt bevor? Wie schön, die fliegenden Delfine an den blauen Wänden! Die Kinder, was wird aus ihnen, werden sie bestraft werden? Und der Fremde in der Höhle, der göttliche Mann, was wird er von mir denken? Die Tiere scheinen sich wirklich zu bewegen, die Augen täuschen mich. Dann spüre ich Müdigkeit in meinen Beinen. Soll ich mich hinlegen, ausruhen? Nein, ich will aufrecht stehen, wenn man mich holt. Keine Schwäche zeigen. Auf keinen Fall. Meine Haare, mein Gewand! Ich muss richtig mitgenommen aussehen. Ist das von Vorteil oder eher von Nachteil? Ich will mein verwildertes Aussehen nutzen. Wie lange wird man mich warten lassen? Werde ich beobachtet? Gibt es in den Wänden vielleicht kleine, heimliche Öffnungen? Und schon fühle ich mich beobachtet. Oder ist es die Göttin, die auf mich schaut und mitleidig lächelt: „Prinzessin, warum so verzagt? Schon vergessen, wie kraftvoll deine Ausstrahlung ist?“ Gut, dass keiner meine Gedanken lesen kann, niemand meine Unsicherheit bemerkt. Stolz will ich den König anschauen. Fordernd. Er soll nicht glauben können, weil ich ein Flüchtling bin, habe er leichtes Spiel mit mir. Meine Göttin, nie lässt sie mich allein.

„Wunderbar. Ich danke dir.“

Da hört sie wieder, wie der Riegel betätigt wird. Sie reckt sich, atmet tief durch und schließt dabei mutig die Augen.

Folgt mir, der König will ausreiten, da hat er wenig Zeit für eine fremde Frau, einen Flüchtling. Außerdem ist die Audienzzeit für heute vorbei. So will er die Fremde nur kurz sehen. Danach wartet dann im Labyrinth der gierige Unhold auf dich.

Eine lange Rede, hätte ich gar nicht gedacht. Dabei schaut er mich so abfällig von oben herab an, dass ich fast schon lachen muss, so übertrieben macht er das, der Bote des Königs. Ich verziehe keine Miene. Das erstaunt ihn. Keine ängstliche Rückfrage, kein Protest?

Wir sollten ihn also nicht warten lassen oder?“,

antworte ich ihm so gleichmütig wie möglich.

Wenn wir dem König gegenüber stehen, wirf dich gleich auf den Boden! Es ist dir nicht erlaubt, ihn anzuschauen.

Darauf gebe ich ihm keine Antwort. Ich weiß, dass der König – mein Vater hat manchmal von ihm gesprochen – mein Leben beenden kann oder eben auch nicht. Ich muss die Gelegenheit nutzen. Ich werde einfach auf dem Weg zu ihm meine Göttin um Beistand bitten. Ich meine, ihre Nähe zu spüren. Ich bin also nicht allein.

Wieder lange Gänge, Treppenhäuser. Wo führen die hin? Wer wohnt hier denn alles? Überall müssen Zimmer, Säle sein. Aber niemand begegnet uns. Niemand. Ein einziges Labyrinth. Und wieder huscht ein Lächeln über mein Gesicht. Eitler Führer, du hast dich geirrt: Auf mich wartet nicht ein Unhold, auf mich wartet der König. Der erste Augenblick wird alles entscheiden, glaube ich die Göttin flüstern zu hören.

Vor uns weitet sich der Gang. Am Ende sehe ich zwei Männer stehen. Beide halten Doppeläxte in den Händen, starren ins Leere. Als wir näher kommen, machen sie einen Schritt zur Seite, klopfen dabei mit den langen Stielen der großen Äxte gleichzeitig einmal auf den Steinboden. Wie ein Welle breitet sich der dumpfe Ton durch den Gang aus. Als könnten sie zaubern, öffnet sich langsam die Flügeltür. Helles Licht, ein weiter Saal, und da steht er mittendrin, der König und schaut mich an.

