Historischer Roman II Blatt 99 (Leseprobe)
Blatt 99 Rochwyn und Somythall belauschen ein Gespräch am Brunnen.
Der Schnee, der erst kürzlich gefallen war, schmilzt weg wie Butter in der Sonne. Kleine Rinnsale schlängeln sich durchs Unterholz, altes Laub glänzt schwach im späten Sonnenlicht, als die kleine Mönchsgruppe angeführt von ihrem Abt in Luxovium eintrifft. Niemand nimmt Notiz von ihnen. Die Leute in der ehemaligen römischen Therme haben wirklich andere Sorgen. Der Brotpreis ist wieder gestiegen, das Brennholz ist feucht, Kinder liegen mit Fieber in nasskalten Hütten, der fränkische König will schon wieder die Abgaben erhöhen und der Bischof lässt von der Kanzel den Zehnt erheben. Was soll da die Ankunft von irischen Mönchen schon bedeuten? Nichts anderes als noch mehr Esser im Ort. Fremde Esser eben.
Rochwyn, der treue Begleiter an Somythalls Seite, steht gerade mit ihr direkt gegenüber dem Eingang zur Kirche, wo sich die beiden Äbte treffen werden, als sie ungewollt Zeugen eines böswilligen Getuschels werden. Denn vor ihnen am Brunnen tun gerade zwei in dicke, verschmutzte Mäntel gehüllte Frauen so, als wären sie mit Wasser holen beschäftigt. In Wirklichkeit lästern sie laut über die Mönche, die seit Columbans Flucht vergeblich versuchen, einen intakten klösterlichen Alltag vorzuleben. Die eine hat die Hände vor dem Mund zu einer kleinen Höhle geformt, in die sie ihren warmen Atem pustet, die andere zieht am Brunnenseil. Langsam, ganz langsam, damit sie genügend Zeit zum Lästern haben.
„Das sollen die neuen irischen Mönche sein“, kichert die eine höhnisch.
„Mönche? Das sind bestimmt Hintermänner vom Bischof, die so tun als wären sie irische Mönche!“
„Nee, guck sie dir doch mal genau an: die fallen doch gleich in den Schlamm, bevor sie die Treppe erreichen, so zittrig und mickrig stacksen sie da hinter ihrem Führerlein her.“
Die beiden können ihr schadenfrohes Lachen kaum mehr unterdrücken.
„Hat Abt Bernardus nicht genug Sorgen? Seit der fromme Columban fliehen musste, geht doch kaum noch jemand zum Gebet. Oder?“
„Stimmt. Ich kenne eine Reihe Leute – hinten am Waldrand, wo die warmen Dämpfe aus dem Boden schießen – die beten wieder zu Sol Invictus. Mein Mann will, dass ich da auch wieder hingehe. Kommst du mit?“
„Weiß nicht. Schau mal, jetzt begrüßt sie der Abt, als wären es seine besten Freunde.“
„Dieser Schauspieler. Lieber sollte sie der Teufel holen, denkt der bestimmt.“
„Schau dir sein lächelndes Gesicht an! Ein Heuchler, ein Schwächling, ein Verräter am Erbe Columbans.“
„Wie meinst du das?“ fragt die Frau am Brunnenseil, das sich kaum zwischen ihren Händen bewegt hat.
„Der soll doch Columban beim König angeschwärzt haben, um selbst Abt werden zu können.“
„Ehrlich? Woher weißt du das denn?“
Rochwyn staunt und staunt.
„Hast du das gehört, Somythall?“
„Ja, habe ich. Vielleicht war es dann auch gar keine ehrliche Gastfreundschaft, die Abt Bernardus so hilfsbereit uns gegenüber sein ließ. Vielleicht ist es pure Berechnung, um beim König gut Wetter zu machen.“
Rochwyn nickt. Ihm wird klar, dass sie sich nun vor zwei Äbten in Acht nehmen müssen. Denn beide scheinen ein verlogenes Spiel zu treiben.
„Sehen wir zu, dass wir da nicht zwischen deren falsche Seilschaften geraten. Wir sollten wirklich so bald wie möglich weiter reisen, den Abt zu seinem Missionsgebiet bringen und dann wieder aufbrechen Richtung Irland.“
„Ja. Aber vorher muss ich noch unser Kind zur Welt bringen. Oder?“
Rochwyn legt wärmend seinen Arm um Somythall. Unser Kind. Das klingt wie eine Zeile aus einer alten irischen Sage, denkt er dabei. Jetzt haben die Frauen am Brunnen die beiden bemerkt. Sofort hantieren sie kräftig am Brunnenseil, hieven den Bottich über die Kante und machen sich eilig davon. Sie wissen: hier in Luxovium kann man niemandem trauen. Waren das nicht auch zwei Fremde, der stolze Mann und die schwangere Frau?