12 Jan

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 74

Die Attentäter schreiten zur Tat

Nemetos und Thortys liegt der Auftrag wie ein Mühlstein im Magen. Aber sie wissen, sie haben keine Möglichkeit, Sardonios zu widersprechen. Er hat sie voll in der Hand. Aber nicht nur die Tat selbst bereitet ihnen Magenbeschwerden. Nein, auch die Aussichten, wie sie hinterher davon kommen sollen, macht ihnen Angst und Bange: Sie sollen sich nach dem Mord ruhig festnehmen lassen, Sardonios wird ihnen den Prozess machen, sie werden zum Tode verurteilt werden, die Hinrichtung wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden (Sardonios werde sich da schon etwas einfallen lassen, hatte er breit grinsend getönt), nachts würden sie aus der Todeszelle heimlich abgeholt werden und ein kleiner Segler werde sie an einen geheimen Ort bringen – und wenn sie wollen, würden auch ihre beiden Frauen, Sarsa und Belursa, auf dem Schiff sein. Aber nur, wenn sie es wirklich wollen. Natürlich würden sie das wollen!

Mit ihren Dolchen unter ihren Gewändern gehen sie – scheinbar einfach so und völlig ohne Hintergedanken – in der angenehmen Nachmittagssonne zum Tempel der großen Göttin. Das Meer wogt wie immer lautlos bleiern blau um die schöne Insel herum. Ein Tag wie jeder andere. Im Näherkommen hören sie Musik und Lachen. Was ist da los? Wie sollen sie da ihren blöden Auftrag erledigen? Diese Fremde, Europa, hätte besser gar nicht erst auf ihre Insel kommen sollen, denken die beiden verdrossen. Dann gäbe es für sie jetzt nicht diesen Gang zum Tempel. Da stehen auch lauter Frauen gaffend herum. Was machen die da, jetzt? Was gibt es da zu gaffen? Nemetos und Thortys werden gar nicht bemerkt, als sie zwischen den hohen Säulen des Tempels ankommen. Denn alle schauen gebannt zu. Dann können sie es auch sehen und hören: Im Vorhof tanzende Priesterinnen in eigenartige Tücher gesteckt. Zwei Flötenspielerinnen und drei Trommlerinnen an der Schattenseite des Platzes zaubern eine leise und rhythmisch monotone Melodie dazu. Und am Eingang ins Innere stehen die Hohepriesterin und Europa und schauen lächelnd den jungen Priesterinnen beim Tanzen zu. Aber die Blicke der beiden Mordbuben sind völlig gefangen vom Tanzgeschehen. Sie merken gar nicht, wie ihr Puls sich erhöht, wie ihre Augen größer werden, wie sie sich erregen. Das spüren sie wenigstens nun. Und wie! Ihr Atem geht plötzlich ruckartiger, ihre Münder stehen weit offen. Denn die Bewegungen der Tanzenden halten sie gefangen: Die Arme schnellen immer wieder schlangenartig in die Höhe, die Köpfe wiegen sie mit geschlossenen Augen hin und her, als wären sie alle von Düften und Säften betört. Und dann die bunten Tücher erst. Alle durchsichtig und vom Wind gebläht, den die Tanzenden mit ihren Bewegungen erzeugen, scheinen sie kaum mehr die Körper bedecken zu wollen. Jetzt sehen sie auch ihre eigenen Frauen, Sarsa und Belursa. Nemetos und Thortys können es gar nicht fassen. Die beiden Männer geraten unversehens in einen Rausch.

12 Jan

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 73

Ein neues Fest – Archaikos berichtet dem Rat der Alten

Ein ziemlich unfreundliches Raunen geht durch die Reihen der alten Räte, als der Minos von Kreta den Ratsraum betritt. Archaikos spürt förmlich ihre zornigen Blicke auf seine Haut auftreffen wie brennende Pfeile. Er atmet tief durch. Ihr könnt mich nicht umstimmen, ihr räudigen Hunde, ihr, denkt Archaikos, als er jetzt freundlich grüßend durch die Reihen geht und vorne auf dem Thron des Minos gelassen Platz nimmt.

Nach und nach verebbt das Raunen. Es wird still im Saal. Die tanzenden Delfine im Rücken des Minos scheinen nichts zu spüren von der schlechten Laune, die in der Luft zu wabern scheint. Wie übler Rauch, der aus feuchtem Holz aufsteigt, das einfach nicht richtig brennen will. Archaikos lässt sie einfach warten. Er schweigt lange. Schließlich beginnt er langsam und leise zu sprechen:

Ich habe euch heute hierher rufen lassen, weil ich euch von einem Traum berichten muss, den unsere große Göttin in letzter Nacht mir zugesandt hat.“

Die Spannung steigt. Gerne würde Archaikos jetzt die Texte, die gerade durch die Köpfe seiner Zuhörer geistern, an die Wand geschrieben sehen. Die Mienen der alten Räte werden nur noch finsterer. Natürlich werden sie längst wissen, wer ihn in dieser Nacht besucht hat. Hinter vor gehaltener Hand wurde ingrimmig getuschelt. Da ist er sich ganz sicher.

