Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 106
Zeus begegnet Europa am Nil.
Phoinix, der Bruder Europas, der nach Theben am Nil gereist war, sitzt am Ufer des Flusses und blinzelt auf den träge dahin fließenden Strom. Ein großes Sonnensegel schützt ihn vor dem grellen Licht, das alles in ein blendendes Flimmerbild verflüssigt. Wer von uns dreien wird bei der Suche nach der Schwester, der wilden, erfolgreich sein, fragt er sich müde. Wie schnell doch die Segelboote lautlos über das Wasser huschen! Oder bilde ich mir das nur ein? Phoinix dämmert nach und nach weg aus dem, was ihm Augen, Ohren und Nase gerade anbieten.
„Ein Bild der Friedens und der Lebensfreude, stimmt‘s?“
Phoinix hört die säuselnde Stimme neben sich, nickt und denkt, das träume ich jetzt sicher. Und so dreht er sich leicht zur Seite, um den Fremden zu taxieren: Bauer, Hirte, Priester, Nomade? Was er sieht, erschwert ihm eine klare Antwort. Aber er ist auch zu müde. Dann hört er sich selbst sprechen:
„Europa, meine wilde Schwester, zieht den Schatten im Tempel vor. Sonst aber ist sie auch voller Lebensfreude.“
Zeus erschrickt. Was? Europa hier im Tempel? Wie kann das sein?
„So, so, im Tempel.“ Zeus versucht so unbeteiligt wie möglich zu klingen. „Du hast sie also gefunden?“
„Gefunden? Ich habe sie gar nicht gesucht. Wir sind zusammen unterwegs. Wir wollen gemeinsam die Tempelstadt anschauen. Unser Vater, König Agenor, hat immer so davon geschwärmt.“
Phoinix wundert sich, was er für Sätze aus sich heraus tönen lässt. Wo die wohl herkommen? Egal. Scheinen allemal zu passen, denkt er kichernd. Aber Zeus ist beeindruckt.
„Sehr klug von ihr, in den Tempel zu gehen. Hier draußen ist es auch wirklich viel zu heiß – oder?“
Hoffentlich merkt Phoinix nicht, wie aufgeregt ich bin, denkt Zeus nervös.
„Och, hier unter dem Sonnensegel geht‘s ganz gut, find‘ ich. Wenn du willst, kannst du ja auch in den Tempel dahinten gehen und ihr sagen, dass wir weiter wollen.“
Zeus findet, dass sei ein richtig guter Vorschlag. Er erhebt sich schnell, winkt noch mit der Hand und läuft durch die Flimmerwelt Richtung Tempel.
Phoinix, der jetzt endlich die Augen öffnet, dreht sich um, um dem Fremden nachzusehen. Wer das wohl war?
Vorsichtshalber rappelt er sich stöhnend hoch, packt sein Reisebündel und macht sich aus dem Staube. Man kann ja nie wissen, wie so jemand reagiert, wenn er sich betrogen sieht.
Phoinix lacht leise vor sich hin. Oder war es doch nur ein Traum?
Am Wasser will gerade ein schneller Segler ablegen. Ohne nachzudenken springt er noch schnell an Bord. Ob Europa doch eher in Delos oder in Piräus gelandet ist?