20 Apr

Rezension zum Stück „NICHTS“ 12. April 2016

Mit „NICHTS“ überzeugt

Bückeburg.

Kein Szenenapplaus, zwischendurch kein Gelächter, nur hier und da ein Raunen oder stockender Atem – genau diese Resonanz zeigt, wie gekonnt das aus dem Adolfinum hervorgegangene Theaterensemble JUST die Bühnenfassung von Janne Tellers Roman „Nichts“ unter der Regie von Johannes Seiler in der Bückeburger Remise auf die Bühne gebracht hat.

Der Siebtklässler Pierre Anthon stellt Wert und Sinn in Frage. Nichts habe Bedeutung, nichts sei von Dauer, vieles sei bloßer Schein, weiß er zu predigen. Und Moritz Möller versteht es, diese Botschaft mit Macht und Wucht in der Remise von oben herab zu verbreiten. Er schleudert die Worte wie Aischylos‘ „gefesselter Prometheus“, aber gegen die Menschen gerichtet.

Ein wenig eingeschüchtert

Kein Wunder, dass sich die Mitschüler zunächst ein wenig einschüchtern lassen. Etwas werden, etwas erreichen, ganz im Sinne der Eltern und Lehrer, das soll „nichts“ sein? Nur weil die Alten selbst an Kraft und Lust verloren haben, statt durch Erfahrungsreichtum an Freude und Ausstrahlung zu gewinnen?

Beim gemeinsamen Versuch, Bedeutungsvolles aus ihrem eigenen Leben zu präsentieren, kommen die Kinder vom Wege ab. Der „Berg der Bedeutung“, den sie in der Abgeschiedenheit eines stillgelegten Sägewerks für Pierre Anthon nach Art von schwarzen Geschenkkartons aufschichten, wird unter der Hand zum Vulkan. Sie werden aneinander schuldig, ob durch kleine Gemeinheiten oder durch unvorstellbare Brutalität. Die Untaten mag man kaum auflisten. Als Beispiel sei „nur“ der abgeschnittene Finger des sympathisch aufspielenden Gitarristen Jan-Johan (Manuel Plüschke)genannt. Das Unheil nimmt seinen Lauf, auch wenn wenigstens eines der Kinder weiß: „Irgendwo muss doch eine Grenze gezogen werden!“

Die Beibehaltung des kindlich anmutenden Erzähltextes führt neben den dramaturgisch geschickt gesetzten Dialogen und Einwürfen mit Perspektivwechsel und Teilwiederholung dazu, dass junge Erwachsene wie Nina Peschek, Tobias Kranz und sogar Robin Maas in Aktion jung und spontan wirken und teils wunderbar naiv. Diese Leidensgeschichte mit wechselnden Täter- und Opferrollen und schwierigen Sprechketten gewann durch die expressive, aber nie exaltierte Spielweise von Ebru Durmaz und Louisa Schwarze an Eindringlichkeit. Die eine rührt zu Tränen, die andere schockt durch eine Art Urschrei. Der Wahnsinn bricht sich Bahn, über derart „verlorene Unschuld“ wird hier hoffentlich niemand mehr Witze machen. Yvonne Schneider schließlich meisterte die schwierige Aufgabe, acht Jahre nach den Ereignissen ab und zu etwas Abklärung in die Erzählung zu bringen, doch immer wieder mitten in den Wirrnissen zu stecken wie die anderen und ihren Part zu spielen in Seilers verwegenen Choreografien im Kinderspielkreis.

Marvin Kastner und Kilian Hartmann sorgten als Techniker dafür, dass die Schatten der allesamt schwarz gewandeten Schauspieler im grellen Scheinwerferlicht manchmal wie ein hintergründiges Spiel auf Obernkirchener Sandstein wirkten. In bläulichen Nebelschwaden ging es auf den Friedhof, um einen Kindersarg auszubuddeln. Später steht das abgebrannte Refugium wie ein Fanal aus der Zeit der Hexenverbrennung im Feuerrot der Scheinwerfer. Vom Botschafter der Bedeutungslosigkeit ist wenig mehr als die Asche übrig, moderne Requiem-Klänge grundieren die erschütternde Handlung.

Kleine Spitzen gegen Medien und Kulturfunktionäre, die alles zum Event machen und Wert mit Preis und Gewinn verwechseln wie Banker und andere Spekulanten, zeigen, dass es in der am Ende zu Recht mit lange anhaltendem Applaus bedachten, gut besuchten Premiere um mehr als nur eine „Kindertragödie“ in der Tradition von Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ geht. Alles steht auf dem Spiel, wenn „Nichts“ auf dem Programm steht – das hat JUST mit schonungsloser Deutlichkeit gezeigt, ohne je leichtfertig zu werden.

Verbrechen in vermeintlich bester Absicht – nach „Hamlet“ und „Faust“, den „Nibelungen“ und der „Odyssee“ nun von JUST einmal ein Stück brisantes Gegenwartstheater als wagemutige Gratwanderung am Abgrund von gefährlichen Seelenlandschaften und fatalen Kampfzonen. Das war eine gute Entscheidung und bietet reichlich Diskussionsstoff für die vielen Schüler aus dem 10. Jahrgang des Gymnasiums über die Frage, „was wirklich wichtig ist im Leben“, was gut gemachtes Theater bei der Suche nach Sinn selbst vermag und wo zu rufen wäre – gerade angesichts virtueller Welten: „Das ist kein Spiel!“

 

VHS – 12. April 2016 Landeszeitung