01 Dez

Europa – Meditation # 167

Ein analoger Moment der Besinnung?

Die Aufreger der letzten Wochen hier in Europa – aber auch global – führen zu einer zunehmenden Erschöpfungshaltung allenthalben:

– weiter ertrinken Flüchtlinge im Mittelmeer

– weiter sterben Flüchtlinge in abgeriegelten LKWs

– weiter werden Millionen von Menschen in Gefängnissen interniert, um sie einer nachhaltigen „Umerziehung“ auszusetzen. Die Täter: wichtige Wirtschaftspartmer der nach wie vor so exportorientierten BRD – also still halten?

– weiter brennen unzählige große und alte Bäume in Brasiliens Urwald und auf den Philippinen

– weiter werden Frauen gedemütigt, vergewaltigt und erschlagen – überall

– weiter kommen junge Demonstranten im Irak und im Iran zu Tode

– weiter führen Erdrutsche, Überschwemmungen und Erdbeben zu immensen Zerstörungen und Todesfällen

– weiter strahlt der immer größer werdende Berg Atommüll auf diesem Globus noch für sehr, sehr lange

–   weiter kaufen und kaufen wir, als hätten wir noch immer nicht genug Überfluss

im nach wie vor so arg begünstigten geographischen Raum Europa rieseln die schlechten Nachrichten nur so auf den rastlosen Konsumenten herab, da sind Kindesmissbrauch in den Kirchen und Familien nur noch Randnotizen. Es wird einfach zu viel. Können wir nicht mal eine Pause machen?

Das ist ja wie hysterisches Einatmen von schlechter Luft, noch und noch!

Können wir jetzt nicht mal wieder ausatmen?

Können wir. Sollten wir. Müssen wir.

Vielleicht als Tagtraum zurück in den wohltuenden Gedanken, dass wir alle Teil der Natur sind, alle mit allen vernetzt, verwandt, verbunden. Also Lebewesen, die als Teil der Natur diese unverzichtbar nötig haben, um zu überleben, um Leben zu erleben, um Leben leben zu lassen.

Denn die eigentliche Heimat – das Gefühl sich in einem vertrauten und nicht feindlichen Umfeld zu bewegen – ist das intensive Erleben des eigenen Lebens in dieser natürlichen Umgebung, die uns atmen, gehen, schlafen, essen, wohnen, sprechen, lieben und tätig sein lässt.

Und wenn wir Weltbürger dann aus diesem wohltuenden Tagtraum wieder ins Banale zurückrudern, vielleicht verlangsamen wir ja dann unsere Gangart weltweit ein bisschen und schaffen so die Wende zu uns selbst zurück.

20 Okt

Europa – Meditation # 163

Handke im wilden Kurdistan

Was wären die Medien ohne ihre medialen Feindbilder?

Was wären die hungrigen Leser ohne ihre vertrauten Paladine?

Was wären die Kenner ohne ihre muffige Arroganz und Häme?

Was das mit Kurdistan zu tun hat?

Ganz einfach: Spätestens seit dem sogenannten ersten Weltkrieg, der 1914 in Europa begonnen haben soll, sind die Kurden zum Spielball nationaler und internationaler Mächte geworden. Und warum? Weil sie ähnlich wie die Semiten und die Slawen auf einer eigenen Geschichte, Kultur, Sprache und Tradition beharren, auf eigener Identität also, die ihnen ihr langer Atem sicherte. Das schafft Neid, das schafft Angst, das schafft Feindbilder, noch und noch.

Vom Selbstbestimmungsrecht der Völker zu sprechen, entscheiden wie immer natürlich die Sieger. Die Besiegten sollen bitte schön bei ihren Leisten bleiben.

Das letzte Theaterstück der Pharisäer aus dem Lande der Neuen Welt ist nun staunend zu besichtigen: Es geht wie immer um viel – um Wasser und andere Bodenschätze, um Ansprüche, die selbstverständlich aus alten Rechten herrühren müssen und um Härte, die man denen gegenüber walten lassen muss, die das in Frage stellen wollen. Verbündete können da schnell mal fallen gelassen werden.

Selbstverständlich sind die vielen Opfer, die die Kurden in dieser unseligen Geschichte schon so lange bringen mussten, längst vergessen.

