27 Okt.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 69

Archaikos träumt einen kühnen Traum

Sardonios, der Herr der Listen und Namen, kommt gerade schnaufend von seinem Frühspaziergang in den Palast zurück. Die Wächter schrecken auf: Wo kommt der denn her? Hä? Zitternd beugen sie ihre Häupter, nur nichts falsch machen, nur nicht auffallen!

Drinnen ist es angenehm kühl und still. Manchmal fliegt eine Schwalbe durch die Säulengänge oder waren es doch noch Fledermäuse? Sardonios hat keine Zeit für solche Beobachtungen. Ihm ist insgeheim angst und bange. Was hat der Minos von Kreta vor? Steht mein Sturz bevor? Sind die alten Räte noch auf meiner Seite? Liege ich richtig, die neue Flamme des Minos aus dem Weg räumen zu lassen? Jetzt ist es sowieso zu spät, denn die beiden dämlichen Helfer sind ja schon unterwegs. Schnell noch die Frühansprache des Minos mitnehmen, dann nichts wie hin zur Höhle, um die Einzelheiten für den Anschlag zu verabreden, denkt Sardonios, als man ihm die schwere Flügeltür zum Besprechungssaal öffnet.

Währenddessen stürzen kühne Traumbilder dem Minos durch den Kopf. Kurz vor dem Aufwachen überfällt ihn ein Taumel an Glücksgefühlen, wohligem Lustgestöhn und jauchzendem Kindergeschrei. Und an seiner Seite: Europa. Lächelnd, groß und so begehrenswert. Das Klopfen an seiner Schlafraumtür reißt ihn aus diesem beglückenden Rausch. Und weg sind die Bilder.

Herr und Minos!“ flüstert Brodostys, sein treuer Diener, beim Eintreten,  „Sardonios wartet schon ungeduldig auf die Anweisungen für den Tag. Soll ich ihn wieder wegschicken?“

Archaikos räuspert sich schlecht gelaunt, er will Sardonios mit langem Warten dafür bestrafen, dass er selbst aus diesem wunderbaren Traum gerissen wurde.

Nein, nein! Lass ihn nur warten. Ich werde kommen.“

Stöhnend wälzt sich der Minos aus den noch warmen Fellen, richtet sich auf, hört genüsslich dem Geschrei der Elstern zu, die im leeren Innenhof so tun, als gehöre der Palast ihnen allein, und steigt in das dampfende Wasser seines riesigen Waschtrogs, der natürlich schon längst lautlos gefüllt worden war. Brodostys, der Gute, trocknet ihn gründlich ab und reicht ihm seine Untergewänder. Archaikos nimmt sich viel Zeit. Er grinst, denn er kann sich gut vorstellen, wie jetzt Sardonios auf ihn warten muss, wütend. Dann geht der Minos gemächlich zum Fenster, schaut über den tiefer gelegenen Innenhof hinweg Richtung Berge und denkt sich noch einmal in seine Traumbilder hinein: Europa soll es also sein, mit ihr wird er diese Kinder haben, die er da ausgelassen schreien hörte. Er atmet tief die frische Morgenluft ein. Sein Reich, Kreta, wird also glücklichen Tagen entgegen sehen. Eine fremde Frau wird alles verändern.

11 Okt.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 68

Die bezahlten Hintermänner auf dem Weg zur bösen Tat.

Sardonios muss sie aus geilen Träumen wecken, seine miesen Wächter von einst. Erschrocken reißen sie die Augen auf, als sie seine Stimme hören. Grelles Sonnenlicht fällt in schmalem Streifen dennoch blendend in ihre baufällige Hütte.

Was, was sollen wir tun?“ stottern die beiden verängstigt vor sich hin; dabei rappeln sie sich ächzend auf, wischen das wirre Haar aus dem Gesicht und stehen einfach nur blöd da, weil sie nicht verstehen, was Sardonios von ihnen will.

Gestern wurde ein Anschlag auf die Hohepriesterin im Tempel verübt – mit vergiftetem Fisch (es hatte sich eben längst schon herum gesprochen). Meine Späher haben herausgefunden, dass es diese Fremde war, die Chandaraissa leichtfertig bei sich aufgenommen hat.“

Beide nicken, so als hätten sie verstanden, was vorgefallen sein muss. Sardonios würde sie am liebsten ohrfeigen oder treten. Was für unfähige Burschen habe ich da am Bein, denkt er fluchend; aber Eile tut not. Der Anschlag muss noch heute vonstatten gehen. So macht er gute Miene zum lächerlichen Stück, das die beiden ihm da gerade vorführen.

