Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 97
Ein unvergesslicher Augenblick
Es ist die Stunde der leisen Klänge und klaren Farben, denn der Sonnengott kommt gerade mit seinem Wagen meerwärts gefahren, langsam. Hunde und Katzen brechen behutsam zu kleinen Abenteuern auf, schleichen lautlos durch schattige Gassen. Es ist die Stunde der Tagträume auf Kreta. Auch Chandaraissa und Europa haben das Gefühl durch einen Traum zu schlendern. Federleicht. Mal mit geschlossenen Augen, mal mit halb geöffneten Lidern lauschen sie der sanften Stimme des Fremden, der ihnen gerade so wunderbar stürmisch – ein kleiner Sandsturm war sein Gehilfe dabei – ihr Leben rettete.
Lange Schatten alter Olivenbäume und leicht gebogener Dachkanten liefern einfach so und von glitzernden Staubkörnchen begleitet ein kleines Fest schöner Bilder eines Gartens, in dem die beiden Priesterinnen gerade ihren Atem, ihre Haut, ihre Gewänder spüren wie freundliche Begleiter in einem traumhaften Klanggemälde, das sie nur zärtlich verwöhnen will. Und das, was sie dabei hören, ist halb Musik, halb Sprache, halb Gesang, halb Raunen. Der Fremde hat sie völlig in seinen Bann geschlagen:
„Ich bewundere euren Mut, schätze eure Tatkraft, kenne eure Träume und helfe euch gerne, den Widrigkeiten und Anschlägen zu widerstehen. Das Wirken eurer helfenden Hände macht es vielen leicht, euch zu schätzen, euch zu unterstützen. Und ich hülle euch heimlich mit einem wärmenden Umhang liebevoller Gunst, die euch stärkt und weiter wirken lässt zur Freude, zur Lust, zum Tanz, zum Gesang und zum Frieden.“
Chandaraissa und Europa können es nicht fassen. Wer spricht da zu ihnen? Und warum tut er das? Woher kennt er ihre Träume? Die Schatten werden langsam länger und länger. Ihr Mut wächst und wächst. Sie haben so viele Fragen an den Fremden. Sosyniod. So nennt er sich. Er muss sehr mächtig sein. Aber sie haben keine Angst. Im Gegenteil. Beide sind entflammt, ihr Blut wallt, ihr Atem geht schnell, sie träumen sich in leidenschaftliche Bilder hinein, genießen es und ihn. Der Fremde scheint es zu spüren. Aber statt sich ihnen zu nähern, steht er langsam auf, lächelt, winkt mit der rechten Hand und wird von einem zum anderen Augenblick Teil der glänzenden und tanzenden Körner, die ihr buntes Treiben und Tollen im stillen Innenhof einfach nicht enden wollen.
Aber wie der Gesang der Wale, die über so weite Strecken unter Wasser ihre Botschaften weiter geben können, sind auch die Worte Sosyniods durch den weiten Äther gewandert, leichtfüßig und schnell, bis dorthin, wo die drei göttlichen Brüder mürrisch auf der Insel der Göttin der Liebe hocken und sich maßlos ärgern, weil dieser Sosyniod ihnen mal wieder einen Strich durch ihre Pläne gemacht hat. Es ist zum Haare raufen! Zeus zittert vor Wut. Poseidon schüttelt sein algendurchflochtenes Haar und Hades stülpt seine dicken Lippen nach vorne und knurrt: „Lieber Bruder, so kann es doch nicht weiter gehen, das können wir uns nicht bieten lassen! Wir müssen jetzt durchgreifen – oder?