Da kommt es wie gerufen, dass einer den Literaturnobelpreis bekommt, der nicht nur Bücher geschrieben hat, die sehr kontrovers von den Medien kommentiert wurden, sondern der auch Landschaften und Völker besuchte, die aus den Nachwehen des Kalten Krieges unsanft herauspurzelten und dabei ebenfalls viele Opfer zu beklagen hatten. Denen Arges angetan wurde und die nicht zögerten, mit gleicher Münze zurückzuzahlen. So lenken uns die Serben dankenswerterweise einen Augenblick von den Kurden ab.

Selbstverständlich hat der Konsument des medialen Strafgerichts, das sich nun über diesen geehrten Schreiber ergießt, keine Erinnerung mehr daran, was damals die NATO vor Ort kriegerisch sich leistete – von Kigali wollen wir in diesem Zusammenhang gar nicht erst wieder anfangen – wir Europäer waschen unsere Hände gerne in sauberer Nachkriegsunschuld, und da ist es doch naheliegend, einen solchen Literaten eher als Nestbeschmutzer zu kommentieren, denn als Sätzeschmieder, der auf seinem Wörteramboss so manches heiße Eisen platt schlägt, das viele doch lieber schön zieseliert hätten.

Denn im Grunde geht es doch darum, Handke auf einem Nebenschauplatz zu erlegen, um seine Zivilisationskritik nicht schon wieder thematisieren zu müssen. Wie praktisch auch! Schicken wir den Handke doch einfach ins wilde Kurdistan, da fällt ihm bestimmt wieder ein Text ein, über den wir dann genüsslich herfallen können – unsere Hände in Unschuld waschend.

11 Okt

Europa – Meditation # 162

Im blinden Spiegel der Zeit

Einstürzende Gewissheiten – europaweit, weltweit.

Wo sollen wir Halt finden, wenn das Anhäufen von Sachen keinen gibt?

Wo sollen wir hingehen, wenn einer nach dem anderen dicht macht?

Verlust, nicht Gewinn ist das bleibende Gefühl beim Konsumenten.

Verlust von Nähe, Verlust von Freunden, Verlust von Gewissheiten, Verlust von Perspektiven – besonders für Jugendliche.

Verlust von Sinn.

Wo können wir uns zuhause fühlen, wenn mehr und mehr Nachbarn lieber in der Wolke zum Stelldichein abdriften, als mit mir Skat zu spielen?

Warum ist (oder tut) man so überrascht?

Fast alle europäischen Hauptstädte können sich mit solchen Katastrophen wie in Halle problemlos messen, ja, sie bieten so gar mehr, viel mehr.

Und in der Wolke werden die Charts fleißig überarbeitet und neu justiert:

Wo waren es mehr, wo war wer schneller, besser, erfolgreicher?

So viele Klicks, so viele Freunde – endlich.

Hier werde ich sogar zum Helden, hier steige ich auf der Leiter der Anerkennung weiter und weiter nach oben. Und wenn es nicht so klappt, wie geplant, dann helfen die Netz-Mitdenker mir über die Krise: Du brauchst eben einen langen Atem.Hier bei uns kannst du spielen und gleichzeitig das Böse vernichten lernen.

Die da unten sind doch einfach zu blöd zu kapieren, wie der Hase läuft!

Und es gibt Applaus, Unterstützung, praktische Anleitungen, noch und noch.

Da ist wenigstens etwas los, da kann ich Tag und Nacht hin, da ist immer jemand für mich da. Cool oder?

Längst ist die Trennlinie zwischen analog und digitaler Wirklichkeit obsolet.

Das Digitale begeistert doch viel mehr, Tag und Nacht, weltweit, wow!

Nur in der analogen Welt der Behörden sind die Sachbearbeiter sowas von hinten dran – die notwendigen Fortbildungen müssten stündlich Tausende und Abertausende erfassen, damit sie nicht nur die Geräte besser und schneller handhaben können, sondern damit sie auch den Vorsprung der Jugendlichen verringern lernen.

Deshalb auch die Ratlosigkeit der Politiker und Beamten: Sie stecken noch viel zu sehr im alten Leben, das längst ausgehebelt ist von der internet-community, die sich eins ins Fäustchen lachen kann, weil die einfach noch nicht den Schuss gehört haben.

In den Interviews, den Statements wabert es ja nur so von Betroffenheit und wilder Entschlossenheit, endlich den Feind der Demokratie erkannt zu haben – aber es bleiben Lippenbekenntnisse, so lange nicht wirklich die fähigen Nerds und Könner flächendeckend eingebunden werden in das tägliche Recherchieren und Beobachten. Nur von denen können sie etwas lernen, nicht von Parteipolitikern, Industriellen, Wissenschaftlern.