12 März

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 77

Nach dem misslungenen Attentat bleibt nur die Flucht

Wir müssen abhauen. Sardonios wird uns abmurksen lassen.“

Nemetos‘ Stimme zittert leicht. Thortys ist sprachlos. Der große Tempel der großen Göttin scheint sie zu erdrücken. Beklemmungen überfallen sie, die Augen wandern unruhig hin und her. Die Tänzerinnen sind alle weg, auch Sarsa und Belursa waren kopfschüttelnd und lachend davon gerannt. Sie haben ja keine Ahnung, warum Nemetos und Thortys hier her gekommen waren. Aber Europa lebt. Und die beiden unfähigen Attentäter sind eigentlich schon tot. So jedenfalls fühlen sie sich. Abhauen. Ja, abhauen, das ist die einzige Möglichkeit, die ihnen bleibt. Jetzt. Sofort. Ohne Abschied. Ohne alles. Einfach weg. Aber wohin?

Am Ende der Insel, im Westen, hat ein Onkel von mir eine Schafherde. Dort könnten wir uns erst einmal verstecken. Dann mit einem Boot weiter nach Westen. Was meinst du?“

Nemetos schaut seinen Freund fragend an. Thortys fällt aus allen Wolken.

Was? Bist du verrückt? Das schaffen wir bestimmt nicht.“

Gut, dann geh ich allein. Ich hatte neulich in einem Traum so ein Bild von einer wilden Gegend, die ich nicht kenne. Das war bestimmt ein Hinweis der Götter an mich.“

Nemetos wendet sich zum Gehen. Thortys schaut hinterher. Die Angst kriecht in ihm hoch wie eiskalter Wind. Ratlos steht er da. Er stellt sich Sardonios, den Herrn der Listen und Namen, vor, wie der ihn fertig macht, tritt, schlägt, niedersticht.

So warte doch, he, Mann, warte doch!“ ruft er laut, als er nun doch hinter Nemetos herläuft.

Währenddessen wartet Sardonios im Palast der vielen Räume auf Nachricht, dass Europa getötet wurde und zwei verdächtige festgenommen worden seien. Aber da kommen keine Nachrichten. Im Gegenteil. Es klopft an seiner Tür. „Ja!“ ruft er unwirsch und staunt, dass es einer der Diener von Archaikos ist, der eintritt.

Der Minos von Kreta wünscht Dich umgehend zu sprechen. Er will das angekündigte Tanzfest zur Sonnenwende mit dir planen.“

Und schon ist der Diener wieder weg. Sardonios kocht vor Wut. Jetzt soll er auch noch ein Fest mit vorbereiten, dass diese Fremde, diese Europa, dem Minos aufgeschwätzt hat. Das wird auch die Macht der Oberpriesterin stärken. Da ist er sich ganz sicher. Er spürt den eigenen Machtverlust fast schon körperlich. Herzrasen, Zittern, Atemnot. Die Delfine an den Wänden scheinen dagegen vor Freude zu tanzen. Am liebsten würde er sie alle übermalen lassen, diese dummen Delfine. Wenn die beiden Europa nicht getötet haben, wie ich es ihnen befohlen habe, dann muss ich sie gleich verschwinden lassen. Die Gedanken überschlagen sich geradezu in seinem Kopf. Ein Unfall. Ja, Nemetos und Thortys werden bei einem Unfall ums Leben kommen. Dieser Einfall bringt ihm die Lebensgeister wieder zurück. Archaikos darf von alledem nichts erfahren.

22 Jan.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 76

Die Attentäter verpassen ihr Attentat

Thortys und Nemetos – immer noch völlig erregt von dem verführerischen Bild, das sich vor ihren Augen gerade abspielt – werden brutal aus ihrer Gier hinaus gezerrt, als die zuschauenden Frauen, aber auch die atemlosen jungen Priesterinnen nun laut klatschen und zu jubeln beginnen. Chandaraissa und Europa freuen sich gerne mit. Ihr angekündigter Festbeitrag kommt gut voran, denken die beiden. Archaikos wird Augen machen. Das wird ein Fest!

Die Nachmittagssonne hüllt das Schauspiel, das da gerade im großen Tempel der großen Göttin zu Ende geht, in warmes, weiches Licht. Die beiden Männer stehen da mit offenem Mund und erregten Gliedern. Fassungslos. Da fällt ihnen wieder ihr Auftrag ein. Sie sehen gerade noch, wie diese Europa, diese gefährliche Fremde, mit der Hohenpriesterin im Tempelinneren verschwindet. Die sollte jetzt in ihrem Blut liegen.

Mist!“ zischt Nemetos wütend. Thortys nickt missmutig.

Warum haben wir es nicht getan?“ flüstert er und sucht mit der freien Hand den Dolch unterm Gewande. Die andere Hand stützt ihn an der dicken Säule ab. Gleichzeitig gehen den beiden üble Gedanken durch den Kopf: Sardonios, ihr Herr und Auftraggeber, wird toben. Nein, er wird nicht nur toben, er wird strafen. Und wie! Als sich die beiden nun erschrocken anschauen, sehen sie die Angst in den Augen des anderen überdeutlich. Sie wissen, dass es keine Ausreden geben kann. Sie sind erledigt.