Archaikos macht eine lange Pause. Dann fährt er fort:

Das Frühlingsfest soll in einem großen Tanz zu Ehren der Göttin gefeiert werden.“

Der Minos hat den Satz kaum beendet, da gellt ein Zwischenruf durch den kalten Raum: „Und der Umzug? Soll der Umzug einfach ausfallen?“

Es war Maenothys gewesen, der Hitzkopf und Todfeind des Minos, der losgebellt hatte. Archaikos lächelt, schüttelt den Kopf und antwortet dann dem Frager gelassen und leise:

Nein, mein werter Rat Maenothys, natürlich wird auch der Umzug wie eh und je stattfinden. Der Tanz wird abends dann den Festtag abschließen. So will es die Göttin.“

Alle drehen sich nun zu Maenothys um. Keiner will dessen Reaktion verpassen. Im Innern tobt eine Wut, die nur im schnaubenden Atmen zu ahnen ist, im Gesicht versucht Maenothys aber Erleichterung zu heucheln.

Alles weitere wird euch die Hohepriesterin, Chandaraissa, bei ihrem nächsten Tempelbericht vortragen.“

Erleichterung – oder ist es Enttäuschung – macht sich breit. Man tuschelt aufgeregt. Archaikos lässt sich wieder viel Zeit. Er genießt den Augenblick.

Gibt es noch weitere Fragen?“

Sofort tritt völlige Stille ein. Keine Fragen.

Geht doch, denkt Archaikos zufrieden, als er aufsteht und gelassen den Ratsraum verlässt.

08 Dez

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 71

Alles hängt mit allem zusammen, murmeln gelassen die Winde.

Chandaraissa hat sich so verändert, findest du nicht auch?“ fragt Thymbolé in die wohltuende Mittagsstille hinein.  Entspannt liegen die vier jungen Priesterinnen in ihrer Mittagspause in ihrem Zimmer auf kühlenden Kissen und erholen sich von anstrengenden Tanzstunden heute vormittag. Europa und Chandaraissa hatten mit ihnen geübt und geübt und geübt.

Ja, das ist mir auch aufgefallen. Komisch, nicht?“ sinniert Lubsósa vor sich hin.

Wieso komisch? Das ist doch ganz einfach, wieso“, wirft kopfschüttelnd Ralitáwa dazwischen.

Jesibána kann nur staunen. Ihre Freundinnen können wie aus dem nichts ein kleines Streitgespräch vom Zaun brechen und sich hinterher wundern, wie das nur wieder passieren konnte.

Ach ja?“ antworte Thymbolé mit leicht erhobener Stimme. Sie will Lobsósa, ihre beste Freundin, in Schutz nehmen. Immer muss sie Streit suchen, Ralitáwa.

Und schon kommt ihre Antwort:

Was hat sich denn verändert? Mh? Unsere Hohepriesterin hat sich verliebt. Das ist doch sonnenklar – oder?“

Alle halten den Atem an. Wenn das jetzt Chandaraissa hören würde!

Und in wen?“ fragt Lubsósa in die Stille hinein.

In wen? In wen? In Europa, in wen denn sonst!“

Jetzt ist es noch stiller als vorher. Dann geht ein leises Gekicher los, das immer lauter wird, bis sie alle loslachen.

Im selben Moment geht die Türe auch, Sarsa ist es. Der Schreck, der den vieren in die Glieder gefahren war, wandelt sich gleich wieder in Gekicher um.

Was ist denn hier los?“ fragt Sarsa mit großen Augen und strahlendem Lächeln. „Hat jemand eine neue Geschichte über Sardonios erzählt?“

Jetzt müssen sie alle noch mehr lachen. Dabei reden sie laut durcheinander, klatschen sich in die Hände, fahren sich durchs offene Haar und ziehen Sarsa zu sich auf die Kissen hinunter. Eine wahre Kicher-Orgie ist im Gange.

Da stieben vor Schreck sogar die vorwitzigen Elstern oben am Dachrand des großen Tempels auseinander und davon.

Chandaraissa hört es auch, das Lachen der jungen Frauen. Es freut sie. Obwohl sie nicht weiß, dass eigentlich sie selbst der Anlass ist für dieses Lachgewitter. Und Europa, die gerade über ihre Träume der letzten Tage nachdenkt, lässt sich auch gerne aus ihren sorgenvollen Überlegungen herausreißen.

Wie hat sich doch ihr Leben geändert, seit sie dem Fremden in der Höhle davongelaufen ist!

Es muss wohl alles mit allem zusammenhängen, denkt sie jetzt zufrieden. Die Freude mit dem Leid, Werden und Vergehen und Neuanfang auch mit Erinnern, Vergessen und Tagträumen. Jederzeit bin ich aufgehoben im Schutz der Göttin, die mich stets begleitet – mit ihrem Lächeln, ihrer Wärme, ihrer Zuversicht und ihrer Liebe.