10 Feb.

Europa – Mythos # 48

Die Mutter Europas kehrt aus der Unterwelt zurück

Nebelschwaden zerstäuben lautlos in früh wehenden Lüften. Schroffe Felswände glänzen matt von kaltem Morgentau. Es liegt ein müdes Raunen in der Luft wie Klagelaute von tief herauf. Aus Klüften melden sich fahle Schatten so zu Wort:

„Telephassa, Telephassa, komm, lass das Weinen, weg mit dem Zorn! Wir führen dich zu lichteren Gegenden. Dorthin, wo deine Tochter Europa hingelangte, als sie vor der Gewalt ihres Vaters floh. Erinner‘ dich an deine alte Kraft und Würde – du hattest einen lichten Auftrag von uns allen und du hattest so gut begonnen. Schau doch, wie deine Tochter rätselt, was sie denken, was sie tun soll!“

Wie in einer kleinen Einsiedelei wacht sie nun auf. Die Wunden sind wunderbar geheilt. Der Mörderbande Tat zum Glück umsonst gewesen. Die wohlbekannte Königin war ja längst mit ihren drei Söhnen Kadmos, Phoinix und Kilix heimlich geflohen und so den Häschern entgangen. Zusammen wollten sie die entführte Tochter und Schwester Europa finden und befreien. Telephassa erinnert sich jetzt daran und lauscht dem wispernden Flüstern, das an ihr luftig vorbei huscht. Langsam gewöhnen sich die immer noch müden Augen ans junge Morgenlicht. Es tut gut erwacht zu sein, wenn auch die Albträume schwer an ihr zerrten.

Agenor, ihr blindwütiger Gatte, tobt da wie ein Tier. Fleht Poseidon, seinen Vater, um Hilfe an. Vergeblich. Denn der feiert gerade mit seinen Brüdern Zeus und Hades den Beginn der neuen Männermacht. Wie sie zumindest hoffen. Zuviel haben sie getrunken, zu laut gegrölt, zu schwer gegessen. Europa verfluchen, die Frauen unter die Knute der Männer zwingen, das ist nach ihrem Geschmack. Und auf dem Tanzfest, das mit dem Beginn des Frühlings auf Kreta erstmals gefeiert werden soll, wollen sie der Hohenpriesterin und Europa einen unvergesslichen Denkzettel abliefern. Einen demütigenden, einen hämischen. Zeus muss eben einfach dieser phönizischen Prinzessin zeigen, dass ihr Hochmut dem Obergott gegenüber gnadenlos geahndet werden muss. Gnadenlos. Und bald. Wie unselige Geister der Unterwelt, so tanzten sie durch ihren Traum. Gräulich lachend und geifernd. Sie wurde an eine kalte Wand gedrängt. Die drei schienen sie erdrücken zu wollen. Lüstern und todbringend. Aber es war nur ein Traum. Erwacht durfte sie – geleitet von den guten Geistern der großen Göttin – aus der Unterwelt entweichen. Zu dumm aber auch, dass Hades gerade unterwegs ist und seinen Kater auskuriert. So war es eine leichte Flucht. Sie sollte sich nur nicht umdrehen, rieten ihr die einflüsternden Stimmen. Wozu auch, dachte sie, wozu?

Auf welches Meer schaut sie da jetzt? Wo sind ihre drei Söhne geblieben? Was soll ich tun? Telephassa lehnt sich erschöpft an die kalte Felswand. Die Stimmen werden immer leiser, als wollten sie sich von ihr verabschieden. Aber sie hat doch noch so viele Fragen! Flehend schließt sie die Augen. Wartet. Hofft. Dann kommen aber wie von selbst die rettenden Gedanken. Ich habe einen Auftrag, die Göttin steht mir bei. Ich werde zurück zu den Menschen gehen, werde Fragen stellen, werde Hilfe bekommen. Tief atmet sie ein, genießt die frische Morgenluft und die wohltuende Stille. Und wie eine Einladung klingt ihr das ferne Rauschen der Brandung. Komm, Telephassa, komm und lass dich nicht aufhalten! Der große, Leben spendende Äther trägt dich, verbindet dich mit allem, auch mit deiner Tochter Europa, auch mit deinen Söhnen. Also, mach dich auf den Weg, hilf ihr mit all deiner Weisheit, Liebe und Gelassenheit! Was wohl die Möwen meinen, die gerade so laut unter ihr am Strand zu streiten scheinen? Oder ist es Lebensfreude, Ausgelassenheit, die sie so schreien lässt?