21 Okt.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte (Mythos # 18)

Sie gehen vor ihr her. Die beiden fremden Kinder. Am breiten Fluss entlang, der gemächlich das weite flache Tal in zwei fast gleiche Teile teilt. Das dauert, denn die Ziegen, die sie vor sich her treiben, laufen immer wieder zum flachen Ufer, um zu trinken und sich vielleicht im Wasser heimlich zu betrachten: Die wippenden Bärtchen, die kleinen Hörner, die glotzenden Augen. Warum jetzt schon wieder nach Hause, denken sie vielleicht störrig. Das ist nicht unser normales Fressmuster…

Sacht ansteigende Hügel zu beiden Seiten, sie sehen aus, denkt Europa lächelnd, als wären es die fleischigen Schenkel eines noch schlafenden Riesen, dessen Körper am Horizont im Dunst des jungen Morgens zu verschwimmen scheint. Bilder der letzten Nacht huschen dabei durch ihren Kopf. Gieriges Verschmelzen der Körper, wohliges Stöhnen. Der Schein der nieder brennenden Fackel umschmeichelt die von glänzenden Schweißperlen übersäte Haut, lässt das pulsierende Blut darin mäandernd einen erhabenen Weg suchen…Was war das für ein sinnliches Fest!

Und während sie jetzt in eine ungewisse Zukunft wankt und dabei wollüstig in Erinnerungen schwelgt, ist der getäuschte Gott schon mit seinem Floß – im Segel kuschelt sich zufrieden ein leichter Ostwind – zu den Hesperiden unterwegs. Der kleine Abstecher zu seinem Bruder in die Unterwelt taugt eben wunderbar als unverfängliches Alibi. Jetzt, wo die Weite des Meeres ihm Schutz bietet vor unzeitiger Entlarvung, toben sich erneut die Wellen seiner Wut ungebremst aus; dass ihm dabei die Bilder der gemeinsamen Nacht immer wieder dazwischen fahren, weil sie so war wie noch keine vor ihr, macht ihn nur noch wütender.

Manchmal drehen sich die Kinder um, als wollten sie sich vergewissern, dass die fremde Frau auch wirklich hinter ihnen her trottet. Das gefällt Europa. Dabei denkt sie sich die Geschichte aus, die sie den Eltern der Kinder erzählen will. Jetzt dreht sie sich selbst um, denn ein Schreck war ihr plötzlich in die Glieder gefahren: Was, wenn der wunderbare Fremde sie verfolgt? Aber da ist niemand zu sehen. Erleichtert schließt sie zu den Kindern auf, die wieder mal ihre Ziegen antreiben müssen. Die wollen einfach nicht in diese Richtung um diese Zeit. Denn von da waren sie doch eben erst hergetrieben worden. Die Macht der Gewohnheit macht sie jetzt nur noch störrischer. Europa hört, wie die ältere Schwester gerade zum jüngeren Bruder sagt:

Lauf voraus, ich komme mit der Fremden und den Tieren hinterher! Sag Du den Eltern schon einmal Bescheid!“

Ungern lässt sich der Bruder von der Schwester etwas sagen – gerade vor der fremden Frau jetzt. Aber andererseits will er auch der erste sein, der den Eltern die Neuigkeit bringt. Also nickt er unwirsch und läuft los.

Kaum ist er weg, beginnen die Tiere loszutraben. Das Mädchen schüttelt lachend den Kopf. So kommen sie aber gut voran und stehen auch bald vor der Hütte, in der die Familie lebt. Erwartungsvoll stehen Vater und Mutter da, misstrauisch lassen sie die Blicke an Europa hinauf und hinunter gleiten. Europa bleibt stehen, während das Mädchen freudig zum Vater läuft, der ihr aber mit einer strengen Handbewegung zu verstehen gibt, dass er ganz und gar nicht erfreut ist, dass seine Kinder mit der Herde zurückgekommen sind und auch noch eine Wildfremde mitbringen. Enttäuscht verschwindet die junge Tochter in der Hütte, wirft dabei noch einen kurzen ratlosen Blick zurück auf den wohl gar nicht willkommenen Gast.