Kommt mit, ich habe einen dringenden Auftrag für euch. Der muss umgehend erledigt werden. Und zwar reibungslos und erfolgreich. Sonst…“

Er reißt seine Augen auf, atmet schnaufend durch und schubst sie ins Freie.

Stolpernd und furchtsame Blicke miteinander tauschend wanken sie aus ihrer Hütte heraus (ihre beiden Frauen sind zum Glück nicht da), natürlich heimlich von den Nachbarn beobachtet. Denn wenn der Herr der Sicherheit persönlich hier bei den armseligen Fischerhütten auftaucht – persönlich! – dann hat das Gründe, die sicher noch Futter für viele Tratschereien hergeben werden. Klar.

Los, lauft los! Wir treffen uns gleich in der Grotte auf dem Weg zum Tempel der großen Göttin“, zischt Sardonios den beiden ins Ohr und schreitet in die entgegensetzte Richtung davon.

Verstehst du das?“, flüstert der eine dem anderen ins Ohr. Der schüttelt nur den Kopf und schiebt seinen Kumpel vor sich her.

Ist doch unwichtig. Wir müssen unsere Sache nur gut machen, dann ist er zufrieden und wir können nachts wieder ruhig schlafen.“

Wenn sie allerdings gewusst hätten, dass sie Europa, die Fremde, aus dem Weg räumen sollen, wäre ihnen wahrscheinlich ganz anders zumute gewesen. Aber sie ahnen es nicht einmal.

14 Aug.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 65

Europa schöpft neuen Mut – trotz allem.

Chandaraissa und Europa sitzen sich schweigend gegenüber. Die Sache mit den vergifteten Fischen liegt ihnen schwer im Magen. Die armen Katzen! Europa ist übel. Ist es die Schwangerschaft oder ist es der Zorn auf den gehörnten Entführer, den sie schlafend in der Höhle zurückgelassen hatte?

Hör auf, dich zu grämen, Europa, wir müssen nach vorne schauen. Unsere jungen Tänzerinnen sind so voller Eifer und Zuversicht. Dieser Vorfall darf sie nicht verunsichern. Dich auch nicht.“

Du hast gut reden, Chandaraissa. Die Albträume kommen trotzdem jede Nacht.“

Schon. Aber wir sind zusammen doch so stark. Erinner dich an den Prozess. Der Minos war so beeindruckt von unserem Auftritt, dass er seinem eigenen Minister Sardonios – dem Herrn über alle Listen und Protokolle und der Hofhaltung – nicht nachgab, sondern unsere Erklärung für wahr hielt. Hast du das schon vergessen?“

Nein, Chandaraissa, nein. Archaikos ist ja sogar bereit, mich zu heiraten – gegen den Widerstand der greisen Räte.“

Na also! Spätestens nachdem alle den neuen Tanz gesehen haben werden, wird auch Sardonios` Zeit um sein. Glaub mir.“

Aber dieser heimtückische Anschlag! ER wird so leicht nicht aufgeben.“

ER wird nie aufgeben, klar. Aber wir werden stärker und stärker werden. Thortys und Nemetos sind so leicht zu überrumpeln gewesen.“

Beide müssen lachen, wenn sie an diese Geschichte denken.

Unsere Göttin glaubt an uns – sie wird uns stets beistehen, das weißt du doch, Europa!“

Sie nickt. Was für ein Glück, dass ich solch eine Freundin habe, denkt sie und drückt die Hand Chandaraissas. Was für ein Glück!

Wie weggeblasen scheinen Angst und Kleinmut.

Komm, wir rufen alle Priesterinnen zu einer Zusatzprobe. Tanzen wird ihnen gut tun. Da kommen sie gar nicht erst auf dumme Gedanken!“

Chandaraissa strahlt. So liebt sie ihre neue Gefährtin. So entschlossen, so freudvoll. Wie ein Blitz saust dabei ein Bild durch ihren Kopf: Archaikos, der Minos von Kreta, ertrinkt. Delfine tragen ihn zu Grabe in einer Unterwassergrotte der freundlichen Nymphen. Es wird alles gut werden, denkt sie und seufzt.