Und ist der Mut ihrer Tochter Europa nicht staunenswert? Ganz alleine hat sie sich aufgemacht.

Telephassa will sie finden, will ihr helfen. Es fühlt sich gut an. Sie will auf jedes Zeichen, das sich in ihr – wenn auch noch so leise – rühren sollte, lauschen, damit sie nicht in die Irre geht. Ohne auch nur eine Ahnung zu haben, was die nächsten Tage bringen werden, macht sie sich weiter tief ein- und ausatmend auf den Weg. Sie will am Meer entlang gehen, bis sie auf Menschen stößt, die ihr weiterhelfen werden. Dieser Vorsatz, den sie da gerade in sich wachsen lässt, ist wie ein erfrischendes Getränk, das sie belebt, stärkt und sicher macht. Es ist gut, was ich vorhabe. Auch der Albtraum hatte seinen Sinn darin. Er liegt hinter mir wie eine wichtige Warnung: Sei auf der Hut, die fast schon vergessene Botschaft vom Glück will weitererzählt werden. Jeden Tag muss sie neu gelebt werden, erneut verteidigt werden. Nur so wird sie in den Herzen der Menschen wachsen können, nur so kann sie den Menschen Glück bringen, Lebensfreude. Tu es!

Telephassa hüpft fast vor Freude den Hang hinab zum Meer. Ihr Übermut verleiht ihr geradezu Flügel. Alles um sie herum scheint sie wie in einer Sänfte zu tragen. Leicht, heiter, mühelos. Der Seevögel Tanz am Himmel, der schäumende Glanz der Wellen, das wärmende Licht des Morgens – all das tut ihr so gut und gibt ihr das Gefühl zuhause zu sein. Beschenkt, beglückt, begeistert.

29 Jan.

Europa – Mythos # 47

Lügen haben kurze Beine

Hera! Ich bin gerade mal kurz meine Füße vertreten.“

Sie aber bitte zeitig zurück, mein Lieber. Wir haben heute Abend Gäste, wie du hoffentlich weißt!“

Zeus verdreht die Augen und ist froh, dass er sich aus dem olympischen Mief davon schleichen kann. Gäste! Wer hatte sich denn angesagt? Er hat keine Ahnung. Er braucht dringend ungestörte Ruhe, um die nächsten Schritte in Sachen Europa und der gemeinsamen Verabredung mit seinen beiden Brüdern zu überlegen. Da kommt völlig unerwartet Athena herein geplatzt:

Hallo, Papa, gut, dass ich dich gleich antreffe. Ich muss dringend mit dir reden.“

War wohl nichts mit Ruhe. Er kennt seine Tochter, die lässt sich nicht mit fadenscheinigen Ausreden abwimmeln. So seufzt er wohlwollend, legt seinen Arm um ihre Schulter und säuselt los:

Athena, wie freue ich mich, dich zu sehen. Natürlich habe ich alle Zeit des Olymps für dich. Du würdest mich niemals mit Schnickschnack behelligen. Stimmt’s?“

Natürlich nicht, Papa.“

Zeus schwant nichts Gutes. Jedenfalls möchte er auf keinen Fall, dass Hera dabei ist, wenn Athena ihr dringendes Anliegen vorträgt. Er weiß, wie klug seine Tochter ist. Die wird doch nicht etwas von seinem Feldzug gegen die aufsässigen weiblichen Erdlinge mit bekommen haben oder gar etwas von seiner so misslich verlaufenen Anmache der Europa?

Komm, suchen wir uns ein stilles Plätzchen, wo wir ungestört reden können, ja?“

Auch bei Athena keimt ein kleines Missbehagen: So schnell und so bereit? So kennt sie ihren oft eher überforderten Vater gar nicht. Sie will auf der Haut bleiben.

In einer angenehm Schatten spendenden Grotte gleich unter dem Olymp lassen sie sich nieder. Zeus ist erleichtert: Niemand hatte sie wohl gesehen.

Also, ich will gar nicht erst lange um den heißen Brei reden, Papa. Ich komme gerade von den Inseln. Da erzählt man sich eigenartige Sachen: Eine Prinzessin aus Phönizien sei entführt worden. Europa sei ihr Name. Über den Entführer gibt’s die tollsten Gerüchte. Andere wollen wissen, sie sei auf Kreta aufgetaucht…“

Zeus spielt den Empörten:

Nein, also wirklich, was ist denn da unten schon wieder los?“

Papa, jetzt tu nicht so, als wenn du nicht Bescheid wüsstest!“

Ich? Wieso ich?“

Zeus läuft es heiß und kalt den Rücken herauf und herunter. Warum muss ich aber auch so eine vorwitzige Tochter, solch eine Kopfgeburt haben? Womit habe ich das nur verdient? Er kramt all seine schauspielerischen Möglichkeiten zusammen und schaut Athena völlig verblüfft an.

