09 Dez

Europa – Meditation # 168

Auf der Suche nach der eigentlichen Heimat – europaweit

Musik – sie versteht jeder Europäer, in welcher Sprache auch immer er unterwegs ist. Schon die Sprachmelodie schafft ihm einen vertrauten Raum, den er gerne betritt – z. B.: Wenn auf irgendeinem kleinen Platz einer kleinen Stadt (auch in großen Städten gibt es lauter kleine Plätze, wo man sich dieser Tage gerne trifft, quatscht, Glühwein trinkt, Witze erzählt, lästert, schwärmt oder einfach faselt) an einem provisorischen Stand ein paar Leute entspannt herum stehen, lachen, mampfen, trinken und manchmal sogar anfangen zu singen. Zwar nicht unbedingt notengerecht, aber doch geeignet zum Mitsingen.

Die in Jahrzehnten einkonditionierte Einzelkämpfer-Haltung, dieser kalte Individualismus, der ununterbrochen zelebriert sein will, dieser Hang sich gegen den anderen zu profilieren, möglichst in einer affigen Hochsprachen-Tonlage, mit ausgefallenen Klamotten, teurem Kram und steiler Frisur und dabei diese verhunzten anglifizierten Sprachfragmente lässig auszuspucken, all das taugt eben nicht für ein wohliges Lebensgefühl. Lauter schräge, schrille Töne bloß. Es trennt, es ist eher wie ein Aufenthalt in einer Kühltruhe, wo jedes Eisstückchen stumm vor sich hin friert.

Da hat Europa schon durchaus bessere Tage gesehen, als man noch in Gesangsvereinen, Sportvereinen, Wandervereinen auf Gleichgesinnte getroffen war, die im gleichen Singsang Sprache zwischen den Zähnen hin und her rutschen ließen, lachten, und alle eben wussten, man kennt sich, spricht im gleichen Ton und wärmt sich an den eigenen Münchhausen-Geschichten, die man gerne zum besten gibt. Klingt doch gut oder?

Warum sind denn diese Abende auf den Weihnachtsmärkten so überlaufen?

Warum steht man denn so dicht gedrängt um die paar Stehtische herum?

Die gut gelaunte Schar will doch nicht Zeug kaufen. Nein, sie wollen so etwas wie in vertraute Wellen eintauchen, baden, sich einfach treiben lassen, weil es eben so gut tut, nicht alleine auf irgendeinem Laufsteg gute Figur machen zu müssen.

Überall in Europa – und hier soll auch nur von Europa die Rede sein – gibt es jetzt solche Erlebnisse für die meisten, fast jeden Abend. Wie Musik. Die geht ja auch einfach so durch und durch. Das tut gut. Der eigene Akku wird steuerfrei geladen. Ein wohltuendes Bad im vertrauten Klön. Das Digitale sieht da dann ziemlich wie ein Looser aus. Wird nicht gebraucht – höchstens noch, um den Freund oder die Freundin anzurufen:

Hey, komm vorbei – hier ist richtig gute Stimmung, echt.

Nation, Staat, EU sind demgegenüber plötzlich nur noch wichtigtuerische Wasserträger. Mehr nicht.

Und europaweit lauter kleine gut gelaunte Gesellschaften, die die abendliche Wärme und Nähe am Stand genießen und der Einsamkeit einen pfundigen und findigen Haken schlagen.

30 Dez

Europa – Meditation # 77

Ein Pamphlet der miesen Art oder:

Erinnern, Denken – ein unablässiger Fluss von scheinbar immer gleichen Bildern

Europa – jedem fällt dazu etwas ein. Klar doch. Aber wie auch das Zählen von Jahren ein ziemlich willkürliches Unterfangen ist – in welcher Tradition auch immer – so ist auch das Erzählen einer „großen“ Geschichte nichts anderes als das wiederholte Aneinanderreihen vieler kleiner Geschichten. Wie Perlen an einer Kette, deren anfänglicher Träger längst in Vergessenheit geraten scheint. Gut so. ?

Asien – jedem fällt etwas dazu ein. Bestimmt. Das Reich der Mitte, das Tadsch Mahal, die Samurai. Die Opiumkriege. Die was? Schon gut. Auch nur eine weitere oft erzählte Geschichte, die wir Europäer längst vergessen haben.

Die Amerikas – ach die, ja die sind doch so etwas wie der Appendix (der Blinddarm) von uns Europäern. Alles, was uns lieb und teuer war, haben wir dabei mit über den großen Teich genommen, um drüben alles viel besser, freier, glücklicher zu gestalten. Stimmt’s? Und ist ja sowas von gelungen, echt!

Afrika – na ja, dazu fällt uns Europäern doch sowieso nichts besonderes mehr ein. Immer nur die gleiche Geschichte: Armut, Krankheit, Tyrannen, Woodoo-Kram. Dazu müssen wir Europäer nun wirklich nichts mehr sagen. Die sollen sehen, wie sie klar kommen. Oder?

Australien – also das muss jetzt aber wirklich nicht auch noch sein. Wirklich. Waren da nicht die Sträflinge der Engländer untergebracht worden? Wir Europäer hatten eben immer unser Päkchen dabei, das uns entlarvte als das, was wir schon immer waren: Selbstgefällig, unerbittlich und voller christlichem Sendungsbewusstsein. Also auch wieder nur ein misslicher Ableger von uns Europäern?

Wir Europäer erinnern uns gerne an all die Großtaten, die wir der Welt vermachten. Sie sollen hier nicht wieder alle aufgezählt werden. Leicht könnten wir damit ein abendfüllendes Programm gestalten – langweilig inzwischen. Zumal es zu einer allzu einseitigen und arg fehlerhaften Erzählung verkommen ist. Genug davon. Genug.

Längst haben die Staffel andere übernommen. Nicht mitbekommen? Dumm gelaufen. Da werden sich nun nicht nur der Blickwinkel, die Zählung der Jahre und die Wertschätzung der Europäer drastisch ändern, sondern auch die Rolle, die wir Europäer dabei spielen werden. Wovon redet der denn da? HÄ?

Der Mythos von Europa – eine Erzählung von der gewaltsamen Entführung und Vergewaltigung einer phönizischen Prinzessin nach Kreta mit Hilfe einer plumpen List eines geilen Gottes – könnte von Anfang an falsch erzählt worden sein. Aber mit voller Absicht und mit vollem „Erfolg“.

Eine neue Erzählung der alten Geschichte könnte nun beginnen, nachdem sich die alte als überholt, verbraucht, verlogen und überfällig erwiesen hat. Die neue müsste dann endlich gekennzeichnet sein von Bescheidenheit, von Überschaubarkeit und von Glaubwürdigkeit und Respekt vor dem Erdball, der uns unser mieses „Spiel“ überhaupt ermöglicht hat.  Wir winzigen Erdlinge, die wir sind.