Du bist nicht von der Insel oder?“

Eine ziemlich unfreundliche Eröffnung, findet Europa. Aber sie versteht es. So antwortet sie auch nur mit einem kurzen Kopfschütteln. Der Frager schweigt. Die Frau neben ihm blickt beschämt zu Boden. Sie würde wohl weniger unfreundlich sein, wenn sie dürfte. Dann entschließt sich Europa einfach ihre kleine Geschichte zu erzählen:

Unser Schiff – wir sind Handelsleute aus dem Land der blauen Zedern – ist auf ein Riff gelaufen. Es ging alles ganz schnell. Zufällig bekam ich ein leeres Fass zu fassen, das rettete mir das Leben und eine günstige Strömung spülte mich hier an Land.“

Und deine Leute?“

So, wie er die Frage stellt, wird ihr klar, dass er ihr kein Wort glaubt von dem, was sie gerade erzählt hat. Ich muss mir etwas anderes ausdenken. Aber was? Während sie hektisch nachzudenken versucht, hören sie Pferdegetrappel, das schnell näher kommt. Da ist der Reiter aber auch schon da. Neugierig kommen auch die beiden Kinder aus der Hütte gestürmt. Vater und Mutter nehmen sie schützend in ihre Mitte. Es geht alles ganz schnell. Während der Reiter von seinem Pferd springt, dabei seinen wehenden Umhang festhält und ein kurzes Schwert, geht die Familie in die Knie, verneigt sich tief. Europa sprachlos und verunsichert. Was wird der Mann wollen, was wird er mit ihr anstellen?

Weshalb sind die Kinder und die Herde noch hier? Es ist bereits Vormittag. Kennt ihr eure Pflichten nicht? Und wer ist diese Frau?“

Auf dieser Insel scheinen die Menschen meist drei Fragen auf einmal zu stellen, spricht sich Europa lautlos ein wenig Mut zu. Aber sie wird schweigen müssen. Auch verrät der Tonfall und die Mimik des Fragers nichts Gutes.

Die Kinder haben sie heute früh gefunden, als sie die Tiere zur Weide führten. Die Fremde wollte zu uns gebracht werden. Deshalb sind sie wieder hier und auch die Tiere.“

Das unzufriedene Gesicht des Reiters verzieht sich nur noch mehr.

Mh!“

brummt er vor sich hin. Dann dreht er sich von den armen Leute weg, geht breitbeinig in Positur und fixiert verächtlich die Fremde:

Sprichst du unsere Sprache? Hast du einen Namen? Weißt du, wer ich bin?“

Fast hätte sie gelacht: Wieder drei Fragen, aber sie reißt sich zusammen, denn der Tonfall des Fragers droht ohne jede Rücksichtnahme nur Schlimmes.

Europa verneigt sich leicht und spricht dann so:

Eure Sprache ist mir nicht ganz fremd. Ich kann euch verstehen.“

Dann macht sie eine kleine Pause und fährt dann fort:

Ich heiße Europa.“

Der Frager verzieht keine Miene, wartet einfach auf die dritte Antwort.

Ich kenne euch nicht, denn ich komme von weither – als Schiffbrüchige.“

Da zieht er die Augenbrauen hoch, holt tief Luft, reißt die Augen weit auf und schnarrt dann in krächzendem Befehlston:

„Du bist jetzt Gefangene meines Gebieters, König Archaikos, des herrschenden Minos von Kreta, ich bringe dich sofort vor seinen Thron.“

Und bevor Europa überhaupt Zeit hat, etwas zu erwidern oder sich zu wehren, hat er ihr einen Strick um den Hals geworfen – den hatte er wohl unter seinem langen Umhang gehabt – zieht sie unsanft zurück zu seinem Pferd, schwingt sich in den Sattel und reitet los. Europa fällt fast hin, so schnell geht das alles. Den Kindern entfährt ein Entsetzensschrei, die eingeschüchterten Eltern zerren sie zurück ins Haus, das ganze Geschehen ist fast in einem Augenblick vorüber. Nur nicht stolpern, nur nicht hinfallen, denkt Europa voller Panik. Hätte sie vielleicht doch besser bei dem wunderbaren Fremden in der Höhle bleiben sollen? Nein. Vielleicht kann sie ja König Minos mit einer besseren Geschichte für sich gewinnen. Aber wie müsste die gehen?