Weißt du was, Papa, vielleicht sollten wir den Frauen da unten überhaupt mehr beistehen. Die Männer nehmen sich einfach zu viel heraus, finde ich. Würdest du mir helfen, wenn ich in die Richtung aktiv würde?“

Zeus traut seinen Ohren kaum: Seine eigene Tochter plant, ihm in den Rücken zu fallen, und will auch noch seine Hilfe dabei. Spielt sie ein doppeltes Spiel? Hades, Poseidon und er haben doch erst neulich einen feierlichen Eid geschworen (natürlich streng geheim!), alles zu tun, was hilft, die Frauen den Männern noch mehr als bisher untertan zu machen – als Rache für die Demütigung, die ihm Europa zugefügt hat. Und jetzt das! Wie komme ich aus dieser Patsche nur wieder heraus, denkt er nervös. Zeus ist nicht so der große Schnelldenker und erst recht nicht so der scharfe Schnelldurchblicker wie seine Tochter Athena. Er muss Zeit gewinnen, ist der einzige klare Gedanke, der ihm spontan kommt. Zeit, er braucht Zeit. Ihm gelingt sogar ein breites Lächeln.

Oho, hört, hört! Athena will die Welt verändern! Was habe ich nicht für eine kluge Tochter! Aber im Ernst, meine Liebe, das ist ja keine Kleinigkeit, die du mir da vorträgst. Das will gut überlegt sein.“

Also kann ich auf dich rechnen, Papa?“

Nein, nein, nein! Hast du nicht zugehört? Das muss sich zuerst einmal setzen. Das muss ich überschlafen, bevor ich zu- oder absage.“

Ich wusste, dass ich mit dir rechnen kann, ich wusste es. Danke, Papa!“

Athena umarmt ihren überrumpelten Vater, tanzt um ihn herum, lacht, klatscht in die Hände und läuft singend davon. Zeus ist am Ende. Wie soll er aus dieser Zwickmühle denn wieder heraus kommen? Und was ist, wenn Athena erfährt, dass er der Entführer war? Und was erst, wenn sie erfährt, dass er einen Rachefeldzug gegen die dreimal kluge Europa und alle anderen Frauen da unten plant? Was mach ich jetzt nur?

Wie ein begossener Pudel erhebt sich stöhnend der alte Obergott und trottet niedergeschlagen zurück zu seiner Gattin, Hera. Vielleicht weiß die ja Rat in dieser verzwickten Angelegenheit. Da fährt ihm der nächste Schrecken in die Glieder:

Nein, das wäre der reinste Wahnsinn, sie einzuweihen! Ich müsste ihr ja gestehen, dass ich Europa…nein, nein, Heras Eifersucht ist so was von furchtbar. Nein, ich muss es mit mir alleine ausmachen. Ich bin hier umgeben von lauter Frauen, die nicht auf meiner Seite stehen. Ist das die Rache des Schicksals für meine geplante Rache an den Frauen da unten?“

Mit hängenden Schultern und bitterem Schmollmund trottet Zeus nach Hause. Es wird ihm alles mal wieder zu viel. Da steht auch schon Hera, seine hehre Gattin, die Arme entschlossen in die Hüften gepresst.

Da bist du ja endlich! Hol mal gleich was Gutes zu trinken, damit sich unsere Gäste auch wohlfühlen. Die müssen nämlich jeden Augenblick da sein.“

Ja, ja, schon gut, wollt ich sowieso gerade machen“, nuschelt er, ohne ihr in die Augen zu schauen.

Ist was, mein Lieber? Du wirkst so niedergeschlagen?“

Ich? Nein, ich bin nur etwas müde.“

Dachte schon, ich müsste mir Sorgen machen.“

Alles gut, alles gut.“

Wenn die wüsste, was ich im Moment für Probleme habe, läuft da sein Denkapparat langsam wieder an. Was sollte ich gerade besorgen? Ach ja, Getränke, richtig. Gute Idee.

Werde meine Sorgen einfach in Nektar und Ambrosia versenken, das hilft immer. Meistens. Manchmal. Ist ja auch egal…“

27 Jan.

Europa – Mythos # 26

Endlich werden sich Europa und Chandaraissa treffen! Denn Zeus, Hades und Poseidon haben einen üblen Schwur getan, der nicht nur den beiden Frauen noch viel Kummer bereiten soll. Doch davon später mehr.