Da kommen Sarsa und Belursa – noch ganz außer Atem und in ihren bunten, wehenden Tüchern – auf sie zugelaufen. Sie wundern sich. Warum sind ihre Männer überhaupt hier? Woher wussten sie von dieser Tanzprobe?

Hat es euch gefallen?“ fragt Belursa schnippisch und immer noch schnaufend – so sehr hat der Tanz sie angestrengt.

Klar, klar – wir, äh, also, das sah richtig gut aus, stimmt´s?“

Ja, seh ich auch so, genau“, plappert Thortys hinterher und muss dabei die ganze Zeit auf ihre Brüste schauen, die sich unter den durchsichtigen Stoffen heben und senken. Die beiden Frauen können ein Lachen kaum unterdrücken.

Was macht ihr denn eigentlich hier, ihr beiden? Habt ihr nicht Dienst im Palast?“

Nemetos fühlt sich völlig überfordert mit dieser Frage. Er hatte ja gar keine Zeit, sich eine kluge Ausrede auszudenken. Hilfesuchend blinzelt er zu seinem Kumpel rüber. Der guckt aber auch nicht besser aus seinem schmutzigen Hemd. Sarsa und Belursa warten ungeduldig auf Antwort, aber da kommt keine.

Habt ihr die Sprache verloren?“ bohrt Sarsa nach.

Nein, nein, wieso denn? Wir…wir hatten gerade eine Freistunde, da dachten wir, wir schauen einfach mal, was unsere Frauen so machen…“

Nemetos ist mächtig stolz, dass ihm solch ein kluger Satz kam.

08 Dez.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 71

Alles hängt mit allem zusammen, murmeln gelassen die Winde.

Chandaraissa hat sich so verändert, findest du nicht auch?“ fragt Thymbolé in die wohltuende Mittagsstille hinein.  Entspannt liegen die vier jungen Priesterinnen in ihrer Mittagspause in ihrem Zimmer auf kühlenden Kissen und erholen sich von anstrengenden Tanzstunden heute vormittag. Europa und Chandaraissa hatten mit ihnen geübt und geübt und geübt.

Ja, das ist mir auch aufgefallen. Komisch, nicht?“ sinniert Lubsósa vor sich hin.

Wieso komisch? Das ist doch ganz einfach, wieso“, wirft kopfschüttelnd Ralitáwa dazwischen.

Jesibána kann nur staunen. Ihre Freundinnen können wie aus dem nichts ein kleines Streitgespräch vom Zaun brechen und sich hinterher wundern, wie das nur wieder passieren konnte.

Ach ja?“ antworte Thymbolé mit leicht erhobener Stimme. Sie will Lobsósa, ihre beste Freundin, in Schutz nehmen. Immer muss sie Streit suchen, Ralitáwa.

Und schon kommt ihre Antwort:

Was hat sich denn verändert? Mh? Unsere Hohepriesterin hat sich verliebt. Das ist doch sonnenklar – oder?“

Alle halten den Atem an. Wenn das jetzt Chandaraissa hören würde!

Und in wen?“ fragt Lubsósa in die Stille hinein.

In wen? In wen? In Europa, in wen denn sonst!“

Jetzt ist es noch stiller als vorher. Dann geht ein leises Gekicher los, das immer lauter wird, bis sie alle loslachen.

Im selben Moment geht die Türe auch, Sarsa ist es. Der Schreck, der den vieren in die Glieder gefahren war, wandelt sich gleich wieder in Gekicher um.

Was ist denn hier los?“ fragt Sarsa mit großen Augen und strahlendem Lächeln. „Hat jemand eine neue Geschichte über Sardonios erzählt?“

Jetzt müssen sie alle noch mehr lachen. Dabei reden sie laut durcheinander, klatschen sich in die Hände, fahren sich durchs offene Haar und ziehen Sarsa zu sich auf die Kissen hinunter. Eine wahre Kicher-Orgie ist im Gange.

Da stieben vor Schreck sogar die vorwitzigen Elstern oben am Dachrand des großen Tempels auseinander und davon.

Chandaraissa hört es auch, das Lachen der jungen Frauen. Es freut sie. Obwohl sie nicht weiß, dass eigentlich sie selbst der Anlass ist für dieses Lachgewitter. Und Europa, die gerade über ihre Träume der letzten Tage nachdenkt, lässt sich auch gerne aus ihren sorgenvollen Überlegungen herausreißen.

Wie hat sich doch ihr Leben geändert, seit sie dem Fremden in der Höhle davongelaufen ist!

Es muss wohl alles mit allem zusammenhängen, denkt sie jetzt zufrieden. Die Freude mit dem Leid, Werden und Vergehen und Neuanfang auch mit Erinnern, Vergessen und Tagträumen. Jederzeit bin ich aufgehoben im Schutz der Göttin, die mich stets begleitet – mit ihrem Lächeln, ihrer Wärme, ihrer Zuversicht und ihrer Liebe.