Europa – Verraten und verkauft? (Meditation # 43)
Wie sinnvoll Grenzen doch dem Menschen sind! (Teil I)
Zur Zeit hat das Warnen vor Grenzen Hochkonjunktur: Wenn Großbritannien austreten sollte, dann…und schon folgt die ziemlich lange Liste lauter Nachteile für die Briten – aus Sicht der Befürworter der EU. Und da die Menschen, was ihren Geldbeutel betrifft, sehr schnell sehr verunsichert reagieren, falls so etwas wie Verlust von Geld im Raume stehen könnte, wollen sie natürlich auch nichts von Grenzen für den Geldfluss hören. Lieber investieren sie dann sogar in Werbung für den weiteren Verbleib der Briten in der Freihandelszone, obwohl dieser Posten eigentlich im Jahresbudget bereits anderweitig verplant war. Das ist immer noch besser als Geld zu verlieren! Das Angst Schüren zeigt also schöne Wirkung für die Befürworter. Man sammelt so die verschreckten Gemüter leicht hinter sich und macht ordentlich Versprechungen für eine noch profitablere Zukunft (für wen eigentlich?) – wenn die Briten drin bleiben.
In leichter Abwandlung eines bekannten Sprichworts möchte ich hier aber ein vielleicht bedenkenswertes Argument für die Vorteile von Grenzen vortragen, die vor lauter Zuwachstaumel in den letzten Jahrzehnten etwas aus den Augen verloren gingen:
„Der Mensch lebt nicht vom Geld allein!“
Im Gegenteil, er lebt aus ganz anderen Quellen, die sich aus seinen Gefühlen und seinen Wahrnehmungen speisen. An zwei Beispielen sei das kurz verdeutlicht:
Erstes Beispiel
Spanien zur Zeit des Franko-Regimes – die Basken und die Katalanen wurden neben den üblichen Systemgegner massiv benachteiligt, stranguliert, misshandelt. Ihre eigenen kulturellen Grenzen werden einfach bürokratisch und autoritär ausradiert. Die Folge: Man steht noch dichter zusammen, pflegt noch leidenschaftlicher seine Besonderheit, identifiziert sich noch mehr mit der eigenen Geschichte der Region und macht eine Faust in der Tasche: Wir lassen uns nicht unterkriegen, wir halten zusammen, wir kennen uns und wir können uns auf einander verlassen!
Als 1975 endlich der Diktator von der Lebensbühne verschwand, entwickelt sich im freien Spiel der demokratischen Kräfte das regionale Selbstbewusstsein nun erst recht: Basken und Katalanen sind sehr stolz auf ihre Eigenart, auf ihren Widerstand, auf ihre gemeinsamen Opfer. Das macht sie nun stark, selbstbewusst und für die Grenzen zu den anderen nur noch sensibler und der Zentrale in Madrid gegenüber nur skeptisch oder immer wieder aufsässig, widerborstig und bremsend. Und sie fühlen sich gut dabei, weil sie sich kennen, ihre Lieder und Geschichten ihren Kindern emphatisch weitergeben und nicht fürchten müssen, im Sog der virtuellen und ökonomischen Globalisierung verloren zu gehen oder eingesackt zu werden – von Zentralen, die irgendwo auf der anderen Seite des Planeten Investitions- oder sogar Personalentscheidungen treffen, auf die man vor Ort keinerlei Einfluss mehr hat. Ganz gleich ob die nun Brüssel oder Hongkong heißen, diese Geld-Zentren.
Zweites Beispiel
Das sogenannte vereinigte Königreich – Erst nach großen kriegerischen Anstrengungen war es England gelungen, die Schotten und später auch ein Stück Insel der Iren an sich zu reißen. Das machte die Schotten und die Iren umso stolzer auf ihre eigene Geschichte, ihre eigene Sprache, Musik, Sagen und Gedichte. Der Widerstand ließ sie enger zusammen rücken, ließ sie gemeinsam Opfer bringen für ihre überlieferte Identität. Bis heute. Das schottische Hochland oder die Täler und Küsten Irlands lieferten Jahrhundert um Jahrhundert die Bilder der gemeinsamen Erfahrungen in Notzeiten, in gewaltigen Kriegen und in Naturkatastrophen und in großen Familiengeschichten. Da wuchs ein Wir weiter und weiter und speist bis heute das Selbstbewusstsein der Menschen. London als Zentrale der Bezwinger gilt ihnen bis heute als verdächtig, als wenig mit den regionalen Gegebenheiten vertraute bürokratische Maschinerie, der man nur knirschend oder ironisch begegnet. In all diesen Regionen – ähnliches ließe sich über die Bretonen, die Jurassen oder Bayern sagen – hört man sich die Beglückungsgesänge in Sachen EU, Welthandel, Globalisierung und Internationalität geduldig an, schweigt und denkt sich seinen Teil: „Gut, dass wir uns hier auskennen, dass wir unsere eigene Geschichte haben, dass wir uns hier zuhause fühlen können.“ Man kennt sich, Verwandtschaften, Freundschaften, Bekanntschaften bilden ein vertrautes Netz. Wir kennen unsere Grenzen gut.