In meinen Tagträumen habe ich sie schon so oft gesehen. Jedes mal sah sie anders aus. Jedes mal war es die Lebensfreude, die sie unbändig auszustrahlen wusste. Jedes mal murmelte ich wie selbstverständlich: Meine Freundin, komm! Jetzt sehe ich sie, spüre die Freude und flüstere nur ganz leise: Komm, meine Freundin, komm!

Die vier Priesterinnen horchen auf. Fast wären sie im Morgengrauen eingeschlafen. Aber der Hohenpriesterin Stimme holt sie sanft aus ihren Träumen. Möwengeschrei hält leicht dagegen. Eine frühe Brise beflügelt die wilde Schar. Wo schaut sie denn hin? Weder Wolken, noch Wellen rühren sie, nein, eine fremde Gestalt hält ihren Blick gefangen. Schnell werfen sie Holz nach ins Feuer, huschen aus dem Dämmerlicht der Höhle in den jungen noch so müden Tag und eilen der Frau entgegen.

Europa staunt. Dieser Morgen schmeichelt ihr mit all seinen zerbrechlichen Waffen: Dem jungen Licht, dem leichten Wind, dem salzigen Duft der Luft und dem endlosen Blau von Himmel und Meer. Jetzt bemerkt sie die vier kleinen Gestalten. Als wären sie von magischer Hand ins Bild gemalt worden; vier feine, fließende Bewegungen. Daraus werden laufende Frauen in wehenden Gewändern. Jede in einem anderen leichtfüßigen Schwung. Träume ich? Sicherlich.

Kilcho, Lade, Sarsa und Belursi kichern, jauchzen, winken jetzt sogar. Endlich erleben sie wieder solch einen Augenblick, von dem Chandaraissa so oft erzählt. „Es gibt sie wirklich, glaubt mir, sie kommen immer wieder. Gerade, wenn wir sie am wenigsten erwarten; sie lassen unser Herz und unser Blut in Wallung geraten, als wären wir von Sinnen.“ Sprachlos lauschten die vier solchen Prophezeiungen hinterher, mit offenem Mund und angehaltenem Atem. Ob das jetzt so ein Augenblick ist? Das Lächeln ihrer Herrin schien es zu verraten. Aber was hatte sie geflüstert? Zu dumm aber auch, dass sie eingenickt waren. Hätte sie nicht früher oder später kommen können, die fremde Frau? Ganz außer Atem laufen sie auf sie zu. Kilcho hält plötzlich an; Lade, Sarsa und Belursi stolpern fast über sie.

„Hey, was soll das?“

Schnaufend stemmt Kilcho ihre Fäuste in die Hüften:

„Was soll das, was soll das? Denkt doch selber mal nach, ihr drei!“

„Hä?“

„Ja, habt ihr denn eine Idee, was wir der Fremden sagen sollen?“

Betretenes Schweigen. Schnaufen im Chor zu viert. Oh je, ist das peinlich. Als sie sich ratlos in die Augen schauen, müssen sie schließlich prusten und lautlos in sich hinein lachen. Kein Rat, nirgends. Eine Schar Möwen über ihnen kreischen stattdessen vielstimmig durcheinander. Denen fehlt es nicht an Stimme, Botschaft und Ratschlägen, scheint es den Vieren.

Eben noch sah es so aus, als wollten die vier zu mir laufen, denkt Europa. Aber warum bleiben sie jetzt stehen, drehen mir den Rücken zu? Vielleicht haben sie mich gerade erst entdeckt und wissen nun nicht, was sie tun sollen. Ich werde ihnen einfach entgegen gehen und sie fragen, ob sie mich zur Hohenpriesterin führen können.

Chandaraissa tritt aus dem Schatten der Höhle in das ihr entgegenkommende Morgensonnenlicht. Schützend hält sie eine Hand über ihre Augen. Ihre vier Priesterinnen halten gerade eine kleine Ratsversammlung ab, sie tuscheln miteinander. Sicher sprechen sie sich gerade ab, wer was wie sagen soll. Dabei müssen sie doch gar nichts sagen. Die Fremde wird ihnen lächelnd die Worte in den Mund legen, die sie jetzt noch gar nicht kennen. Die Göttin hat mich diesmal lange warten lassen, bis sie wieder jemanden zu mir schickt. Aber es ist ein guter Morgen für ein neues Abenteuer der Leidenschaft und Lebensfreude. Ich bin bereit dazu! Die fast schon vergessene Botschaft vom Glück weiter zu geben.